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E-Book

Sozialstaats-Dämmerung

AutorJürgen Borchert
VerlagRiemann
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641118754
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Deutschland - Weltmeister der sozialen Ungerechtigkeit?
Ob Familienlastenausgleich, Kindergeld, beitragsfreie Mitversicherung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, Rentenversicherung oder 'Fördern und Fordern' bei Hartz IV - was der Staat als wohlwollende Gaben verpackt, ist nichts als Wortgeklingel, sagt Jürgen Borchert. Der renommierte Sozialexperte zeigt anhand harter Fakten, wie Familien vom Staat übers Ohr gehauen werden, warum Hartz IV infam, das Steuersystem zutiefst ungerecht und das bedingungslose Grundeinkommen unsozial ist. Und ausgerechnet die sogenannten Solidarsysteme bewirken eine Umverteilung von unten nach oben und produzieren Ungerechtigkeit und Not anstatt davor zu schützen.

Jürgen Borchert, geboren 1949, ist einer der profiliertesten Sozialexperten des Landes und Vorsitzender Richter am Hessischen Landessozialgericht. Seit über 30 Jahren ist er als (parteiloser) Berater in Fragen der Sozial- und Familienpolitik für parlamentarische Ausschüsse, in Kommissionen, für Verbände, die Hessische Landesregierung sowie vor dem Bundesverfassungsgericht wissenschaftlich tätig und war der Architekt der Verfassungsbeschwerden, die 1992 zum 'Trümmerfrauenurteil' und 2001 zum 'Pflegeurteil' des Bundesverfassungsgerichts führten. 2008 lieferte er mit seinem Senat die Vorlage zur verfassungsrechtlichen Überprüfung der Hartz-IV-Regelsätze.

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Leseprobe

Einleitung

»Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.«

Aus der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung von 1999

Die »Pamir« sank am 21. September 1957. Achtzig der 86 Besatzungsmitglieder, in der Mehrzahl junge Kadetten, kamen ums Leben. Ursache des Untergangs war nicht der Hurrikan »Carrie«, in den das Segelschulschiff der deutschen Handelsmarine geraten war, sondern ein Verrutschen der Ladung, was zur Schlagseite und schließlich zum Kentern führte.

Auch Staatsschiffe gehen unter, wenn die Lasten nicht richtig verteilt sind. Der Untergang des Römischen Weltreiches ist exemplarisch. Es scheiterte letztendlich, weil privater Reichtum zu öffentlicher Armut führte: Je länger die Grenzen des Reiches, je heftiger die Stürme der Völkerwanderungen wurden und je größer dementsprechend der Militäraufwand, desto mehr entzogen sich die unermesslich reichen Plutokraten ihrer Steuerpflicht und betrieben Subsistenzwirtschaft auf ihren Landgütern.5 Das skandalöse Steuerwesen seiner Zeit geißelte der Staats- und Kirchenethiker Salvianus (geboren um 400 n. Chr., gestorben 475), ein Zeitzeuge des Untergangs: »Es ist gemein und tadelnswert, dass nicht alle aller Bürden tragen, wie es aller Pflicht ist, sondern dass im Gegenteil die Abgaben der Reichen die Armen bedrücken und die Schwächsten mit den Steuern der Reichen belastet sind.«6 Sein berühmter Zeitgenosse Augustinus (geboren 354, gestorben 430) sah es genauso: »Wo die Gerechtigkeit fehlt – was sind die Staaten dann anderes als große Räuberbanden?!«7 Das war die spätrömische Dekadenz – und sie nahm bekanntlich ein böses Ende.8 Das Weltreich versank in der Nacht.

