Sie sind hier
E-Book

Sind wir nun glücklich?

China auf der Suche nach sich selbst

AutorBai Yansong
VerlagRiemann
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783641073787
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Wachsen mit dem Wirtschaftsaufschwung auch Zufriedenheit und Glück? China zwischen Optimismus und Ernüchterung
China hat innerhalb weniger Jahre einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt. Seine zielgerichtete, auf niedrige Produktionskosten fokussierte Politik hat es zum stärksten Rivalen der Usa werden lassen. In materieller Hinsicht eine fantastische Erfolgsstory. Aber wie empfinden das die Menschen?

Bai Yansong, Jahrgang 1968, ist Jounalist und Moderator am staatlichen chinesischen Fernsehsender CCTV (China Central Television). Durch seine journalistische Tätigkeit ist er sowohl mit den chinesischen Verhältnissen als auch mit dem westlichen Ausland bestens vertraut. In China ist er zu einer der wichtigsten Figuren der Medienlandschaft aufgestiegen.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Vorwort – Was ist Glück?

Wenn ich unter Menschen bin, schaue ich ihnen gewöhnlich aufs Handgelenk, als verberge sich dort das innerste Geheimnis des modernen China, etwas, worüber zwar nicht offiziell gesprochen wird, was sich aber zunehmend weiter verbreitet: Immer mehr Menschen, Frauen wie Männer, tragen ein Talisman-Armband, einige davon wohl einfach nur zur Zierde, die Mehrzahl allerdings trägt es als Glücksbringer oder zur eigenen Beruhigung. Dieses Armband, irgendetwas zwischen Glaubensbekenntnis und Schmuckstück, ist meist weder das eine noch das andere.

Was bedeutet solch ein Amulett, worin genau besteht seine Funktion für den Träger oder die Trägerin? Oder, anders gefragt, für welche inneren Ängste und Unsicherheiten steht es bei den Einzelnen?

Trägt so ein Armband zu unserer Beruhigung bei? Was sagt dieses scheinbar rein dekorative Objekt über unsere Psyche aus? Und warum macht sich eigentlich niemand über dieses merkwürdige Phänomen Gedanken?

Vielleicht schweigt man sich darüber aus, weil man ratlos ist. Handelt es sich dabei um ein »Zurück zur Tradition« oder um einen Neuanfang? Ob es auf religiöse Rituale zurückgeht, die wir unbewusst verinnerlicht haben, oder einfach ein aus Verunsicherung geborener Hilferuf ist?

Am letzten Tag des Jahres 2006 besuchte ich Ji Xianlin im städtischen Krankenhaus Nummer 301. Ich kam dort vormittags an und fand den alten Herrn Ji, der für gewöhnlich sehr früh aufsteht, längst am Tisch vor. Der Linguist und Historiker war in seine Arbeit vertieft. Er saß an den Korrekturen seines bereits vor einer ganzen Weile veröffentlichten Werks Fünfzehn Abhandlungen zum Buddhismus. Er sagte: »Ich glaube, das sind Fragen, mit denen ich mich ganz gut auskenne.«

Und damit hatten wir unser Gesprächsthema. Das hatte ich nicht erwartet, und es ist auch kein Thema, das man mit einem Satz abhandelt, es zog sich durch unsere gesamte Konversation.

»Sind Sie Buddhist?«, fragte ich.

»Wenn ich ja sage, trifft es das vielleicht nicht ganz; aber ich muss gestehen, dass ich ein sehr enges Verhältnis zum Buddhismus habe. Das geht wahrscheinlich vielen von uns Chinesen so«, antwortete mir der alte Ji.

Ich wurde neugierig und fragte weiter: »Wo finden die Chinesen Trost für ihre Seelen inmitten dieses rapiden ökonomischen Wachstums, heute und in Zukunft?«

Herr Ji ging etwas mehr ins Detail und gab mir ein Beispiel. Einmal habe er Besuch von einem hohen Kader bekommen, und auch dabei war es um Bewusstseinsfragen gegangen. Der Besucher fragte ihn: »Was wird unter den Menschen zuerst aussterben, die Doktrinen oder die Religionen?«

Ji antwortete dem hohen Kader, ohne zu zögern: Einmal angenommen, dass die Leute es nicht schaffen werden, die Angst vor dem Tod zu überwinden, dann werden es wohl zuerst die Doktrinen sein, die noch einen Tag vor der Religion verschwinden.

Ich war beeindruckt von der Weisheit, dem Mut und dem Glauben, die aus dieser scheinbar prosaischen Antwort sprachen. Natürlich ließ die Aussage »einen Tag vorher« viel Spielraum für Interpretationen.

