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Solferino

Kleine Geschichte eines großen Schauplatzes

AutorUlrich Ladurner
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783701742448
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die Geburtsstunde des Roten Kreuzes, der Beginn vom Niedergang der Habsburger, eindringlich und spannend erzählt. Unterwegs an historischem Schauplatz: Die Schlacht von Solferino am 24. Juni 1859 endete mit einer Niederlage der Österreicher unter Kaiser Franz Joseph. Die französischen Truppen Napoleons III., Verbündeter des Königreiches Piemont-Sardinien, machten den Weg frei für die nationale Einigung Italiens. Joseph Roth setzte im 'Radetzkymarsch' Solferino ein literarisches Denkmal und Henry Dunants Augenzeugenbericht von der grausamen Schlacht und dem Elend der Verwundeten führte zur Gründung des Internationalen Roten Kreuzes und zur Genfer Konvention. Als er die Tagebuchaufzeichnungen seines Urgroßvaters findet, eines Südtirolers, den das Los in die Schlacht schickte, macht sich Ulrich Ladurner auf den Weg in eine unbekannte Vergangenheit. In seiner politisch-historischen Reisereportage, die zu einer persönlichen Spurensuche wird, führt er uns an den Schauplatz in der Lombardei, südlich des Gardasees. Aus seinen Beobachtungen vor Ort, aus Gesprächen und Recherchen rekonstruiert er die Geschichte, wie sie gewesen sein könnte. 'Der Sprache, die er dafür gefunden hat, wohnt eine bestechende Schönheit inne', schrieb die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG. 'Dem schmalen Buch, glänzend geschrieben und spannend zu lesen, möchte man ebenso viele Leser wünschen wie den Aufzeichnungen des Bürgers Dunant.'

Ulrich Ladurner Ulrich Ladurner, geboren 1962 in Meran/Südtirol, studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Innsbruck. Seit 1999 berichtet er als Auslandsredakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT aus Irak und Iran, Afghanistan und Pakistan. Er lebt in Hamburg.

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Leseprobe

Das Fenster


Es ist ein heißer Junitag, mittags. Die Bewohner Solferinos haben sich vor der Glut der Sonne in ihre Häuser geflüchtet. Die Straßen sind leer gefegt. Es ist still. Nur ab und an ist der Lärm eines Autos zu hören, das auf der Hauptstraße nach Castiglione delle Stiviere fährt. Ich gehe die Gasse zum Schloss empor, vorbei an den stummen Fassaden des Dorfes. Mein Hemd ist nass vom Schweiß. Obwohl ich einen Hut trage, dröhnt mein Kopf. Mein Atem geht schwer. Ich möchte gerne stehen bleiben, um mich auszuruhen, aber die Gasse ist heiß wie eine Backröhre. Nur so schnell wie möglich durch sie hindurch, hinauf auf den Schlossplatz, wo mich hoffentlich eine frische Brise erwartet, die vom Gardasee her über den Hügel von Solferino streicht. Dort werde ich meine Arme ausstrecken, mein Hemd wie ein Segel aufspannen und mich abkühlen lassen. Ich werde den Blick auf den blinkenden See, auf die mächtigen Berggipfel und die Hügel, die wellenartig Richtung Osten verlaufen, richten. Doch bis dahin sind es noch ein paar Hundert Meter. Um mich abzulenken, lausche ich auf Geräusche, auf Stimmen hinter den verschlossenen Türen und Fenstern. Doch höre ich nichts außer meinen Atem. Es muss an den dicken, uralten Mauern der Häuser liegen, die alles verschlucken. Denn bestimmt sitzen die Menschen an den Küchentischen, essen und schwatzen, oder sie schauen die Nachrichten an, die um diese Zeit im Fernsehen laufen, vielleicht hält auch jemand seinen Mittagschlaf und schnarcht. Wenn ich an einem angelehnten Fensterladen vorbeikomme, spähe ich hinein, doch ist nichts zu erkennen, nicht einmal Schatten sind zu sehen. Nur Hitze. Nur Stille.

