Nachdem ich in Kapitel 2.2 die Komponenten des Talentbegriffs geklärt habe, möchte ich im folgenden Kapitel das Talentkonzept vorstellen, welches sich als praxiswirksam erwiesen hat.
Zuerst einmal müssen wir uns die Frage stellen, woran ein Sporttalent überhaupt zu erkennen ist. Auf diese Frage erhalten wir unterschiedliche Antworten. Dies liegt daran, dass es dafür keine klaren Kriterien gibt. Statt dessen stoßen wir auf zufällige Merkmale, „ die sich auf körperbauliche Voraussetzungen, das (vermeintlich) genetische Potential, auf Belastungsverträglichkeit, Trainingsfleiß, hohe juvenile Leistungen, leistungsfreundliche Lebensumwelt u.v.a.m. beziehen“ (Joch 1992, S.59). Dabei ist die Vielfalt der Kriterien sportartcharakteristisch und gleichzeitig an persönliche Erfahrungen gebunden. Nebenbei argumentiert die Wissenschaft mit einer Verknüpfung von Kriterien, die sich auf herausragende Leistungen im Kindesalter beziehen und ohne großen Einsatz verbessert werden.
Bei der Bestimmung von Talent werden die Aspekte „Neigung, besonderes Interesse, Anstrengungsbereitschaft und Förderung durch die Umwelt“ in den Vordergrund gestellt (Joch 1992, S.59), so wie es auch von Michel und Novak (1983) im Sinne von Begabung formuliert ist. Folgende Kennzeichen machen dabei Begabung aus:
Das Kind zeigt schon im Vorschulalter eine auffällige Neigung, bestimmte Aufgaben zu bewältigen.
Das Kind betont die Aufgaben mit einer gewissen lustbetonten Leichtigkeit und zeigt besonderes Interesse und Anstrengungsbereitschaft, noch bessere Leistungen zu erzielen.
Begabung wird in frühen Lebensjahren entwickelt, wobei es vor allem auf die Erziehung und Förderung durch die Umwelt ankommt...“ (Michel & Novak 1983, S.43 f.).
Unter den Theoretikern gibt es also einerseits diejenigen, welche von Talentprognosen Abstand nehmen, aber andererseits auch jene, die sich auf einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad berufen. Das Prinzip der frühen Leistungsauffälligkeit wird z.B. als relativ schwaches Indiz zur Talenterkennung gezählt. Es herrscht somit eine große Prognoseunsicherheit vor, hinzu kommt noch die schon erwähnte Kriterienvielfalt. Diese Tatsache findet sich auch in Ruoff (1980/1) wieder, der die Talentthematik aus sportwissenschaftlicher Sicht „noch weitgehend in den Anfängen“ sieht. (Ruoff 1/1980 , S.36).
Demzufolge sind laut Letzelter (1981) die Funktionäre bzw. die Trainerinnen und Trainer in Verbänden und Vereinen, die sich mit der Praxis der Talentförderung befassen, gefordert und auf eigene Entscheidungen und Erfahrungen angewiesen, da eine „Theorie des sportlichen Talents“ noch nicht entwickelt wurde (Letzelter 1981, S.38). In deren Augen hat derjenige Talent, welcher sich im Wettkampfprozess des Verbandes durch Erfolge bis in die höchste Leistungsklasse durchsetzt.
Auch von Seiten der Wissenschaft existiert eine gewisse Skepsis, prognostische Aussagen anzuerkennen. Ein Vertreter dieser Gruppe ist Wendland (1986), der gegen Voraussagungen bei der Talentauswahl ist: „ Verfahren zur (...) Talentbestimmung- gleich ob statisch oder intuitiv hergeleitet- eignen sich nicht zu einer frühzeitigen Talentauswahl mit niedrigen Selektionsquoten. Entscheidungstheoretische Gesichtspunkte verdeutlichen die Risiken der fälschlichen Ablehnung potentiell erfolgreicher Sportlerinnen und Sportler “ (Wendland 1986, S.133).
Die Tatsache , dass Talenterkennung - zumindest in der Bedeutung einer Talentdefinition - jedoch immer einen prognostischen Aspekt beinhaltet, darf die Talentfrage nicht nur theoretisch als Problem der Wissenschaft gesehen werden, sondern auch unter dem Aspekt praktischer Handlungsabläufe. Somit verbindet die Talentthematik die Wissenschaft mit der Praxis. Sie darf daher nicht als reine „Theorie des sportlichen Talents“ aufgefasst werden, sondern als die Schwierigkeit, die Theorie sinnvoll mit der Praxis zu verknüpfen (Joch 1992, S.61 f.).
