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E-Book

Sprachen

Eine verbale Reise durch Europa

AutorGaston Dorren
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783843715560
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Warum wir sprechen, was wir sprechen Wieso sind die Holländer wahre Könige des Genderbendings? Warum klingt Spanisch wie ein Maschinengewehr? Was haben Sepp und Ferrari gemeinsam? Und weshalb ist Litauen der beste Ort, um den Ursprung der europäischen Sprachen kennenzulernen? Gaston Dorren ist ein multilinguales Genie. In kurzweiligen Kapiteln geht er den Kuriositäten rund um Europas Sprachen auf den Grund und erzählt, was diese jeweils so einzigartig macht. Dabei beschäftigt er sich nicht nur mit ihrer Herkunft, sondern hebt vor allem verblüffende Besonderheiten hervor. Von der Grammatik bis zur Sprechweise, von der Gesellschaft bis zur Politik greift er die verschiedensten Themen auf. Er nimmt den Leser mit auf eine unterhaltsame Reise voller kluger Beobachtungen und zeichnet so ein neues, spannendes Bild der europäischen Nationen.

Gaston Dorren ist Linguist und Journalist. Der gebürtige Holländer beherrscht zahlreiche europäische Sprachen, hat neben dem Verfassen von mehreren Sprachführern eine Reiseapp erfunden und betreibt leidenschaftlich gerne Songwriting - natürlich ebenfalls multilingual.

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Leseprobe

KAPITEL 4


Muttersöhnchen


Französisch


Das moderne Französisch hat eine starke Mutterbindung. Um nicht zu sagen – ach, sprechen wir’s aus: eine ungesunde Mutterfixierung. Dabei sollte man meinen, dass so eine über mehr als tausend Jahre gereifte Sprache längst erwachsen geworden ist. Schließlich hat sie mit anderen Sprachen zusammengewohnt, die Welt bereist und Triumphe gefeiert. Aber nein, man sehe und staune: Franze hängt noch immer am Rockzipfel seiner lateinischen Mutter.

Keine andere Sprache leidet in solchem Maße an diesem Komplex. Russisch, Polnisch, Bulgarisch: Auch sie wissen genau über ihre Herkunft Bescheid. Sie sind Kinder der slawischen Mutter – hу и что? (›Na und?‹) Auch Deutsch, Niederländisch, Englisch: Es lässt sie kalt, wie in ihrem germanischen Elternhaus der Umgangston war. Nur Isländisch hält ebenso zwanghaft an der Vergangenheit fest; aber die Isländer sind wenigstens konsequent, denn sie sprechen mehr oder weniger noch so wie ihre Vorfahren.

Was man von den Franzosen nicht behaupten kann. Ihre Sprache mag ein Kind des Lateinischen sein, aber ein gutes Gespräch mit Julius Cäsar wäre für sie nicht mehr drin. In den anderen romanischen Sprachen, Italienisch, Spanisch usw., wäre das mit viel gutem Willen vielleicht noch möglich, nicht jedoch auf Französisch. Oje! So eine starke Mutterbindung, und dann noch nicht einmal von Mama Latein verstanden werden.

Es war selbiger Cäsar, der den ersten französischen Samen säte. Im ersten Jahrhundert v. Chr. besetzte er mit seinen Legionen Gallien (wie Frankreich damals hieß). Er kam, sprach und siegte: Als die Römer fünfhundert Jahre später wieder abzogen, sprach die Bevölkerung Latein. Das heißt, das Latein der Soldaten und Kaufleute, das auch noch vom Gallischen beeinflusst wurde, der keltischen Sprache, die die Gallier vorher gesprochen hatten. Die Art von Latein, die einen seriösen Althistoriker (wie Gert, Vater meiner Freundin und Kollegin Jenny, der Verfasserin mehrerer Kapitel dieses Buchs) oder einen seriösen Feldherrn (wie Julius Cäsar) nicht glücklich machen würde. Und doch: ein erkennbares, verständliches Latein. Der Keim des Französischen war gelegt.