Auch uns steht ein Jahrhundert voller Orkane bevor. In wenigen Jahrzehnten sind die fossilen Ressourcen erschöpft. Die Klimakatastrophe führt gleichzeitig zur Versteppung und anderswo Überflutung riesiger Regionen. Ackerflächen schrumpfen, während die Weltbevölkerung noch wächst. Die Situation wird dadurch verschärft, dass die Landwirtschaft, der ohne Zweifel wichtigste Wirtschaftszweig unseres Jahrhunderts, selbst wesentlichen Anteil an den Veränderungen des Weltklimas hat, denn sie emittiert mit 133 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten allein in Deutschland fast ebenso viel Treibhausgase wie der Straßenverkehr. Eine Umstellung auf Bio-Landwirtschaft würde zwar durch Mineraldüngerverzicht den Ausstoß um bis zu 20 Prozent senken, scheitert aber an dem um 60 Prozent (= 10 Millionen Hektar!) höheren Flächenbedarf.9 Selbst in den noch fruchtbaren Regionen lässt sich die Produktion also nicht mehr steigern; infolge der jahrzehntelangen Übernutzung der Böden wird sie eher sinken. Vielen hundert Millionen Menschen in den Küstenregionen steht das Wasser buchstäblich bis zum Hals. Eine Milliarde Menschen hungert schon heute, und eine Milliarde Kraftfahrzeuge brauchen Sprit. Agrosprit oder Nahrungsmittel, leere Teller/volle Tanks? Dieser Konflikt ist längst voll entbrannt. Unausweichlich werden Hunderte Millionen Menschen weltweit migrieren müssen.

Deutschland als Industrieland wie als Exportweltmeister wird vom globalen Sturm voll getroffen, das ist sicher. Umso entscheidender wäre es deshalb, mit Blick auf die Großwetterlage den Kurs zu bedenken und rechtzeitig alles für die Stabilität des Staatsschiffs zu tun. Dafür gibt es jedoch keinerlei Anzeichen. Im Gegenteil. Obwohl die mittlerweile vier offiziellen Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierungen seit dem Jahr 2001 schwarz auf weiß dokumentieren, dass die Ladung längst verrutscht ist und die Gewichte sich rasant verschoben haben, wird der falsche Kurs beibehalten und die irre Schlagseite nicht behoben: Das untere Drittel der Bevölkerung versinkt bereits in Armut und Schulden, das mittlere Drittel rutscht hinterher, wird abwärtsmobil, und die obersten 10 Prozent (»Dezil«) werden von der Entwicklung umso mehr nach oben gehievt, je tiefer die andern abrutschen. Die Bundesrepublik Deutschland ist in den letzten Jahren zum Paradies für Superreiche geworden, in dem rund hundert Milliardäre und etwa 400 000 (Multi-)Millionäre leben. Dem obersten Dezil der Bürger gehören heute fast zwei Drittel des Privatvermögens, und bei ihm landen circa 35 Prozent des Nettogesamteinkommens. Das oberste 1 Prozent an der Spitze nennt sogar mehr als ein Drittel aller Vermögen sein Eigen und dem winzigen obersten Promille gehören mit 22,5 Prozent fast ein Viertel und damit kaum weniger als 1969 noch dem kompletten obersten Prozent.10

Auf der anderen Seite besonders auffallend ist die doppelte Kinderarmut: Obwohl immer weniger Kinder geboren werden, rutschen immer mehr in die Armut hinunter – mit vernichtenden Konsequenzen für ihre Bildungsfähigkeit und damit unsere Zukunft. Wurden 1965 noch fast 1,35 Millionen Kinder geboren, waren es 2012 nur noch rund 650 000. Damals lebte nur jedes 75. Kind unter sieben Jahren zeitweise oder auf Dauer im Sozialhilfebezug, heute ist es jedes fünfte insgesamt.

Die verheerende Schlagseite ist das Ergebnis einer Verteilung der Lasten, wie sie ungerechter nur noch im Feudalismus oder der Sklaverei sein könnte. Was Salvianus und Augustinus vor 1600 Jahren sagten, ist aktueller denn je, und völlig zu Recht hat Papst Benedikt XVI. in seiner historischen Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 Augustinus wiederaufleben lassen. Fehlende Gerechtigkeit in Deutschland? Das hat bei vielen Empörung ausgelöst. Schließlich gibt Deutschland doch jeden dritten Euro für seinen Sozialstaat aus, und wir waren die Erfinder des Sozialstaats, unsere Sozialversicherungen standen der Welt Modell! Wer sonst weltweit hat eine so ausgefeilte Sozialgesetzgebung, kann auf eine unabhängige Justiz bauen, dazu noch auf das Bundesverfassungsgericht vertrauen, den Hüter der Nachkriegsverfassung und der in ihr niedergelegten Einsichten aus dieser Menschheitskatastrophe?!

