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E-Book

Solidarität

Anstiftung zur Menschlichkeit

AutorMichael Landau
VerlagChristian Brandstätter Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783710600586
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Unsere Welt hat Risse bekommen. Sie dreht sich heute schneller als noch vor wenigen Jahren. Leid, Hunger, Kriege, Krisen - aber auch die Frage, was all diese Not mit uns selbst zu tun hat. In einer globalisierten Welt liegt Syrien im Vorgarten, die Ukraine in der Nachbarschaft, und das eigene Wohnzimmer teilt man sich mit mehr als einer Million armutsgefährdeter Österreicherinnen und Österreicher. Wie kann ich helfen, ohne zu verzagen? Woran kann ich in Zeiten glauben, in denen nicht nur Banken und ganze Staaten in der Krise stecken, sondern auch das Vertrauen darauf, dass eine bessere Welt möglich ist? Der Caritas-Präsident Michael Landau führt an die Ränder der Gesellschaft wie an die Ränder des Lebens. Er macht deutlich, worauf es in einer komplexer werdenden Welt ankommt: auf Solidarität, Mut und die Bereitschaft jeder und jedes Einzelnen, an einer gerechteren Welt mitzubauen. Denn der wahre Schlüssel zu einem geglückten Leben liegt nicht darin, sich nur um das eigene, sondern gerade auch um das Glück der anderen zu sorgen.

Michael Landau ist Naturwissenschaftler, katholischer Priester und Präsident der Caritas Österreich. Er glaubt unverbrüchlich daran, dass jeder Einzelne von uns die Kraft und den Mut haben kann, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

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SOLIDARITÄT


… oder warum wir eine Renaissance der Zivilgesellschaft brauchen.

Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, fiel an einem Dienstag vor nicht allzu langer Zeit. Ich war in unserer Obdachloseneinrichtung Gruft in Wien, umgeben von knapp 200 Menschen, die für ein Abendessen anstanden. Auch wenn der Winter deutlich milder verlief als in den Jahren zuvor, reichte die Schlange vor der Essensausgabe bis in den Vorraum, den Gang entlang zurück bis zur Eingangstür. Menschen standen wie zuletzt an jedem Abend dicht an dicht, den Teller mit einer warmen Mahlzeit vor sich auf dem Fensterbrett. Einige saßen auf dem Boden, andere auf ihren mitgebrachten Taschen. Die Plätze an den Tischen waren längst vergeben. Eine, die seit Jahren immer wieder in die Gruft kommt, ist Johanna. Sie arbeitete lange als Reisebegleiterin und Stewardess. „Ich habe irgendwann den Halt verloren“, sagte die 54-Jährige einem unserer Mitarbeiter einmal. „Und wenn du einmal draußen bist, dann ist es irrsinnig schwer, wieder reinzukommen.“ Auch Johanna stand an diesem Abend in der Schlange um ein Essen an.

Ich durfte in den vergangenen 20 Jahren, seit ich für die Caritas tätig und im Einsatz bin, viele Menschen wie sie kennenlernen. Menschen, die ein Leben an den Rändern der Gesellschaft führen, oft auch an den Rändern des Lebens – in Mutter-Kind-Häusern in Linz, Graz oder in Wien. In Einrichtungen für drogenabhängige Menschen in Feldkirch oder Innsbruck. In Projekten für arbeitslose Jugendliche in Salzburg, aber auch in Wärmestuben und Suppenküchen in Bukarest oder in Chișinău. In Flüchtlingslagern im Libanon oder in Jordanien und in der Unterstützung für alte, pflegebedürftige Menschen hier in Österreich, oder in der Ukraine. Menschen auf der Suche nach Arbeit. Menschen in der Hoffnung auf einen Neuanfang. Und Menschen am Ende ihres Lebens. Mindestpensionisten. Kinder. Familien in Not. Dort, wo das Leben brüchig wird. Hier bei uns und an weit entfernten Orten.

