Der Weg ins Labyrinth
DIE FOLGENDE GESCHICHTE erzählt von einem neuen Leben. Sie spielt vor ein paar Jahren in Wien, und sie führt in eine ferne Welt, die uns sehr nahe kommen kann. Sie eröffnet die Welt, aus der wir gekommen sind. Die Geschichte ist wahr, voller Ironie und Drama. Und wie bei der Begegnung zweier Menschen liegt im Anfang schon die ganze Geschichte eingeschlossen: »Eine 40-Jährige Wienerin hat im Foyer des Burgtheaters einen Jungen zur Welt gebracht. Die Wehen hatten während einer Vorstellung von ›Phädra‹ eingesetzt. Da das Baby offenbar nicht warten wollte, brachte die Dame ihr Kind unter der Aufsicht des Theaterarztes im Foyer des Burgtheaters auf die Welt. Mutter und Kind sind wohlauf. Für die Namenswahl gibt es bereits Ideen: ›Wir finden, der Bub sollte nach den Hauptfiguren des Stücks Hippolytos oder Theseus benannt werden‹, sagte Burgtheater-Direktor Matthias Hartmann. Zudem kann er sich vorstellen, dem Buben lebenslangen freien Eintritt zu gewähren.«
In dieser Zeitungsmeldung verbindet sich die Komödie mit der Tragödie, wie bei den Festspielen im antiken Athen. Was für eine glückliche Geburt! Aber was für eine schreckliche Vorhersage! Was für ein leichtsinniger Umgang mit Kräften in einer westlichen Zivilisation, die ihrer Herkunft nach weder sehr westlich ist noch durchweg zivilisiert. Wir erinnern uns an diese Geschichte: Phädra liebt ihren Stiefsohn Hyppolytos, eben jenen, sie wird abgewiesen und begeht Selbstmord – nicht ohne ihren Ehemann Theseus so eifersüchtig gemacht zu haben, dass er in seiner Wut die Götter zu Hilfe ruft. Poseidon kümmert sich um den Fall. Er schickt eine Riesenwelle, die den jungen Hyppolytos samt seinen Pferden in den Tod treibt. So sind die Götter, die klassisch-zivilisierten in ihren heute strahlend weißen, einst buntbemalten Tempeln. Sie haben an solchen Dingen ihren Spaß. Gern schauen sie zu, wenn Blut fließt, wenn junge Helden sterben, Frauen und Kinder. Und, beim Zeus, sie besitzen unendliche Fantasie, wenn es um ihre Affären mit Sterblichen, verborgene Schwangerschaften und trickreiche Geburten geht. Dagegen verblasst die jungfräuliche Geburt des Neuen Testaments, sie hat uralte, spektakuläre Vorläufer. Pallas Athene entspringt in voller Rüstung und mit Kriegsgeschrei dem Kopf des Zeus. Dionysos, der Gott des Rauschs, wird im Oberschenkel von Gottvater ausgetragen, weil Semele, seine Mutter, beim Anblick des olympischen Liebhabers verbrennt und die gerettete Leibesfrucht vor der Eifersucht der Zeus-Gattin Hera in Sicherheit gebracht werden muss. »Den Dionysos aber verwandelte Zeus in ein Böckchen und entzog ihn so dem Ungestüm der Hera, und ihn erhielt Hermes und brachte ihn zu den in Nysa in Asien wohnenden Nymphen, die Zeus später verstirnte und Hyaden nannte«, beschreibt die mythologische Sammlung des Apollodoros im 1. Jahrhundert nach Christus die Ankunft des Herrn der Ekstase auf dieser Welt. Seinen Namen trägt das Amphitheater am Fuß der Akropolis bis heute. Nymphen werden zu den Sternen ans Firmament erhoben, und auf der Erde brechen zu Ehren des Dionysos wilde Stürme los, fallen die Hüllen, die Dionysien setzen die gesellschaftlichen Regeln außer Kraft, oder sie sind die Regel; Lust und Schrecken regieren, und es erklingt Musik, unwiderstehliche Musik. So wird es einst gewesen sein.
Mythen gleichen vorausschauender Erinnerung. Aber mit diesen ersten und letzten Dingen tritt das Theater kaum mehr in Kontakt, es hat die Verbindung zu sich selbst verloren. Es spielt mit ihnen, nimmt sie auseinander, wirft sie in die Ecke. Es weiß sehr viel, verfügt über schier unbegrenzte technische Möglichkeiten und hat wenig zu sagen. Die alten Geschichten sind erzählt, so scheint es, oder sie werden mit einer Sicherheit erzählt, dass sie nur noch alt wirken, oder auf billige Art und Weise neu. In Staatstheatern und auf Festivals, bis in die Freie Szene hinein (dort vor allem, allerdings aus begreiflichen materiellen Gründen), dominiert das kleine Format, generell das Denken und Arbeiten in Formaten. Der Begriff verweist auf die Sprache der Fernsehplaner und impliziert die Quote. Eine solche Verkleinerung bedeutet aber nicht notwendig Verdichtung, vielmehr geht mit der Verkürzung eine Vereinfachung, Verflachung der Stoffe und Gesten einher. Formatierung im Sinne der Computertechnologie heißt, einen Text handlich zu machen und speicherfähig. Wo alles gespeichert wird oder abgelegt wird, findet Entleerung statt. Zur Fantasie aber gehört das Vergessen.