Nach ungefähr einem Drittel des Weges sehe ich auf einer Hauswand, auf der Höhe des zweiten Stockes, eine seltsame Malerei. Sie zeigt, wie eine Frau einen Fensterladen öffnet. Die Proportionen des Bildes verraten, dass der Maler nicht zu den Erfahrenen seines Faches gehört, wahrscheinlich hat er sein Geld als Schildermaler verdient und sich nur ab und an der figürlichen Darstellung gewidmet. Doch liegt etwas Feierliches in der Art, wie die Frau aus dem Fenster schaut. Sie trägt ein rotes Kleid und ein sorgfältig gebundenes weißes Halstuch. Ihr Haar ist schwarz. Sie wirkt, als wollte sie die Passanten einladen, um sie im Haus zu bewirten und die Geschichte zu erzählen, die ihr widerfahren ist. Eine Figur aus einem Märchen, an eine graue, unverputzte Wand gebannt. Kommt näher! Kommt näher!, sagt sie, und ich gehe bis an die Hauswand, lege meinen Kopf in den Nacken. Unter dem Bild ist in ungelenker Schrift gepinselt: »Am 24. Juni 1859 tötete hier eine verirrte Kugel Antonia Savio Cerini.«

Die Ursachen für den Tod dieser Frau sind zu einem Knäuel verworren. Wenn man eine isolieren müsste, dann wäre es die geographische Lage Solferinos. Das Dorf schmiegt sich an mehrere Hügel. An der Spitze der höchsten Erhebung steht ein Turm, ein letztes Überbleibsel einer Festung der Familie Gonzaga, der ehemaligen Herrscher über Mantua. Die Festung ist der Überlieferung nach 1016 gebaut worden, ihre Mauern sind bis auf einen kleinen Rest vollständig verschwunden. Im Volksmund heißt der Turm: Spia d’Italia. Der Name hat seinen Ursprung im neunzehnten Jahrhundert. Die Spia ermöglicht einen Blick tief hinein nach Venetien und die Lombardei, die damals von den Habsburgern dominiert wurden – in den Augen italienischer Patrioten unerlöste Erde. Die Anhöhe von Solferino bot einen Schlüssel für die Befreiung dieses Landes, oder seine Unterwerfung, je nachdem. Im Umkreis von weniger als sechzig Kilometern hatten die Österreicher vier Festungen angelegt, in Peschiera, Verona, Mantua und Legnago. Dieses sogenannte Quadrilatero bildete die militärische Grundlage zur Beherrschung Lombardo-Venetiens. Das Quadrilatero war für die Italiener Symbol ihrer Unterdrückung.

Antonia Savio Cerini hat am falschen Tag, zur falschen Stunde aus dem Fenster geblickt. Es waren gerade schwere Kämpfe im Gange, als sie die Fensterläden öffnete. Auf den Anhöhen von Solferino hatten sich die österreichischen Soldaten verschanzt. Die französische Armee rückte aus Richtung Castiglione delle Stiviere vor, aus der Ebene, die für die Österreicher leicht einsehbar war. Den Franzosen gelang es unter hohen Verlusten voranzukommen. Sie waren zwar wegen des Geländes im Nachteil, doch je näher sie kamen, desto mehr Gräben, Bachläufe, Hecken, Weinreben, Bäume, Felsen fanden sie vor. Sie dienten den Soldaten als Schutzschild, hinter dem sie sich verbargen, ihre Gewehre nachluden, das Bajonett aufpflanzten und dann weiterstürmten, den alles beherrschenden Turm, dessen Eroberung den Sieg in der Schlacht bringen würde, fest im Blick. Die Franzosen mussten durch das sogenannte Valletta hindurch, ein kleines Tal zwischen den Anhöhen. Sie hatten keine andere Wahl. Die Österreicher konnten sie so in tödliches Kreuzfeuer nehmen.

