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Soziale Raumzeit

AutorGunter Weidenhaus
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783518741375
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR


<p>Gunter Weidenhaus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut f&uuml;r Soziologie der TU Berlin.</p>

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Leseprobe

1. Einleitung


Cornelius hat kein Zuhause – aber obdachlos ist er nicht. Mein Interviewpartner hat zwar eine Wohnung und hat schon in vielen Städten Deutschlands in Wohngemeinschaften gelebt, was ihn aber interessiert, sind die Atmosphären der Städte, ihre Subkulturen und deren ›Locations‹. Die Menschen ›auf der Straße‹ sind für ihn wichtig. Wo sein Bett steht, ist zweitrangig. Die Idee eines Zuhauses oder auch einer Heimat im traditionellen Sinne ist ihm eher ein Gräuel, denn »was anderes kannste machen, wenn du Familie und Kinder hast und dann sowieso vom Job nicht mehr nach Hause willst, weil dann der Heimatstress kommt«. Cornelius plant nicht in die Zukunft. Seine befristete Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter verspricht zunächst einmal nur eines: Ein Jahr Anspruch auf Arbeitslosengeld. Spontan bei sich bietender Gelegenheit umsteuern, sich immer wieder neue Projekte suchen, nicht wissen, was morgen kommt, und auch nicht so tun als ob, das ist kein Problem für ihn. Als eine seiner Stellen mal wieder ausgelaufen war, reagierte er gelassen: »Jetzt bin ich arbeitslos – jetzt geh’ ich nach Berlin.«

Offensichtlich lassen sich die relevanten Lebensräume[1] meines Interviewpartners mit herkömmlichen Begriffen schlecht erfassen. »Trautes Heim – Glück allein« geht meilenweit an seinen Vorstellungen gelingenden Lebens und an seiner Realität vorbei. Die Struktur von Cornelius’ biographisch wichtigen Räumen lässt sich viel eher als Netzwerk aus bestimmten Städten und Stadtvierteln beschreiben. Auch die Zeit seines Lebens folgt keinem herkömmlichen, linearen Modell, in dem die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorgegangen ist und nun eine folgerichtige Zukunft geplant wird. Seine Geschichte klingt eher wie eine Reihe lose verbundener Gegenwarten, die sich zufällig aneinanderreihen.

Die Zeitstruktur seiner Lebensgeschichte scheint ebenso ungewöhnlich wie die Struktur seines Lebensraums. Es stellt sich die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen der Zeit und dem Raum in Cornelius Leben gibt. Vielleicht sind sogar ganz allgemein die Strukturen der Räume und Zeiten unseres Lebens miteinander verbunden? Mit anderen Worten: Könnte es nicht sein, dass sinnvoll von einer sozialen Raumzeit gesprochen werden kann?

Auch im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion sind Zeit und Raum in Bewegung geraten. Die gegenwärtigen zeitdiagnostischen Makroanalysen im Bereich der Sozialwissenschaften konstatieren unisono eine Veränderung der dominanten räumlichen und zeitlichen Konstruktionslogiken. Prominente Beispiele sind die an der Schwelle zur Post-, Nach- oder zweiten Moderne auf die 1980er Jahre datierten Übergänge vom ›Space of Places‹ zum ›Space of Flows‹ (Castells 2001, orig. 1996) oder von der linearen ›Clocktime‹ zur ›instantaneous Time‹ (von der Uhrenzeit zur unmittelbaren Zeit), in der erlebte Zeitabschnitte unabhängig voneinander und fragmentiert erscheinen (vgl. Urry 2000).

Was mit einer Veränderung der Zeit gemeint ist, soll hier zunächst nur mit wenigen Worten skizziert werden: Während sich einerseits die Rhythmen der Produktion und Konsumption immer weiter beschleunigen, scheint andererseits der Gesellschaft und den Subjekten die Zukunft abhandenzukommen. Die großen Metaerzählungen und Utopien der Moderne wie die Verwirklichung des Kommunismus oder ein durch Fortschritt zu realisierender »Wohlstand für alle« (Erhardt 1957) sind verstummt und die Diskussionen um eine einheitliche Richtung gesamtgesellschaftlicher Entwicklung erlahmt (vgl. zum Beispiel Schilcher/Weidenhaus 2010). Die schnellen gesellschaftlichen Veränderungen einerseits und das Fehlen einer Richtung dieser Entwicklungen andererseits kulminieren in der Metapher des »rasenden Stillstands« (Virilio 1998), in dem die Zeitstrukturen zu kollabieren drohen. Auch den Subjekten scheint es immer schwerer zu fallen, ihren Lebensweg oder beruflichen Werdegang vorherzusagen. Entsprechend schreibt Zygmunt Bauman: »Die Zeit entspricht nicht mehr einem Fluss, sondern einer Ansammlung von Teichen und Tümpeln.« (1997: 148)

Ähnlich dramatisch lesen sich die Metaphern, mit denen versucht wird, die Veränderungen des Raums auf den Begriff zu bringen: Der Raum lässt sich weder theoretisch noch empirisch als der stabile (nationalstaatliche) Container konzeptualisieren (vgl. Beck 2008 und Löw 2001), der einst als unhinterfragte Kulisse der Forschung fungierte. Soziale Prozesse können nicht mehr nur im Raum untersucht werden, ohne dass der Raum selbst thematisiert wird, denn globale Ströme von Waren, Dienstleistungen, Bildern und Menschen lassen ununterbrochen neue räumliche Bezüge entstehen. Die Beschreibung dieser Ströme im Rahmen eines rein territorialen Konzeptes von Raum fällt schwer. Permanent werden Grenzen im Zusammenhang mit der Nutzung neuer Technologien wie dem Internet verschoben oder im Rahmen mancher Handlungslogiken, wie der des internationalen Finanzkapitalismus, gänzlich aufgelöst. Soziale Prozesse scheinen sich nicht einfach im Raum abzuspielen, sondern den Raum selbst strukturell zu verändern. Auch diese Veränderungsprozesse scheinen vor der Strukturierung des Lebensraums von Subjekten nicht haltzumachen. Ansprüche an (räumliche) Flexibilität können beispielsweise den Wunsch nach der Konstruktion eines stabilen Lebensmittelpunktes, der die Bezeichnung ›Zuhause‹ verdient, untergraben.