Wer mit offenen Augen durch das Leben geht, weiß: Unsere Welt hat Risse bekommen. Sie dreht sich heute deutlich schneller als noch vor wenigen Jahren. Der Hunger, die Kriege, auch der Terror in Europa – all das ist uns heute näher als noch vor kurzer Zeit. In einer Welt, die wir gerne als globalisiertes Dorf bezeichnen, liegt Syrien im Vorgarten, die Ukraine in der Nachbarschaft und das eigene Wohnzimmer teilen wir uns mit 1,2 Millionen Österreicherinnen und Österreichern, die arm oder akut armutsgefährdet sind.

Diese Gleichzeitigkeit, das Unmittelbare – die Tatsache, dass Nachrichten in Echtzeit und wie das Wetter auf uns einprasseln – heute bewölkt, morgen stürmisch und nur noch selten windstill –, all das kann ein Gefühl der Überforderung und Ängste auslösen. Auch bei mir. Zwar nicht oft, aber doch von Zeit zu Zeit.

An diesem Dienstagabend in der Gruft waren es vermutlich eben diese Risse in der Fassade, diese Gleichzeitigkeit der Katastrophen, die mich verunsicherten. Ich war gerade von einer Reise aus dem Nordirak zurückgekehrt. Ein Land, in dem zu diesem Zeitpunkt mehr als eine Million Menschen auf der Flucht vor der Terrormiliz Islamischer Staat waren. Männer, Frauen, Kinder. An eines von ihnen erinnere ich mich besonders gut: Sie hieß Fatima. Ein sechs Jahre altes Mädchen, das mit ihrer Mutter in einer mehrstöckigen Betonruine in Zakho, unweit der syrischen Grenze Zuflucht gefunden hatte. Während in Österreich zu diesem Zeitpunkt untergriffig über Obergrenzen für Flüchtlinge gestritten wurde, saß dieses Mädchen vor mir neben einer offenen Feuerstelle, in einem von der Kälte nur ungenügend geschützten Haus: Gezeichnet von den Folgen des Kriegs und ohne konkrete Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

In Momenten wie jenem in der Gruft oder jenem in der nordirakischen Betonruine wird mir deutlicher als sonst bewusst: Wir alle können in unserem Umfeld konkrete Zeichen der Solidarität und Nächstenliebe setzen. Denn in Zeiten, da die gesellschaftlichen Gräben tiefer werden, da die Polarisierung zunimmt und wir in vielen Bereichen des Lebens eine Krise des Vertrauens durchleben, sollten wir uns auf unsere Stärken fokussieren und uns nicht von unseren Ängsten treiben lassen. Nichts hemmt solidarisches Handeln mehr als Angst.

Ich war in den vergangenen zwei Jahrzehnten häufig an Orten in Österreich und darüber hinaus weltweit, an denen Not spürbar wird. Vieles war bedrückend. Aber – oft verborgen, manchmal ganz klar – ist an diesen Orten neben der Not vor allem auch sehr viel Mut, Hoffnung und Zuversicht erfahrbar. Hoffnung, weil ich darauf vertrauen darf, dass jene Hilfe, die hunderttausende Österreicherinnen und Österreicher leisten, wirkt. Weil ich sehe, wie viel die Hilfe verändert: Wenn Menschen wieder Arbeit haben, Wohnraum finden, Lebensperspektiven entwickeln. Zuversicht, weil ich weiß, dass auch heute Abend jemand da sein wird, der Johanna und all den anderen in der Gruft zu essen gibt. Weil ich weiß, dass ein Teil unserer Hilfe mittlerweile in Zakho und damit hoffentlich auch bei Fatima und ihrer Familie angekommen ist. Vor allem aber lebe ich in der Gewissheit, dass sehr viele Menschen in Österreich und in der ganzen Welt an einer besseren Zukunft mitarbeiten. Freiwillige, Ehren- und Hauptamtliche. Junge und alte Menschen. Lehrlinge, Studierende, Pensionisten und Berufstätige in ihrer Freizeit. Allein bei der Caritas sind es österreichweit Zehntausende, die sich engagieren. Sie verteilen Suppe an obdachlose Menschen. Sie organisieren Lebensmittelausgaben in den Pfarren. Sie geben Kindern aus schwierigeren Verhältnissen Nachhilfe, und sie stellen Menschen auf der Flucht ein Dach über dem Kopf zur Verfügung. Sie besuchen pflegebedürftige Menschen Zuhause, ermöglichen langzeitarbeitslosen Jugendlichen Chancen und helfen Menschen mit Behinderungen ihre Stärken zu entfalten.