Dieses Valletta ist nichts anderes als die alte Hauptstraße Solferinos, auf der ich nun schweißgebadet stehe und das Bild Antonia Savio Cerinis betrachte. An der Stirnseite liegt der Turm, zur rechten Seite der sogenannte Zypressenhügel und zur Linken, ebenfalls auf einer Anhöhe, der mit hohen Mauern umgebene Friedhof. Die Franzosen wurden von allen drei Seiten beschossen. Auf späteren Darstellungen sieht man eine Masse von Soldaten, die dicht gedrängt mit aufgepflanzten Bajonetten nach vorne rückt, wie ein vielköpfiges, stachelbewehrtes Tier wälzt sie sich durch die Ruinen Solferinos. Die Kämpfe waren im Morgengrauen ausgebrochen, es war ein glühend heißer Tag eines ungewöhnlich heißen Sommers. Die Soldaten beider Armeen waren in den vergangenen Wochen viele Kilometer marschiert. Sie waren erschöpft. Die Österreicher hatten noch nicht einmal gefrühstückt, als sie sich schon dem Feind gegenübersahen. Viele starben im Laufe des Tages an Entkräftung. In den verschlossenen Häusern staute sich die Hitze, und niemand wagte, ein Fenster zu öffnen. 1959 gab ein Mann aus Solferino folgenden Bericht zu Protokoll, den er von seinem Vater, der die Schlacht als Augenzeuge erlebte, immer wieder gehört hatte: »Als Kugeln und Bomben das Dorf trafen, verschlossen wir alle, ohne Ausnahme, Türen und Fenster. Wir sperrten Werkstätten und Ställe zu. Dann versteckten wir das wenige, das wir besaßen, und verbarrikadierten uns in Kellern, in Verschlägen und unter Treppen. Dort kauerten wir, den Atem aus Angst, entdeckt zu werden, anhaltend, viele Stunden lang, so lange, bis die Schlacht zu Ende war, zu Tode erschreckt von den Schüssen und Schreien, welche Straßen und Plätze erfüllten.

Manchmal hörten wir draußen ganz deutlich die Stimmen von Soldaten, die sich etwas zuriefen oder vor Schmerz aufschrieen. Wir hörten das Getrappel der Soldatenstiefel. Es war so, als würde sich die Schlacht dort abspielen, wenige Meter entfernt, nur ein paar Schritte weg, als würde der letzte Ansturm vor unserer Haustür stattfinden; wir warteten mit Schrecken darauf, dass jeden Moment eine Gruppe bewaffneter Soldaten in unsere Zimmer stürzte. Keiner traute sich nach draußen.«1

Warum Antonia Savio Cerini aus dem Fenster schaute, darüber gibt es zwei unterschiedliche Versionen. Angeblich tat sie es, weil österreichische Soldaten Kühe aus dem Stall der Familie stehlen wollten. Das Brüllen der Tiere hatte sie alle Vorsicht vergessen lassen. Als sie die Soldaten schreiend verscheuchen wollte, zielte einer von ihnen auf sie. Die Kugel traf sie mitten in die Stirn. Diese Version allerdings widerspricht dem Satz, der unter ihrem Bild steht: »Casualmente colpita«, steht da: getroffen von einer verirrten Kugel.

Es kann durchaus sein, dass Antonia Savio Cerini aus reiner Neugier die Fensterläden öffnete. Wer wollte nicht wissen, was da draußen vor sich ging? Wer hätte nicht erfahren wollen, ob die Österreicher oder die Franzosen den Sieg davontrugen? Bestimmt kauerte die ganze Familie Savio Cerini in einem der Straße abgewandten Zimmer und stellte sich ängstlich flüsternd Fragen. Da hat es Antonia nicht mehr ausgehalten, sprang auf, lief zum Fenster, öffnete die Läden, ein Schuss knallte und sie sackte nach hinten.

Die Geschichte mit dem gezielten Schuss aus einer österreichischen Waffe wurde mit Sicherheit unmittelbar nach der Schlacht erzählt. Denn die Bewohner von Solferino hatten nicht viele Sympathien für die Österreicher, wie im Übrigen die meisten Lombarden. Österreichs Regiment empfanden sie als Fremdherrschaft. Tatsächlich regierten die Österreicher mit harter Hand. Die Gefängnisse waren voll mit italienischen Patrioten, die Soldaten des Kaisers waren gefürchtet, die Behörden setzten hohe Steuern fest. Als die Schlacht von Solferino tobte, hatte die österreichische Krone kaum mehr Anhänger in dieser Region. Selbst die Bauern, die sich lange ohne Murren der Obrigkeit unterworfen hatten, waren von ihr abgefallen. Dazu gehörte sicher auch die Familie von Antonia Savio Cerini, und es kann sein, dass sie aus...

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