Es ist nun schon eine Weile her, dass ich Ji im Gespräch gegenübersaß. Es waren nur ein paar Stunden. Das Licht der Wintersonne auf dem Gesicht des alten Mannes erfüllte mich und alle anderen Personen im Raum mit seiner Wärme. Fröhlich und friedlich wirkte Ji an jenem Tag. Ich und die Leute ringsum waren es ebenfalls.

Neulich blätterte ich durch ein Buch über den Philosophen Liang Shuming mit dem Titel Wie kann diese Welt eine bessere werden?. Als ich auf das Nachwort stieß, einen Auszug aus den Schriften von Liang Shuming selbst, klopfte mir bei der Lektüre unwillkürlich das Herz schneller.

Der weise Liang war der Meinung, die Menschheit stehe drei großen Fragestellungen gegenüber, und zwar genau in dieser Reihenfolge: Zuerst gelte es, die Probleme zwischen den Menschen und den Dingen zu lösen, dann die Probleme der Menschen untereinander und schließlich die Probleme zwischen dem Menschen und seinem inneren Selbst.

Genau so ist es. Machen wir denn von den frühesten Studien der Kindheit an bis zum hohen Alter etwas anderes, als die Probleme zwischen uns Menschen, die wir unseren Platz in der Gesellschaft gefunden haben, und den Dingen ringsum zu lösen? Ohne Stundenpläne, Wissen, Arbeit, Geld, Häuser, Autos und dergleichen mehr, wie könnte man sich da einen erwachsenen Menschen nennen? Und wer wird sich nicht ernsthaft und mit aller Sorgfalt mit seiner Rolle als Vater, als Mutter, als Sohn oder Tochter, als Ehemann oder Ehefrau, als Vorgesetzter oder Untergebener, als Freund oder Feind, mit all diesen zwischenmenschlichen Fragen auseinandersetzen?

Aber wenn man dann auf dem Pfad des Lebens voranschreitet, immer weiter und weiter, kann man den roten Faden, den letzten Sinn des Lebens, nur vage erkennen, alles ist veränderlich, aber dass das Leben nun einmal wesenstypisch eine Einbahnstraße ist, daran lässt sich nichts machen. Daher stellen sich dann nach und nach Unsicherheit, Furcht, Zweifel und Pessimismus ein. Es bleibt bei den alten Fragen des menschlichen Bewusstseins: Woher komme ich und warum gehe ich immer weiter? Und wohin?

In unseren komplexen und komplizierten Zeiten ist es noch viel schwieriger geworden, sich als umtriebiger Mensch mit Fragen nach dem inneren Selbst und Ähnlichem auseinanderzusetzen. Trotzdem sind sie umso dringlicher. Wir alle brauchen eine Antwort darauf.

Je gründlicher wir darüber nachdenken, umso wichtiger erscheint es zu klären, worin die Herausforderung dieser drei Fragen an unser Leben besteht.

In den ersten zwanzig Jahren der vor mittlerweile über dreißig Jahren angestoßenen chinesischen Reformpolitik lagen unsere persönlichen Ziele im rein Materiellen, in der Sicherung eines gewissen Lebensstandards, gutem Essen und warmer Kleidung, darin, das Einkommen zu verdoppeln und zu vervierfachen. Die Lösung der Probleme zwischen dem Menschen und den Dingen war eine Frage des Überlebens. Und jeder Einzelne vertraute sein persönliches Glück den materiellen Gegenständen an, die in der nahen Zukunft auf ihn warteten.

Diese materialistischen Ziele haben sich für die meisten mit der Zeit erfüllt, aber die Chinesen stellen allmählich fest, dass das Glück sich nicht automatisch mit materiellem Wohlstand einstellt. Überall hört man Klagen, die hochrangigen Beamten beschweren sich genauso wie die kleinen Angestellten, die Armen beschweren sich und die Reichen nicht weniger. Es sieht aus, als ob alle zunehmend beunruhigt sind, aber nicht sagen können, woher dieses Gefühl der existenziellen Unsicherheit kommt. Es breitet sich aus wie eine Epidemie, bei der einer vom anderen angesteckt wird. Die Oberen bangen um die Sicherheit, weil sie Ärger aus dem Volk fürchten, während das Volk darum bangt, was die Oberen aushecken, ohne sich um das Wohl der kleinen Leute zu scheren. Die Reichen sind verunsichert und fragen sich, ob ihr Reichtum eines Tages nichts mehr wert sein wird. Und die Armen sorgen sich darum, ob sich die Situation für sie und ihre Kinder bessern wird. Und aus dieser grassierenden Angst und Unsicherheit heraus nimmt die Gewalt unter den Menschen rapide zu – was sie wiederum noch mehr verunsichert. Das Glück ist letzten Endes zu einem großen Problem geworden.

