Von Kananaskis an den Rocky Mountains nach Jekaterinburg am Ural
Nine-Eleven – zwei Ziffern nur. Doch dahinter ein Datum, das sich mit aller Brutalität einen Platz in der Geschichte des 21. Jahrhunderts erobert hat. Am 11. September 2001 lenkten Terroristen zwei vollbesetzte Passagierjets in die beiden Türme des World Trade Centers in New York. Ein weiteres Flugzeug raste in die Zentrale des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums, das Pentagon. Das vierte Flugzeug mit Kurs auf Regierungsgebäude in Washington D.C. verfehlte sein Ziel nur, weil es von Passagieren und den Piloten nach Kämpfen an Bord zum Absturz gebracht wurde. Rund dreitausend Menschen kamen bei dem terroristischen Massenmord ums Leben. Zwar hatten Völker und Staaten die Welt gerade erst, in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts, mit mehr als genug Gräueln überzogen, waren die Gemetzel des zweiten Golfkrieges, des Brudermordes im zerfallenden Jugoslawien, das Töten im russischen Tschetschenien oder das gegenseitige Abschlachten in dem vom Blutrausch befallenen Ruanda noch in schlimmer Erinnerung. Doch die Terroranschläge von Nine-Eleven lösten einen besonderen Schock aus. Vielleicht deshalb, weil eine neue Art von Krieg Einzug gehalten hatte. Weil maßloses Sterben jetzt vollkommen überraschend erfolgte und obendrein nicht mehr auf einen überschaubaren Teil des Globus beschränkt war. Fanden doch Kriege für die meisten Menschen im reichen Westeuropa oder in Nordamerika seit Jahrzehnten weit weg, in sicherer Entfernung statt. Für die Gleichgültigen hinter den Gardinen galt immer noch die wohlige Weltsicht eines Bürgers aus alten Zeiten, die Meister Goethe trefflich so formulierte:
»Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.«5
Seit Nine-Eleven ist die Zeit der sicheren Refugien – wenn es sie denn überhaupt jemals gegeben haben sollte – endgültig vorbei. Kriegerischer Terror kann an allen Ecken und Enden dieser Welt zuschlagen. Es wäre auch ein Wunder, wenn das nicht so wäre. Wird doch der freie und grenzenlose Welthandel gepredigt, fließen Datenströme von Kontinent zu Kontinent, ziehen polnische Bauarbeiter in London Luxusappartements hoch, schießen Menschen nicht nur in Afghanistan, Kolumbien, im Gaza-Streifen oder sonstwo mit russischen Kalaschnikow-MPi wie mit deutschen Sturmgewehren G36 aufeinander, und holen sich deutsche Kleinkinder die Krätze von chinesischem Plastikspielzeug. Die kapitalistische Globalisierung macht vor nichts und niemandem halt. Warum also sollten ausgerechnet Terroristen nicht global agieren?
Die Gefahr eines internationalen Terrorismus diktierte auch die Tagesordnung des Treffens der großen westlichen Industriestaaten und Russlands im Juni 2002 im kanadischen Kananaskis. Schon die Rahmenbedingungen dieses G8-Gipfels waren ungewöhnlich. Kananaskis, am Rande der Rocky Mountains gelegen, ist ein kleiner und eigentlich nur in der Feriensaison bewohnter Ort in der Provinz Alberta, beliebt bei Wintersportlern, Ökotouristen und Naturfreunden. Eine der schönsten Berglandschaften Kanadas, fernab größerer Städte und somit auch äußerst ungünstig gelegen für Gegendemonstranten und aufdringliche Journalisten.
Zumindest nach außen hin übten sich die acht angereisten Staatschefs in artiger Zurückhaltung. »Die Organisatoren betonen denn auch die Schlupfwinkel-Atmosphäre«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung. »›Jede Delegation verfügt über 26 Zimmer‹, sagt Gipfelsprecher Michael O’Shaughnessy. ›Der Chef plus 25‹ lautet die Formel: Jeder Teilnehmer darf nur seine 25 engsten Mitarbeiter mitbringen […]. Kräftig gespart wird schließlich auch am Rahmenprogramm. Die First Ladys wurden diesmal gar nicht erst eingeladen und müssen deshalb auch nicht unterhalten werden. Und auch ihre Männer geben sich bescheiden: Das sonst durchaus übliche Galadiner und der Opernabend entfallen. Damit spart man Zeit. Das Treffen dauert diesmal nur zwei statt der üblichen drei Tage.«6
Der Ausflug der acht einflussreichsten Staatenlenker in die kanadische Idylle schien nicht nur kostengünstig zu sein. Die Gespräche in beschaulicher Bauden-Atmosphäre endeten auch mit praktischen Ergebnissen. Besonders Russlands Präsident Wladimir Putin trat mit gestärktem Selbstbewusstsein die Heimreise an. Zu verdanken hatte er dies nicht zuletzt dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Denn der drängte die skeptischen Herren in der Runde, Russland ernst zu nehmen und in globale Fragen einzubeziehen. Mit Erfolg – es wurde beschlossen, dass Russland 2006 Vollmitglied des exklusiven Klubs der Großen Acht werden sollte. Das sei »eine Entscheidung von historischem Ausmaß«, urteilte Schröder sehr zufrieden. Auch sei »damit die Gefahr gebannt, dass die engen deutsch-russischen Beziehungen eine Art Exklusiv-Veranstaltung würden. Nun aber sei die fast vollständige Einbindung Russlands in die Institutionen des Westens gelungen, von der NATO bis zur Welthandelsorganisation (WTO). ›Das ist ein Punkt, der historisch von ganz weitreichender Bedeutung ist‹, erklärt Schröder.«7
Deutsche Zeitungen titelten nach dem Gipfel: »Deutschland versteht sich als G8-Brückenbauer«. Nicht nur der Kanzler schrieb sich diese Anerkennung auf seine Fahne. Vielleicht gab es die Männerfreundschaft zuvor schon, vielleicht entstand sie erst dadurch. So what?
