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E-Book

Solange du deine Füße...

Was Erziehungsfloskeln über uns verraten

AutorWalter Schmidt
VerlagEichborn AG
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl286 Seiten
ISBN9783838752976
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR

Kinder können einen wahnsinnig machen. Und plötzlich ertappt man sich bei einem Spruch, den man selbst schon als Kind gehört - und vor allem gehasst hat. Was steckt hinter unseren Erziehungsfloskeln? Wenn sie wenigstens nützen würden ... Oder schaden und verletzen manche nur? Welche Werte geben wir damit tatsächlich weiter? Und welche Erkenntnis über mich als Erzieher kann ich daraus gewinnen?

Walter Schmidt diskutiert mit Experten 60 typische Elternsprüche und zeigt die verschiedenen Möglichkeiten, eingefahrene Verhaltensweisen zu ändern. Ein Buch, das auf unterhaltsame Weise Eltern dazu einlädt, über sich und die großen und kleinen Fragen des Lebens nachzudenken. Und so manche Floskel dann doch endlich auf die Müllhalde zu werfen.

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Leseprobe

WARUM WIR DIE EIGENEN ELTERN NACHBETEN


Gute Eltern und erfolgreiche Erzieher brauchen weniger pädagogisches Wissen als Selbsterkenntnis und ein damit übereinstimmendes Handeln.

Hans-Joachim Maaz, Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm1

Arbeit habe »noch niemandem geschadet«. Das ist einer der Sprüche, deren Bärte ungefähr so lang sind wie die Liste von Argumenten, die man gegen sie vorbringen könnte. Man denke hier nur an die Folgen von Zwangsarbeit oder die Herzinfarkte übermäßig leistungsorientierter Väter, die Kinder zu Halbwaisen gemacht haben. Und dennoch rutscht einem die Floskel schon mal selbst heraus, wenn man die Faulheitsattacken seiner Kinder rasch parieren möchte und keine eigenen Worte findet. Sogleich erinnert man sich dann daran, den Spruch mehr als einmal gehört zu haben: aus Mutters oder Vaters Mund oder auch vom alten Nachbarn, der ein strenger Schulmeister gewesen war. Nicht nur ewige Wahrheiten, falls es sie denn gibt, sondern auch Fragwürdiges und Schiefes haben halt irgendwo ihre Wurzeln.

Doch welcher Teufel reitet einen da eigentlich, wenn man auf altbackene Sprüche zurückgreift? Zunächst einmal ist es bequem, sich auf das zu stützen, was man eh schon weiß und glaubt verstanden zu haben. Unser Hirn spart gerne Energie, wo es doch so viel davon verbraucht bei seiner Arbeit Tag für Tag. Oft wiederholte Wendungen haben sich mit der Zeit ins Gehirn gefräst, sind eingängig geworden wie Hohlwege, auf denen Fuhrwerke jahrhundertelang durch die Landschaft rumpelten und dabei immer tiefere Rillen im Boden hinterließen. Freilich darf man sich einen verinnerlichten Elternspruch nicht als Furche in unserem Denkorgan vorstellen, sondern eher als Netz von Nervenzellen, die durch häufigen Gebrauch innig miteinander verschaltet sind und immer dann gemeinsam aktiv werden, wenn wir nach einem guten Argument suchen. Sehr treffend nennt der Sprichwort-Forscher Wolfgang Mieder die fix und fertig abgespeicherten Sprüche oder Redensarten »strategisch eingesetztes, vorformuliertes Weisheitsgut«, auf das wir bei passender Gelegenheit oder mangels besserer Einfälle sehr gerne zurückgreifen.2