Das ist alles lange her. Auch der Sozialstaat aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der uns das Wirtschaftswunder und der Demokratie Stabilität bescherte, ist längst Vergangenheit. Man hat versäumt, ihn an die sich verändernden Verhältnisse anzupassen. Statt wie früher von oben nach unten verteilt er nun von unten nach oben um; die Probleme, Notlagen und Risiken, vor denen er eigentlich schützen soll, werden so von ihm zunehmend selbst hervorgerufen! Wir benutzen auch immer noch dieselben Begriffe wie vor 130 Jahren, obwohl sie zu reinen Fiktionen geworden sind und zur Wirklichkeit überhaupt nicht mehr passen. Das führt nicht zuletzt dazu, dass auch gutgemeinte Gesetze ihr Ziel verfehlen. Schlimmer noch, im semantischen Wirrwarr wird »die große Konfusion zur Stunde der Manipulateure« (Originalton Norbert Blüm). In der Tat, wenn die Leute kapierten, wie der Gesetzgeber sie mit Hütchenspielen übers Ohr haut, müsste sich die ganz große Koalition aus CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen vor dem Wähler in Acht nehmen.

Blüms Kabinettskollege als Wirtschaftsminister war der später rechtskräftig als Steuerhinterzieher verurteilte Otto Graf Lambsdorff, genannt der »Marktgraf«, ein Agent mächtiger Wirtschaftsinteressen, ausweislich seiner Verurteilung ein Staatsverächter wie alle Steuerhinterzieher. Mit seinem »Lambsdorff-Papier« vom 9. September 1982 gab er den Startschuss zur großen Denunziation des Sozialstaats als Standortrisiko und Wirtschaftsbremse. Als Plagiat tauchte es zwanzig Jahre später als »Agenda 2010« wieder auf, und der Marktgraf dürfte nicht schlecht gestaunt haben, dass ausgerechnet der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder das Werk zu Ende führte, das in sechzehn Jahren Kohl-Regierung in einer unendlichen Kette von Skandalen und strafrechtlichen Verurteilungen stecken geblieben war.

Gerhard Schröder war es dann, dessen Regierung den mächtigen Wirtschaftsinteressen Tür und Tor öffnete, denen schon Graf Lambsdorff so effektiv gedient hatte. Mit seiner Regierung begann der Einzug der Lobbyisten direkt an die Schaltstellen der Gesetzgebung in den Fachministerien.11 Seitdem stammen viele Gesetze oft nur noch formal vom Gesetzgeber, dem Deutschen Bundestag. Der steht zwar auf der Verpackung drauf, drin sind aber die Bertelsmann-Stiftung & Co. (in den Hartz-Gesetzen),12 die Banken und die Finanzindustrie (in der Riester-Rente),13 die Bundesvereinigung der deutschen Industrie und der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (in der Familienpolitik seit 2004). Die Liste ließe sich leicht um einige Kapitel verlängern. »Je weniger die Leute wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie!«, wusste schon Bismarck; laut der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International misstrauen tatsächlich aber rund zwei Drittel der Deutschen insoweit der Politik.

Fürwahr, Berichte über Pferdelasagne und Bio-Eier füllten wochenlang die Titelseiten und Talkshows, dass uns aber mächtige Wirtschaftsinteressen ihre Gesetze wie Kuckuckseier unterjubeln, findet meist nicht einmal als Randnotiz Erwähnung. Mit der Hilfe von außen und nicht selten unter Umgehung der auf den Amtseid verpflichteten Fachbeamtenschaft überflutete die Gesetzgebungsmaschinerie Abgeordnete ebenso wie die Bürger und Medien. Niemand hatte mehr den Überblick, und viele wissen bis heute nicht, was ihnen wirklich blüht. Um die acht Millionen Menschen sind im Niedriglohnsektor beschäftigt. Sie können von ihrer oft harten Arbeit allein nicht leben, und alle sind Kandidaten für Renten weit unter...

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