All diese Menschen machen das Potenzial der Anständigkeit deutlich, das in uns steckt. Der Möglichkeit nach in jeder und jedem von uns. Sie helfen, weil sie intuitiv zu spüren scheinen: Es kommt auch auf mich an! Sie stärken das Vertrauen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie schenken Zuversicht und Hoffnung – und sie verändern dadurch auch ihr eigenes Leben ein Stück weit zum Positiven. Denn der Versuch, ein gutes, ein gelungenes Leben zu führen, ist auch Ausdruck der eigenen Würde und Entfaltung unseres Menschseins. Es ist der Versuch, mit den eigenen Wertvorstellungen im Einklang zu leben. Der Versuch, der inneren Gewissheit Rechnung zu tragen, dass der Schlüssel zu einem geglückten Leben eben nicht nur darin liegt, sich nur um das eigene Glück, sondern gerade auch um das Glück der anderen zu sorgen. Der Versuch, Solidarität und Gerechtigkeit auch im globalen Kontext zu buchstabieren.

Ich bin überzeugt: Wir werden diese Renaissance der Zivilgesellschaft, die wir in den vergangenen Monaten an den Grenzen, an den Bahnhöfen und in den Notquartieren so intensiv erfahren haben, auch in Zukunft brauchen. Vielleicht sogar noch dringender, noch kraftvoller und engagierter als heute. In dem Wissen, dass wir in diesem globalisierten Dorf selbst zu Hause sind, müssen wir uns die Frage stellen: Wie und welche Lösungen werden wir finden, um die Aufgaben, die anstehen, zu bewältigen? In Österreich, wenn es darum geht, den Sozialstaat zukunftstauglich für alle Menschen auszugestalten, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und das Auseinanderdriften von Arm und Reich in unserer Gesellschaft zu verhindern. In Europa, wenn wir vor der Aufgabe stehen, das unmenschliche Armutsgefälle innerhalb des Kontinents zu überwinden und aus einer Wirtschaftsunion so etwas wie eine echte Solidaritätsunion zu bauen. Und weltweit, wenn wir gefordert sind, Lösungen zu finden, um das bestehende Ungleichgewicht zwischen den reicheren Industrieländern und dem globalen Süden in eine vernünftige Balance zu bringen. Denn nur ein solcher Ausgleich kann letztlich verhindern, dass Menschen in großer Zahl ihre Heimat verlassen und auf dem Weg nach Europa zu Tausenden im Mittelmeer ihr Leben riskieren. All diese Fragen, aber auch das schwindende Vertrauen in die Wirtschaft und das wachsende Misstrauen gegenüber politischen Eliten verpflichten uns, und sie machen deutlich: In einer zusammenwachsenden Welt brauchen wir auch eine Globalisierung des Verantwortungsbewusstseins und der Solidarität. Solidarität im Weltmaßstab, nicht nur für den Hausgebrauch. Denn ein geglücktes Leben gelingt nicht am anderen Menschen vorbei. Einfach schon deshalb, weil wir einander brauchen, weil wir unserem Wesen nach aufeinander verwiesen sind. Jede und jeder von uns. Von Geburt an. Bis hin zu unserem Tod. Auch wenn Briefkastenfirmen in Panama und in anderen Oasen dieser Welt einen gegenteiligen Schluss nahelegen mögen: Diese Welt ist für uns alle da, nicht nur für einige wenige. Hier wieder zu einer Sprache der Gerechtigkeit, zu einem Sensorium der Solidarität zu finden, scheint mir zentral. Denn gerade die vergangenen Jahre haben deutlich gemacht: In einem Meer von Armut...

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