Dieser Rückgriff läuft umso eher automatisch ab, je erregter wir sind. Denn unter Stress fällt es unserem Gehirn sehr schwer, Probleme kreativ zu lösen; es behilft sich stattdessen mit bewährten Strategien wie Flucht oder Kampf, wobei stammesgeschichtlich ältere Hirnteile besonders aktiv sind. Wenn unser Sohnemann uns also gehörig auf die Palme bringt mit einer patzigen Antwort, schwillt uns nicht nur leicht die Zornesader, sondern wir geben Sprüche zum Besten, die uns selbst schon bald darauf ziemlich abgedroschen vorkommen. Dasselbe passiert aus Angst, wenn unser Töchterchen auf dem Gehweg oder im Stadtpark plötzlich losspurtet, weil es auf der dicht befahrenen Straße oder am Wegesrand unglaublich Interessantes entdeckt hat. Dann rutscht uns eben ein schrilles »Bleib schön stehen!«, ein hingezischtes »Lass das liegen!« oder ein überängstliches »Fass die tote Maus nicht an!« heraus. Solange wir unsere Kinder lieben und sie das spüren, ist das auch nicht tragisch. »Solche Sprüche sind von den Eltern erst einmal gut gemeint, denn sie wollen ihre Kinder ja schützen«, sagt die Psychologin Elfriede Billmann-Mahecha von der Universität Hannover. »Außerdem ist es gut für Kinder, wenn sie klare Ansagen bekommen, nur muss man ihnen diese auch immer gut begründen.« Später und vor allem in der Pubertät überprüfen Kinder die von den Eltern übernommenen Haltungen ohnehin, legen manche davon ab und ersetzen sie durch andere.

Für Pubertierende gehört es selbstverständlich zum guten Ton, sich möglichst vielem zu widersetzen, was ihre Eltern daherbeten. Man darf das getrost gelassen sehen, denn wie man von sich selber weiß, wirkt das Vorbild der Eltern immer nach, auch wenn einzelne ihrer Weisheiten abgelehnt werden. Nicht selten brechen sich später ausgerechnet solche Sprüche wieder Bahn, die lange belächelt und mit Macht verdrängt worden sind. Gerade das, wogegen man sich ständig wehrt, bleibt wirksam und liegt griffbereit zur Hand, wenn man die eigenen oder gelegentlich auch fremde Kinder maßregeln möchte. Doch dieses für Söhne und Töchter so nervige Nachbeten abgedroschener Floskeln kann ja auch gute Seiten haben – dann nämlich, wenn die betreffenden Sprüche sinnvoll sind und junge Menschen unterm Strich ganz ordentlich auf das Leben vorbereiten. Dass zum Beispiel »noch kein Meister vom Himmel gefallen« sei, ist als Maxime nicht die schlechteste.

Dennoch schadet es nicht, sich klar darüber zu werden, was wir, im Guten wie im Schlechten, anrichten können mit unseren Sprüchen, genauer: mit der Haltung hinter ihnen, ganz gleich, ob wir unsere Tochter vor den Gefahren beim Erklimmen hoher Mauern warnen wollen oder unserem fünfjährigen Sohn vorhalten, für dieses oder jenes sei er »einfach noch zu klein« – denn vielleicht nimmt er sich unseren Kommentar so sehr zu Herzen, dass ihm für manche Herausforderungen des Lebens immer der Mut fehlen wird. Und vor allem sollte uns das Ziel vor Augen stehen, unseren Kindern zu zeigen, wie sie zu eigenen Werturteilen gelangen können. Denn es geht am Ende eben nicht darum, unsere Überzeugungen weiterzugeben, sondern unseren Sprösslingen zu ihren eigenen zu verhelfen. Hilfreich sei deshalb, in der Schule wie im Elternhaus, eine »Erziehung zum Werten«, meint der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin. Was sollen unsere Kinder auch anfangen mit Werten und sogenannten Weisheiten, die sie selbst nicht teilen? Und die ihnen dann nicht helfen, wenn sie vor unbekannten Aufgaben stehen? Moderne Pädagogen täten also gut daran, Kinder nicht mit regelhaften Sprüchen für letztlich unvorhersehbare Situationen auszustatten. Vielmehr gelte es, junge Menschen zu befähigen, sich als selbstständig denkende Individuen in unvertrauten Situationen zu bewähren. »Dazu benötigt man keine Sprichwörter, also kein Regelwissen, sondern Urteilskraft«, findet Ladenthin.