Und in diesem Moment kommt das Verlangen nach einer harmonischen Gesellschaft ins Spiel, das nichts anderes ist als die Suche nach einer Antwort, wie wir zwischenmenschliche Probleme lösen und uns bemühen können, dem Glück ein Stück näher zu kommen. Allerdings entstehen im Zuge dieser Bemühungen immer größere Herausforderungen.

Auf welche Weise sollen wir für ein Volk von 1,3 Milliarden Menschen die Frage nach unserem inneren Selbst beantworten? Gibt es einen gemeinsamen Nenner, grundlegende Wertvorstellungen, die im Kern dieser Masse von Menschen stecken? Wo liegt unsere geistige Heimat? Woran glauben wir? Glauben wir alle an den Renminbi?

Haben unsere Sorgen und Nöte, das Chaos und die Profitgier in unserer Gesellschaft nicht alle mit dieser Frage zu tun? Und hat nicht auch die Tatsache damit zu tun, dass wir offenbar alles haben – außer Glück?

Das Glück, das gegenwärtig zu unserem größten Problem geworden ist, ist gleichzeitig zur größten Herausforderung für unsere Zukunft geworden. Aber wo liegt das Glück? Diese Frage lässt sich momentan nicht beantworten. Sicher ist nur, dass wir uns ständig unglücklich fühlen.

Immer wieder sehen wir die Grundfesten dieser Gesellschaft erschüttert. Mal finden sich Melamine im Milchpulver, mal gesundheitsbedrohliche Pestizide im Gemüse. Nur weil es dem einen in den Kram passt, nimmt er anderen, mit denen er nichts zu tun hat, die Lebensgrundlage. Um Geld zu machen, wird in einem fort betrogen, es geht allein um den persönlichen Profit. Andere dienen bestenfalls als die Sprossen der Leiter, über die man auf dem Weg zum Erfolg steigen muss. Wer von Idealen redet, macht sich lächerlich. Und dabei handelt es sich nicht um Ausnahmefälle, sondern um etwas ganz Alltägliches.

Da ist nichts zu machen. Menschen ohne Glauben in einer Gesellschaft ohne Glauben schlagen in ihrer Unerschrockenheit und Zügellosigkeit sämtliche von ihren Vorfahren überlieferten Maximen in den Wind und machen in ihrem eigennützigen Profitinteresse anderen das Leben zur Hölle.

Manch einer sagt, wir müssten darauf achten, unsere Grundsätze zu wahren. Doch schon bald gibt es keine Grundsätze mehr, oder – besser gesagt – die Grundsätze werden immer wieder nach Lust und Laune aufgegeben, warum also noch von Grundsätzen sprechen? Wo sind die Leitprinzipien, die sich bewahren lassen?

Eines Nachmittags fuhr ich, hinter mir ein...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Gesellschaft - Männer - Frauen - Adoleszenz

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Weitere Zeitschriften

FESTIVAL Christmas

FESTIVAL Christmas

Fachzeitschriften für Weihnachtsartikel, Geschenke, Floristik, Papeterie und vieles mehr! FESTIVAL Christmas: Die erste und einzige internationale Weihnachts-Fachzeitschrift seit 1994 auf dem ...

ARCH+.

ARCH+.

ARCH+ ist eine unabhängige, konzeptuelle Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Der Name ist zugleich Programm: mehr als Architektur. Jedes vierteljährlich erscheinende Heft beleuchtet ...

AUTOCAD & Inventor Magazin

AUTOCAD & Inventor Magazin

FÜHREND - Das AUTOCAD & Inventor Magazin berichtet seinen Lesern seit 30 Jahren ausführlich über die Lösungsvielfalt der SoftwareLösungen des Herstellers Autodesk. Die Produkte gehören zu ...

care konkret

care konkret

care konkret ist die Wochenzeitung für Entscheider in der Pflege. Ambulant wie stationär. Sie fasst topaktuelle Informationen und Hintergründe aus der Pflegebranche kompakt und kompetent für Sie ...

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum - Zeitschrift für die gesamte Grundstücks-, Haus- und Wohnungswirtschaft. Für jeden, der sich gründlich und aktuell informieren will. Zu allen Fragen rund um die Immobilie. Mit ...

Der Steuerzahler

Der Steuerzahler

Der Steuerzahler ist das monatliche Wirtschafts- und Mitgliedermagazin des Bundes der Steuerzahler und erreicht mit fast 230.000 Abonnenten einen weitesten Leserkreis von 1 ...

EineWelt

EineWelt

Lebendige Reportagen, spannende Interviews, interessante Meldungen, informative Hintergrundberichte. Lesen Sie in der Zeitschrift „EineWelt“, was Menschen in Mission und Kirche bewegt Man kann ...