Selektiver Mutismus ist ein dauerhaftes Schweigen in bestimmten Situationen, die dem Kind fremd sind, z.B. im Kindergarten, in der Schule und gegenüber bestimmten Personen. Dies betrifft meistens alle Personen, die nicht zum engsten Familienkreis gehören. Das Kind verfügt jedoch über die Fähigkeit mit einigen vertrauten Personen in einem vertrauten Umfeld zu sprechen (Bahr, 2012, S. 14).
F94.0 Elektiver Mutismus
„Dieser ist durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens charakterisiert, so dass das Kind in einigen Situationen spricht, in anderen definierbaren Situationen jedoch nicht. Diese Störung ist üblicherweise mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Sozialangst, Rückzug, Empfindsamkeit oder Widerstand verbunden.
Dazugehöriger Begriff: selektiver Mutismus
Differentialdiagnose:
Passagerer Mutismus als Teil einer Störung mit Trennungsangst bei jungen Kindern (F93.0)
Schizophrenie (F20.-)
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84.-)
Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (F80.-)“ (DIMDI, 2014)
In der Literatur (bis ca. 2009) findet man teilweise noch eine ältere, etwas ausführlichere Definition des ICD-10 zum elektiven Mutismus. Dort fand man noch die Sätze: „Meistens tritt die Störung erstmals in der frühen Kindheit auf.“ und „Typischerweise spricht das Kind zu Hause oder mit engen Freunden, ist jedoch in der Schule oder bei Fremden mutistisch.“ (Katz-Bernstein, 2005, S. 22 f.; Melfsen & Warnke, 2009, S. 556).
Im ICD-10 ist der selektive Mutismus den Störungen der sozialen Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend zugeordnet. Allerdings findet man in der aktuellen Literatur zu Störungsbildern in der Kindheit den Selektiven Mutismus in der Gruppe der Sozialen Phobien und der Angststörungen. Jedoch ist diese Zuordnung, aufgrund der aktuellen internationalen Forschungen zum Selektiven Mutismus, noch nicht gesichert. Auch in den „Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie“ wurden 2012 alle Angaben zum Selektiven Mutismus neu überarbeitet (Katz-Bernstein & Wyler-Sidler, 2012, S. 16 f.). Melfsen und Warnke (2009) vertreten die Ansicht, dass die Klassifizierung des Selektiven Mutismus als Soziale Phobie nicht richtig ist. Im Unterschied zum Selektiven Mutismus ist der Störungsbeginn der Sozialen Phobie wesentlich später (9-11 Jahre). Bei Kindern mit einer Sozialen Phobie können auch vertraute Personen von der Sprechblockade betroffen sein und im Gegensatz zur Sozialen Phobie wird der Selektive Mutismus häufig spontan überwunden. Die Soziale Phobie scheint eher eine häufig auftretende komorbide Störung des Selektiven Mutismus zu sein (Melfsen & Warnke, 2009, S. 562).
DSM-V selektiver Mutismus
„A. Andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, in denen das Sprechen erwartet wird (z.B. in der Schule), wobei in anderen Situationen normale Sprechfähigkeit besteht.
B. Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation.
C. Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach Schulbeginn beschränkt).
D. Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt, die in der sozialen Situation benötigt werden, oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohl fühlt.
E. Die Störung kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung (z.B. Stottern) erklärt werden und tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf.“ (DSM-V, 2013, S. 195)
Die Diagnosekriterien des DSM-V sind ausführlicher als die des ICD-10. Der Aspekt der Einschränkungen der beruflichen und schulischen Leistungen wird eingebunden. Außerdem ist es festgelegt, dass die Störung mindestens einen Monat lang anhalten sollte. Damit kann man ausschließen, dass das Kind vorübergehend, lediglich in der Eingewöhnungsphase, nicht spricht (Katz-Bernstein, 2005, S. 62; DSM-V, 2013, S. 195 ff.).