Der Freiraum, nervige Vorgaben der Eltern offen hinterfragen zu dürfen, ist für ältere Kinder unverzichtbar, um zu wirklich mündigen Erwachsenen heranzureifen. Nur so können sie eine persönliche, zu ihnen passende Moralität entwickeln. Wer hingegen Merksätze der Eltern wie »Ehrlich währt am längsten« oder »Brave Kinder tun das nicht« zeitlebens artig befolgt, sei »auf der Skala moralischer Urteilsfähigkeit eher niedrig einzustufen«, meint auch der Psychologe Georg Lind von der Universität Konstanz. Solche geistig eher starren, zumindest aber bequemen Menschen gerieten zudem immer wieder in Konflikt mit anderen moralischen Anforderungen, die »kaum vernünftig lösbar sind«. Denn aus ihrer Sicht sollen die übernommenen Gebote der Eltern ja »unbedingt gültig« sein und »keinerlei Ausnahmen erlauben« – nicht gerade ein günstiges Klima für echte Weisheit. Sie zu entwickeln gelingt viel eher Menschen, die sich an den Elternsprüchen zwar orientieren, doch »im Konfliktfall wichtigeren Prinzipien aus guten Gründen den Vorzug geben«, wie Lind es ausdrückt. Solche Zeitgenossen besitzen den Mut und die Urteilskraft, eigene Wertmaßstäbe zu entwickeln«. Die ethisch Souveränen haben ihre Eltern nämlich dort überwunden, wo deren Werte einfach nicht zu ihnen passen.

Das schmeckt manchen Müttern und Vätern natürlich ganz und gar nicht. Gekränkt greifen sie dann zu dem beleidigten Spruch »Aber wir wollen doch nur dein Bestes!«, als ob sie wüssten, was das sein könnte. »Wir meinen viel zu oft, Gutes zu tun, wenn wir ein Gegenüber mit Werturteilen verproviantieren«, findet der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer.3 Dennoch bleibt es schwer auszuhalten, dass unser Nachwuchs unsere Werte nicht einfach dankbar übernimmt. Kinder seien eben »selten so, wie ihre Eltern sie sich gewünscht haben«, was übrigens auch umgekehrt gilt. Dem dürften die meisten Eltern zähneknirschend zustimmen, und dennoch finden viele von ihnen es »schrecklich, die Illusion vollständig aufzugeben, dass etwas von dem, was uns kostbar ist, in unseren Kindern weiterlebt«. Das klingt sehr pessimistisch.

In Wahrheit übernehmen Kinder eine ganze Menge von ihren Erzeugern, auch an Haltungen und Ansichten. Die Saat geht bloß erst später auf – leider auch im Schlechten, indem die Kinder zum Zerrbild ihrer Eltern werden: Dann verjubelt der Sohn des ehrbaren Bankiers all sein Geld, und der Vater, der seinem Jungen seit jeher Sparsamkeit vorgelebt hat, ist dem Verzweifeln nahe. Schmidbauer rät in solchen Fällen davon ab, unserem Sohnemann Lektionen über sinnvolle Notgroschen oder den unterschätzten Zinseszins-Effekt von Spareinlagen zu erteilen. Lieber sollten wir unseren Kindern Geschichten erzählen; darüber nämlich, wie wir selber so sparsam geworden sind, welche Lehren die eigenen Eltern uns erteilt haben und wie das Leben uns dann weiter mitgespielt und dadurch geprägt hat. Auch der entsetzte Bankier sollte bereit zum Zuhören sein; vielleicht würde er so ja erfahren, wie viel Lust es bereiten kann, Geld eben nicht zu horten, sondern sich ab und an etwas spontan zu gönnen – eine schöne Lust, die ein zwanghaft sparsamer Mensch sich zeitlebens mühsam versagt und die er deshalb in seinem Jungen bekämpfen muss: als dunklen »Schatten« der eigenen Seele. So bezeichnete der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961) jene Anteile der eigenen Psyche, die man fürchtet und deshalb verdrängt und regelmäßig in anderen Menschen bekämpft.

Beim Zuhören könnten beide Männer, der junge und der ältere, einander wirklich begegnen, womöglich ja erstmals. Und wer weiß: Am Ende wären beider Blickwinkel geweitet. »Einen Punk im...

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