Wenn eine Person sich bereits im Kindesalter durch herausragende Leistungen von anderen Kindern deutlich abhebt, so wird sie als Talent gesehen. Dies gilt nicht nur für den Sport, sondern auch für andere Bereiche wie die Musik, der Kunst oder in den Wissenschaftsgebieten, in denen die sogenannten „Wunderkinder“ in frühem Alter mit großartigen Leistungen auffallen. Der russische Schachweltmeister Kasparow ist der Meinung „wer nicht bereits mit 10 Jahren schon sehr gut spielen könne, habe keine Chance, später in die Weltklasse vorzustoßen“ (Joch 1992, S.62). Feige (1973 und 1978) zweifelt jedoch an solchen Leistungsentwicklungen, die schon im frühen Kindesalter vorkommen. Der Ausdruck „frühe Spezialisierung“ im Sinne einer frühen auffälligen Leistungsspezifik im Sport wird in der Talentthematik ablehnend gewertet, obgleich sich die Gesellschaft durch derartige Leistungen von Kindern oft beeindrucken lässt.
In der Wissenschaft gibt es jedoch kritische Erkenntnisse, laut denen sehr wenige Jugendliche den Sprung an die Spitze schaffen, die schon in den Jugendklassen ganz gestanden haben. Daher werden überdurchschnittliche Leistungen im Kindesalter mit Skepsis betrachtet und gleichzeitig als Ursache für den Verlust von Talenten ausgemacht. Somit scheint es, als ob eine ausgesprochen hohe Leistungsauffälligkeit nicht ausreichend ist, um ein Talent zu bestimmen. Demzufolge ist die sportliche Anfangsleistung Gegenstand der Talentthematik. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf die mögliche Endleistung geworfen, wobei die Gewichtung auf dem Gesichtspunkt der Förderung sowie auf dem Veränderungs- und Steigerungsprozess der Anfangsleistung liegt. Dem Veränderungsprozess wird dabei die größte Bedeutung geschenkt. Dem Talentbegriff wird also „eine dynamische Komponente und (sein perspektivischer) Charakter“ zugeschrieben (Joch 1992, S.63).
Der Begriff der Retrospektive wird verwendet, um rückblickend zu erkennen, wer ein Talent ist und wer nicht. Leistungsfähigkeit im Kindesalter ist dabei kein nötiges Merkmal, aber auch kein ausreichendes Merkmal für die Bestimmung eines Talents. Es gibt nämlich zahlreiche Sportlerinnen und Sportler, die eine späte Entwicklung vorweisen und den Sprung an die internationale Spitze noch schaffen. Diese Talenterkennungsstrategie ist schließlich sehr mangelhaft und für die Praxis von relativer Unwichtigkeit.
Wer ein vermeintliches Talent beurteilen möchte, der sollte den Prozess der Entwicklung des Sporttalents nicht außer Acht lassen. Insbesondere die Merkmale der Leistungsauffälligkeit und der Wettbewerbsleistung spielen vielmehr eine statische Rolle. Die Diagnostik eines Talents stützt sich nämlich auf einen Sichtungspunkt und ein daraus resultierendes Ergebnis, das in Form einer Leistungskontrolle oder einer Wettkampfbeobachtung vorliegen kann. Dabei wird jedoch vergessen, dass ein Talent zu einem bestimmten Zeitpunkt seine Fähigkeiten möglicherweise noch nicht vollends ausgeschöpft hat und sich daher noch im Entwicklungsprozess befindet. Bei diesem Prozess spielen motorische, psychische, physische und auch emotionale Elemente zusammen. Betrachtet man Talenterkennung nun aus dieser Perspektive, so steht sie eng in Verbindung mit dem Trainingsprozess. Thiess (1989) formuliert wie folgt:
„ Sportliches Talent und sportliches Training sind untrennbar miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Das sportliche Talent entfaltet sich nur im zielstrebigen und effektiven Training, also in der Tätigkeit. Und umgekehrt: Wer im Verlaufe des Trainings eine für ihn besonders anzustrebende sportliche Leistung(......) erzielen will, muß dafür die erforderlichen Fähigkeiten besitzen und diese ständig durch Tätigkeit entwickeln“ (Thiess 1989, S. 11).
Die Talentdiagnostik findet ihr Ergebnis somit nicht in einem bestimmten Ereignis , sondern verläuft in einer Entwicklung, die zielgerichtet in Form von Training erfolgt. Demnach gehören die Begriffe Talenterkennung und Talentförderung zusammen. Aufgrund dessen kann eine relative Prognoseklarheit erst dann erreicht werden, wenn Talenterkennung in ein langfristiges Konzept der Talentförderung integriert ist.
Wie ich schon in Kapitel 3.1.1.3 dargestellt habe, stehen Talent und Entwicklung in enger Beziehung zueinander. Die Entwicklung junger Talente - sei es motorischer oder psychischer Art - ist noch nicht vollendet. Die Entwicklung ist dabei als Prozess der Veränderung zu sehen, „ der nicht einfach im Sinne linearer Extrapolation von Ist- Zuständen zu begreifen ist“ (Joch 1992, S. 66).
Die Entwicklungspsychologie vertritt eine ähnliche Ansicht. Der Entwicklungsverlauf kann nämlich als ein „ Geflecht von Ursache - Wirkungs - Zusammenhängen“ beschrieben werden (Oerter 1973, S.15).
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