So wie das Latein von Gert und Julius innerhalb von fünf Jahrhunderten das Keltische vollständig verdrängt hatte, so musste es in den darauffolgenden fünf Jahrhunderten im nördlichen Gallien gegen Germanisch ankämpfen. Genauer gesagt: gegen die Sprache der Franken, der neuen Herrscher. Bekannte mittelalterliche Könige wie Chlodwig, Pippin der Jüngere und Karl der Große beherrschten zwei Sprachen: Ihre Muttersprache war Fränkisch, also eine germanische Sprache, und im klassischen Latein nahmen sie Unterricht. So tat das jeder, der gesellschaftlich oder intellektuell etwas auf sich hielt. Nur das gemeine Volk sprach weiterhin, was es bisher auch gesprochen hatte: schlechtes Latein. So schlecht, dass diese Volkssprache inzwischen sogar lingua romana rustica und vulgaris lingua, rustikales und vulgäres Latein, genannt wurde. Gert und Julius würden erschaudern, wenn sie sich anhören müssten, wie die schöne Sprache verhunzt wurde, die Letzterer einst eingeführt hatte. Auch von den ehemals sechs lateinischen Fällen waren nur noch zwei übrig, sächliche Wörter wurden männlich, verschiedene Verbzeiten wurden unkenntlich gemacht, und zu den dutzenden keltischen Wörtern, die sich bereits eingeschlichen hatten (charrue: ›Pflug‹, mouton: ›Schaf‹), gesellten sich nun noch hunderte fränkische Wörter (auberge: ›Herberge‹, blanc: ›weiß‹, choisir: ›wählen‹).

Wenn ein ganzes Volk eine andere Sprache spricht als seine Herrscher, gibt irgendwann eine der beiden Parteien nach. In diesem Fall waren es die Herrscher: Hugo Capet, Frankenkönig im 10. Jahrhundert, war der erste, der neben seinem in der Schule erworbenen Latein nicht Fränkisch sprach, sondern Volkslatein. So fand die bäuerliche Sprache schließlich ihren Weg in die Häuser der Royals. Die lingua romana rustica war zur lingua romana geworden, oder auch: Romanisch. Wir kennen es heute als Altfranzösisch, aber die Bezeichnung ›Französisch‹ (franceis, françoix, français) kam erst Jahrhunderte später in Mode.

Unser Lateinexperte hat sich bis dahin längst verabschiedet. Ein Französischlehrer aber (wie Charles, mein Vater) beginnt langsam seine geliebte Sprache wiederzuerkennen. Franze ist geboren.

Die Bezeichnung ›Französisch‹ wird allerdings erst zwei Jahrhunderte später Verwendung finden, als die Sprache bereits heftig pubertiert. Brüderchen Fränkisch ist vor die Tür gesetzt worden, und Mutter Latein interessiert Franze nicht – zu diesem Zeitpunkt ist noch keine starke Mutterbindung zu spüren. Jeder in Nordgallien spricht und schreibt franceis so, wie es ihm gefällt.

Und dann bricht die Renaissance aus. Ganz Westeuropa gerät im 15. Jahrhundert in den Bann des klassischen Altertums, alle westeuropäischen Sprachen sind von den Römern und ihrer Sprache besessen. Französisch geht dabei weiter als alle anderen. Es will wie seine Mutter sein, so sehr es eben geht. Wörter nichtlateinischen Ursprungs, vor allem germanische, sind verpönt. Sur (›sauer‹) wird nach und nach vom römischen acide verdrängt. Beaucoup überholt das germanische maint (›mancher‹, ›viel‹).