Zwei Tage Kananaskis boten mehr als nur eine Prima-Klima-Veranstaltung von Ost und West. Fest vereinbart wurde eine »Globale Partnerschaft gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und -materialien«. Dafür wurde Russland Unterstützung in Höhe von bis zu 20 Milliarden Dollar zugesagt. So viel Geld musste es auch sein. War doch nicht nur die alte Sowjetunion zerfallen. Ihre einst so ruhmreiche Armee befand sich in einem desolaten Zustand. Selbst bis in die Gipfel-Höhen von Kanada hatten sich erschreckende Geschichten über ein angebliches »Atom-Chaos« in Russland herumgesprochen. Und was internationale Medien dazu an Beispielen schilderten, nährte schlimmste Befürchtungen. Da war von einem »Nuklear-Basar Russland« die Rede. »Ein Arbeiter der Atomfabrik in Glasow, einer Industriestadt 1200 Kilometer östlich von Moskau, versteckt 20 Gramm Uran unter seiner Badewanne – so, als handle es sich um gewöhnliches Diebesgut. Zwei Angestellte der Aufarbeitungsanlage in der geheimen sibirischen Atomstadt Tscheljabinsk-65 verkaufen 15 Gramm verstrahltes Platin an den örtlichen Zahnarzt – zur Herstellung von Kronen. Ein Pfleger des Krankenhauses Nummer 1 in Obninsk bei Moskau trägt monatelang einen Behälter mit Plutonium wie ein Amulett auf der Brust – immer auf der Suche nach einem Käufer.«8 Kriminelle Idioten, die keine Ahnung hatten? Aus der Perspektive eines gut genährten und mit schickem Komfort ausgestatteten Westeuropäers sah dies so aus. Aber die Motive für solche lebensgefährlichen Aktionen waren nachvollziehbar und oft kein Geheimnis. »Sie ergeben sich aus der schlechten sozialen Lage von Offizieren und Soldaten, die das waffenfähige Spaltmaterial bewachen. Wer heute als Uniformierter nicht mehr weiß, wie er seine Familie ernähren soll, ist leicht zu verführen, Material nach außen zu schmuggeln.«9 Und verscherbelt es womöglich an Terroristen vom Schlage eines Osama Bin Laden.
Seriöse Analysen bestätigten die beunruhigenden Meldungen. »Im Juli 1993 wurden eine Wache und ein Matrose verhaftet, weil sie 1,8kg HEU (das ist hochangereichertes Uran, der nukleare Brennstoff für die Atom-U-Boote – M.S.) entwendet hatten. Im November 1993 gelang es zwei Marineoffizieren, 4,5kg HEU aus drei Brennstoffstäben abzuzweigen […]. Neben der unzureichenden Sicherheitsüberwachung gibt es auch Ungenauigkeiten bei der Feststellung der Inventarien des Nuklearmaterials. Anfang 1998 gab die russische Behörde für Nuklear- und Strahlungssicherheit, Gostatomnadzor, einen Report heraus, in dem in neun Fällen Abweichungen auftraten zwischen Beständen der nuklearen Eisbrecherflotte und denen der Nordmeerflotte.«10
Die verabredeten 20 Milliarden Dollar seien deshalb »sehr wichtig«, befand Kanzler Schröder und kündigte an, dass damit auch »bei der Beseitigung oder sicheren Lagerung von Nuklearmaterial – alten atomgetriebenen U-Booten sowie Plutonium – und anderen Gefahrstoffen« geholfen werde. »Dieses Geld soll über zehn Jahre aufgewendet werden und direkt in Einzelprojekte fließen. ›Ich glaube, dass die deutsche Wirtschaft da auch im Geschäft sein wird‹, sagt Schröder.«11
Bei dieser Ankündigung, die gewiss besonders bei heimischen Unternehmern jegliches aufkommende Stirnrunzeln wegen einer eventuell zu heftigen Turtelei mit Wladimir Putin von vornherein glätten sollte, blieb es nicht. Im Oktober des darauffolgenden Jahres wurde es konkret. Der deutsche Bundeskanzler und der russische Präsident unterzeichneten in Jekaterinburg am Ural umfangreiche Vereinbarungen für eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Alexander Rahr, Russlandexperte der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, meinte, »dass hier in der Tat eine Spielwiese für deutsche Außenpolitik entstanden ist. Zum Beispiel kann Schröder sehr viel dafür tun, um die Ängste der Osteuropäer gegenüber Russland abzubauen, was er natürlich auch versucht. Aber im Grunde genommen geht es um eine Wirtschaftspartnerschaft mit Russland. Deutschland ist eine Lokomotive für Russland geworden und bringt Russland, aus meiner Sicht, immer näher an Europa heran, wo andere...