Die Diagnose dieser Verschiebungen lässt die sozialen Konstitutionsprozesse von Raum und Zeit deutlich ins Relief treten. Während sich beim Thema Zeit an eine lange philosophische Tradition anschließen lässt, die zeitliche Bestimmungen im Grunde als soziale Konstitutionen ausweist (zum Beispiel Bergson 1989 [1889]), ist die These der sozialen Konstitution des Raums jüngeren Datums (vgl. Lefebvre 1991 [1964] und Löw 2001) und mündet in eine als ›Spatial Turn‹ bezeichnete Perspektivumstellung.

Die gleichzeitigen Veränderungen von räumlichen und zeitlichen Strukturen legt die Vermutung nahe, dass diese Wandlungen miteinander im Zusammenhang stehen. Ein Gedanke, der viele sozialwissenschaftliche Autor_innen, häufig inspiriert von einem Seitenblick auf die Einstein’sche Relativitätstheorie, die in der Physik eine unmittelbare Abhängigkeit räumlicher von zeitlichen Bestimmungen postuliert, zu faszinieren scheint (vgl. zum Beispiel Adam 2004). Gerade in der angelsächsischen Forschungslandschaft finden sich neben den Behauptungen, dass eine Trennung von räumlicher und zeitlicher Analyse höchstens noch um der Darstellung willen zulässig sei (vgl. Castells 2001 [1996] und Adam 2004), auch erste theoretische Überlegungen dazu, wie denn dieser Zusammenhang zu denken sei (vgl. zum Beispiel Massey 2005 oder Crang 2005). Ich werde zu zeigen versuchen, dass diese bisherigen Überlegungen aufgrund begrifflicher Ungenauigkeiten nicht von einem Zusammenhang von Raum und Zeit überzeugen können, und argumentieren, dass empirische Evidenzen für einen Zusammenhang von Raum und Zeit aufgezeigt werden müssen, damit sinnvoll von sozialer Raumzeit gesprochen werden kann.

Macht man die Frage nach der sozialen Raumzeit zu seinem Forschungsgegenstand, ist die Festlegung eines begrifflichen Rahmens für diesen Gegenstand unvermeidlich. An dieser Stelle sei nur eine erste notwendige Bedingung genannt, die das Sprechen von einer sozialen Raumzeit aus meiner Sicht rechtfertigt. Ich möchte nur dann die ›Raumzeit‹ als analytisch gewinnbringendes Konzept für den sozialwissenschaftlichen Diskurs vorschlagen, wenn die Konstitution des Raums mit der Konstitution der Zeit logisch zusammenhängt. Es reicht nicht aus, darauf zu verweisen, dass ein soziales Phänomen irgendwo und irgendwann stattfindet, um die Existenz einer sozialen Raumzeit zu postulieren. Ebenso wenig halte ich den Verweis darauf, dass die Konstitution von Räumen irgendwann vorgenommen wird oder dass die Konstitution der Zeit irgendwo vor sich geht, für ausreichend, um einen Begriff sozialer Raumzeit zu rechtfertigen. Nur wenn das, was mit Zeit in einem bestimmten sozialen Kontext gemeint ist, damit zusammenhängt, was mit Raum in demselben Kontext gemeint ist, dann ist das Sprechen von sozialer Raumzeit gerechtfertigt. Was an dieser Stelle noch sehr abstrakt klingt, gilt es im folgenden Kapitel dieses Buches Schritt für Schritt zu entwickeln. Der Gedanke muss jedoch hier bereits erwähnt werden, um die folgende These zu plausibilisieren: Ob die Konstitutionen von Raum und Zeit zusammenhängen, lässt sich nicht ausschließlich theoretisch klären, sondern muss zunächst empirisch gezeigt werden.

Diese Überlegungen verstehen sich daher als Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung und damit als exploratives empirisches Projekt, das einem Zusammenhang räumlicher und zeitlicher Bestimmungen nachforscht, gegebenenfalls diesen Zusammenhang zu verstehen sucht und eine Erklärung anbieten möchte.

Das empirische Vorgehen erfordert die Wahl eines Gegenstandsbereichs, in dem mit jeweils unterschiedlichen Raum- und Zeitkonstitutionen zu rechnen ist und der einen angemessenen Datenzugang gewährleistet. Die Erforschung von Biographien lässt sowohl die Variabilität als auch den Zugang zu den Daten in ausreichendem Maße erwarten. Die zentrale Fragestellung lässt sich also ausformulieren als die Suche nach einem Zusammenhang zeitlicher und räumlicher Konstitutionen im Rahmen von Biographien. Noch ein drittes pragmatisches Moment spricht für die Auswahl von Biographien als Gegenstandsbereich im Sinne des hier intendierten Forschungsinteresses: Selbst wenn sich kein Zusammenhang zwischen Raum und Zeit im Rahmen der Biographie aufzeigen lässt, verspricht allein die Analyse...

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