Schamlos lässt sich das erwachsene Französisch auf einmal wieder von seiner lateinischen Mutter säugen. Längst vergessene Wörter werden klassischen lateinischen Texten entnommen und bekommen neues Leben eingehaucht. Die Wörter célèbre, génie und patriotique mögen ›typisch französisch‹ scheinen, tatsächlich aber wurden sie erst in diesem späteren Entwicklungsstadium direkt aus dem Lateinischen importiert. Cäsar könnte einen heutigen Pariser vielleicht sogar etwas besser verstehen als einen aus dem 10. Jahrhundert.

Französisch geht so weit, dass es Wörter erneut übernimmt. Das lateinische fragilis (›zerbrechlich‹), das übers Volkslateinische zu frêle reduziert worden war, wird nun als fragile noch einmal wiedergeboren. Masticare (›kauen‹, aus dem Griechischen entlehnt), in rustikalen fränkischen Mündern zu macher gekäut, darf als mastiquer noch einmal Einzug halten.

Wer seiner eigenen Mutter ähneln will, muss nicht nur wie sie klingen, sondern auch aussehen wie sie: ihre Kleider tragen, ihren Lippenstift benutzen, das ganze Programm. Zu diesem Ziel schmückt Französisch sich mit zahlreichen stummen Konsonanten, allesamt Erbstücke der lateinischen Mutter. Tausende Exemplare der Buchstaben c, d, f, l, p, r, s, t, x und z finden sich von jetzt an auf Papier wieder, ohne jemals ausgesprochen zu werden. Ein Beispiel: Temps (›Zeit‹, ›Wetter‹) klingt wie ›tã‹ (nasal ausgesprochen, daher die Tilde). Tant (›so viel‹) hört sich genauso an. Aber das eine Wort kommt vom lateinischen tempus, das andere von tantus, daher die zwei Schreibungen. Ein anderes Beispiel: Das Wort homme (›Mann‹, ›Mensch‹) fängt mit h an, was Franzosen bekanntlich nicht immer mühelos aussprechen können. Der Grund dafür ist, dass das lateinische Wort, von dem es abgeleitet ist, homo, ebenfalls mit h beginnt.

Ein geringer Teil dieser stummen Konsonanten wird hörbar, wenn ein Vokal folgt. So klingt prenez (›nehmen Sie‹) wie ›prneh‹, aber prenez-en (›nehmen Sie davon‹) wie ›prnehsã‹. Und im Wörtchen les ist das s normalerweise stumm, in les amis (›die Freunde‹) aber hörbar: ›lesamih‹. Wieder scheint hier das Lateinische durch: Les ist die Fortführung der lateinischen Demonstrativpronomina illos/illas (›jene‹), und das meist stumme Plural-s ist die Fortführung des (ausgesprochenen) Endungs-s dieser lateinischen Wörter.

Die Aussprache ändert sich in dem Moment, wo die Franzosen ihre Sonntagssprache auspacken. Dann sind plötzlich viel mehr dieser unterdrückten Konsonanten zu hören. Dann erscheint in tu as attendu (du hast gewartet) auf einmal auch das stimmhafte s (tüasatãdü). Im normalen Alltag würde ihnen das nicht einfallen, aber es klingt einfach so unwiderstehlich vornehm. Wahrscheinlich, weil es so schwierig ist. Der Redner muss nämlich blitzschnell entscheiden, wo er einen Konsonanten einfügen kann und wo nicht. Er muss seine Worte buchstabiert vor sich sehen, bevor er sie ausspricht. Eigentlich zwingt Franze seine Sprecher also dazu, sich das Bild der lateinischen Mutter ständig vor Augen zu führen. Schließlich hat er sich selbst nach ihrem Vorbild modelliert und in ihre Schreibweise gehüllt.

Wenn das mal keine ungesunde Mutterfixierung ist.

Französisch ist einer der wichtigsten Lehnwort-Spender des Deutschen. Es gibt hunderte, vielleicht tausende, französischstämmige Wörter, von den alltäglichen Beispielen Onkel, doppelt und Orange bis hin zu den schickeren Ouvertüre, Parade und Defätismus.

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