Ein Abend im Theater, irgendwo. Ich sitze im Parkett, versuche mich zu öffnen. Die Situation ist vertraut und die Entfremdung mit Händen zu greifen. Es sind Gestalten auf der Bühne. Sie gehen, sprechen, sie tun etwas, sie tun nichts. Sie sind beschäftigt, irgendwie. Der Anblick ist schwer zu ertragen, auch körperlich. Ich will heraus aus dieser absurden Versammlung, heraus aus meiner Haut. Ein Grundvertrauen ist verloren gegangen: Dass die Leute vom Theater wissen, was sie tun, warum sie es tun. Dass der Zuschauer weiß, warum er zuschaut. Die Tickets sind abgerissen, die Mobiltelefone ausgeschaltet. In einem Flugzeug gelangt man von A nach B. Im Theater ist es oft nicht anders. Das Ziel ist bekannt und benannt, Überraschung in den meisten Fällen ausgeschlossen.
Selbst der Begriff des Publikums befindet sich in Auflösung. Der Zuschauer erlebt sich als einzelne Person, nicht mehr als Teil einer Gemeinschaft. Hätte ich eine Fernbedienung im Theater, wie oft würde ich weiterzappen! Und es ist doch Theater; ich kann hier nicht Popcorn futtern und Bier trinken oder mit meiner Freundin knutschen. Es gelten nach wie vor die alten Regeln des bürgerlichen Abonnements. Auf die Vereinsamung im ausgehöhlten Ritual antworten die One-to-one-Performances: Der Zuschauer geht, wie bei der Theatergruppe Signa, allein durch theatrale Parcours, wird scheinbar individuell angesprochen und bespielt. Es ist die vorerst letzte Schwundstufe des Performativen, das einmal als kollektives Erleben begonnen hat. Zunehmend erinnern Theaterproduktionen an Installationen, wobei Stimmung, Tonlage, Intensität sowohl der Darsteller als auch des Dargestellten kaum variieren. Auf der Bühne geht etwas Undramatisches, Vegetatives vor, das ich eine Weile betrachten mag, dann will ich eigentlich gehen. Habe genug gesehen. Nein: Ich habe entschieden nicht genug gesehen.
Theseus? Hyppolitos? So heißt doch kein Junge. So tauft man kein Kind. Aber doch: Ein Theseus – bei dessen Zeugung das Delphische Orakel nachhelfen musste – wäre eine große Hilfe. Theseus erledigt eine Reihe schrecklicher Schurken, besiegt auf Kreta das Ungeheuer Minotaurus, den Stier, und, was nie einem Menschen zuvor gelang, er findet aus dem Labyrinth des Todes heraus, mit Hilfe einer liebenden Frau und eines Fadens, Ariadne. Die Heutigen müssen erst einmal den Weg hinein finden in den mit höchster Kunst erbauten Irrgarten. Dort warten so viele geliebte, verehrte Gestorbene der letzten Jahre, Heiner Müller, Einar Schleef, Pina Bausch, Jürgen Gosch, Christoph Schlingensief, Patrice Chéreau, Dimiter Gotscheff. Wir haben einen fürchterlichen Kahlschlag erlebt. Die besten, mutigsten, wirkungsmächtigsten Theaterkünstler sind gegangen. Ich denke an sie, die zum Anfang zurückgefunden haben, die einen Vorsprung hatten vor den anderen, auch vor denen, die noch da sind. Dieser Abstand wächst. Eines Tages, wenn es so weitergeht, das Abfallen des Dramatischen, wird man sagen müssen: Die Toten haben nicht viel verpasst.
Vor ein paar Jahren schrieb Roger Angell im »New Yorker« einen erschütternden Text über das Sterben seiner Frau. Sie war siebzehn Jahre jünger als er, und sie hatten naturgemäß einen anderen Lebensplan. Bei seinen Besuchen auf dem Friedhof stößt Angell auf alte Grabsteine, die bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückweisen. Die Geschichten, Gefühle, Erlebnisse dieser Familien – verschwunden, vergessen, ausgewaschen. Nur die Namen und Daten der Verblichenen sind geblieben, nackt und blank: »Als ob sie darauf warten, geboren zu werden.« Die Toten warten darauf, geboren zu werden. Ein schöneres, klareres Bild kann ich mir für das Theater nicht vorstellen.
Fast rewind. So geht meine Reise. Ich wähle den schnellen Rücklauf aus einer Theaterzeit, die den Anschluss an ihre eigene Biografie verloren hat und in Gegenwärtigkeit ertrinkt. Das ist der Weg: Dahin zurückspringen, wo das Boot losgebunden wurde. Nur über Aufführungen und Theatermenschen will ich schreiben, die mich tief bewegt, verändert haben. Die mich mit der Theatergeschichte verbinden. Ich wünsche mir dafür eine Ruhe, eine brennende Stille, »eines Abends, spät, in der Zukunft«, so wie Samuel Beckett sie im 1958 uraufgeführten »Letzten Band« für das Zwiegespräch eines alten Mannes mit seinem Leben fordert. Er will in sich hineinhorchen, gestern, heute, morgen. Seine Zeit ist aufgehoben.
»A tree is best measured when it is down« lautete der Untertitel für den deutschen Teil von Robert Wilsons globalem Spielopernwerk »The CIVIL warS«, die er Anfang der Achtzigerjahre zusammen mit Heiner Müller und Komponisten Philip Glass geschaffen hat. Die zurückliegenden dreißig, fünfunddreißig Jahre: Das ist der Zeitrahmen. In dieser Spanne lässt sich die Biografie des Theaters über zweieinhalbtausend Jahre erspüren, von Schlingensief, dem Kind, zum Urvater Aischylos. Stücke, Inszenierungen, Personen und Orte fließen zusammen, wie bei einem Theaterspielplan. Dabei sind Planung und Auswahl für das Gelingen so wichtig, wie der Zufall eine Rolle spielt und das Glück. Ich will sehen, was bleibt nach einem halben Leben im Theater,...