Bei Begegnungen mit anderen Personen in sozialen Interaktionen fangen Kinder mit Selektivem Mutismus das Gespräch nicht an oder sie antworten nicht, wenn sie von anderen angesprochen werden. Sprechmängel treten in sozialen Interaktionen mit Kindern und Erwachsenen auf. Kinder mit Selektivem Mutismus sprechen in ihrem Zuhause in der Gegenwart von engen Familienangehörigen, aber häufig nicht vor engen Freunden oder Verwandten zweiten Grades, wie z. B. Großeltern oder Cousins. Diese Störung ist oft gekennzeichnet durch eine hohe soziale Angst. Kinder mit Selektivem Mutismus lehnen es häufig ab in der Schule zu sprechen. Dies ist auf schulische oder pädagogische Beeinträchtigungen (z. B. finden es Lehrer häufig schwierig Fähigkeiten, wie beispielsweise das Lesen zu bewerten) zurückzuführen. Die Sprechmängel können die soziale Kommunikation beeinträchtigen, obwohl Kinder mit dieser Störung manchmal nonverbale Mittel benutzen (z. B. Grunzen, Aufzeigen, Schreiben), um zu kommunizieren. Vielleicht sind sie bereit oder wollen sogar unbedingt in sozialen Begegnungen, in denen Sprechen nicht nötig ist (z. B. nonverbale Rollen in Schulaufführungen), auftreten oder sich beteiligen (DSM-V, 2013, S. 195).
Nach dem DSM-V (2013) sind folgende Merkmale und Störungen zum Selektiven Mutismus zugehörig: übermäßige Schüchternheit, soziale Isolierung und sozialer Rückzug, Angst vor Befangenheit in sozialen Situationen, Anhänglichkeit, Negativismus, zwanghafte Verhaltensweisen, Wutanfälle oder kontrollierende und oppositionelle Verhaltensweisen. Obwohl Kinder mit dieser Störung im Allgemeinen normale Sprechfähigkeiten haben, kann jedoch gelegentlich auch eine begleitende Kommunikationsstörung auftreten, wenngleich keine besondere Verbindung mit einer spezifischen Kommunikationsstörung identifiziert wurde. Selbst wenn diese Störungen vorhanden sind, bestehen ebenfalls Ängste. Im klinischen Rahmen erhalten Kinder mit Selektivem Mutismus fast immer die Diagnose einer weiteren Angststörung, am häufigsten eine soziale Angststörung (Soziale Phobie; (DSM-V, 2013, S. 196)).
Im DSM-V (2013) wird auch auf kulturelle Merkmale, die für die Diagnose relevant sind, eingegangen. Kinder aus Familien, die in ein Land immigriert sind, in dem eine andere Sprache gesprochen wird, können sich aufgrund der mangelhaften Sprachkenntnisse weigern, die neue Sprache zu sprechen. Besteht die Ablehnung zu sprechen weiterhin, obwohl die Verständigung in der neuen Sprache adäquat ist, kann eine Diagnose zu einem Selektiven Mutismus gerechtfertigt sein (DSM-V, 2013, S. 196).
Das Ausschlusskriterium, dass das Kind nicht spricht, weil es sich in der Sprache nicht wohl fühlt, ist für die weitere Ausarbeitung sehr interessant (DSM-V, 2013, S. 195 ff.). Denn es kommt bei zweisprachigen Kindern häufig vor, dass sie sich in einer der Sprachen aus verschiedenen Gründen nicht wohl fühlen. Mehrsprachigkeit kann ein Risikofaktor für die Entstehung eines Selektiven Mutismus sein (Katz-Bernstein, 2005, S. 63 f.). Hierauf wird unter dem Punkt 6.2.3. genauer eingegangen.
Im DSM-V (2013) werden folgende Diagnosen vom Selektiven Mutismus differenziert:
Kommunikationsstörungen
Der Selektive Mutismus sollte von Sprachstörungen unterschieden werden, die besser durch eine Kommunikationsstörung erklärt werden können, wie z. B. die Expressive Sprachstörung, Phonologische Störung, Kombinierte Rezeptive-Expressive Sprachstörung oder Stottern. Im Unterschied zum Selektiven Mutismus ist die Sprachstörung nicht auf eine spezifische Situation beschränkt (DSM-V, 2013, S. 197).
Entwicklungsstörungen und Schizophrenie und andere Psychotische Störungen
Personen mit autistischen Störungen, einer schweren Geistigen Behinderung, Schizophrenie oder anderen Psychotischen Störungen können Probleme in der sozialen Kommunikation haben und unfähig sein in sozialen Situationen angemessen zu sprechen. Dagegen sollte der Selektive Mutismus nur diagnostiziert werden, wenn das Kind die Sprechfähigkeit in einigen sozialen Situationen (z. B. üblicherweise zu Hause) schon erreicht hat (ebenda).
Soziale Angststörung (Soziale Phobie)
Mit der sozialen Angst und dem sozialen Vermeidungsverhalten bei der Sozialen Phobie kann ein Selektiver Mutismus einhergehen. In diesen Fällen sollten beide Diagnosen gestellt werden (ebenda).
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