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E-Book

Stadt des Flaneurs

Walter Benjamin

AutorWalter Benjamin
VerlagBeBra Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783839301302
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Der Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin (1892-1940) war ein Kosmopolit und zugleich mit Leib und Seele Berliner. Sein Blick auf Berlin ist der des Flaneurs: Unerkannt in der Masse geht er durch die Straßen und nimmt das Wesen der Stadt in sich auf - beobachtend, durchdringend und mitunter bewundernd. Benjamins Texte entwerfen ein faszinierendes Panorama Berlins um 1900. Mit zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen.

Walter Benjamin, geboren 1892 in Berlin-Charlottenburg, studierte Philosophie, Literatur und Psychologie u.a. in Freiburg, München und Bern. 1925 kehrte er zurück nach Berlin und machte sich einen Namen als Publizist und Literaturkritiker. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft musste er 1933 nach Frankreich emigrieren, wo er sich im September 1940 durch Selbstmord einer bevorstehenden Deportation nach Deutschland entzog.

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Leseprobe

Berliner Dialekt


Also ich will heute mit euch über die Berliner Schnauze sprechen; die sogenannte große Schnauze ist doch das erste, was allen einfällt, wenn man vom Berliner redet. Der Berliner, sagen die Leute in Deutschland, na ja, das ist eben der Mann, bei dem alles zu Hause anders und besser und schlauer gemacht wird wie bei uns. Wenn man’s ihm nämlich glaubt. Deswegen haben sie auch den Berliner nicht gern, wenigstens tun sie so. In Wirklichkeit ist es doch sehr schön, wenn man eine Hauptstadt hat, auf die man ein bißchen schimpfen kann.

Aber stimmt das nun überhaupt mit der Berliner Schnauze? Es stimmt und stimmt auch nicht. Jeder von euch kennt natürlich eine Menge Geschichten, wo diese Schnauze so weit aufgerissen wird, daß das Brandenburger Tor darin Platz hätte. Und nachher erzähle ich euch noch ein paar, die ihr vielleicht sogar nicht kennt. Aber wenn man’s sich dann näher überlegt, stimmt doch auch manches mit der großen Schnauze wieder nicht. Zum Beispiel, ganz einfach: andere Stämme und Landschaften machen viel Wesens von ihrer besonderen Sprache; Dialekt, so nennt man doch die Sprache, die in den einzelnen Städten oder Gegenden gesprochen wird. Also sie machen viel Wesens davon und sind stolz darauf und lieben ihre Dichter, die wie Reuter Mecklenburger Platt, wie Hebel Alemannisch, wie Gotthelf Schweizerdeutsch geschrieben haben. Und damit haben sie auch recht. Die Berliner sind aber, grade was ihr Berlinern angeht, immer sehr bescheiden gewesen. Sie haben sich eigentlich mehr wegen ihrer Sprache geschämt, wenigstens vor den feinen Leuten und vor den Fremden. Unter sich haben sie natürlich desto mehr Spaß dran gehabt. Sie haben sich auch über das Berlinern lustig gemacht, genauso wie über alles andere. Davon gibt es viele hübsche Geschichten, zum Beispiel: sitzt da ein Mann mit seiner Frau bei Tisch und sagt: »Wat, heute jibts schon wieder Bohnen, ick eßte sie doch erst jestern.« Da verbessert ihn aber seine Frau und sagt: »Man sacht nich, ick eßte, man sacht ick aß«, und da antwortet ihr der Mann: »Det mußt du vielleicht von dir sagen, ick brauch det von mir nich zu sagen.« Oder die bekannte Geschichte von dem Vater, der mit dem Sohn auf der Landpartie ist: »Wie heeßt der Schmetterling, Vater«, da sagt der Vater: »Heeßen heeßt et nich, heißen heeßt et.«

 

Kinder auf der Knobelsdorff-Brücke, um 1900.

Und man mußte den Berlinern erst Mut machen, zu ihrer Sprache sich auch nach außen zu bekennen. Früher hatten sie das eigentlich nicht nötig. Vor hundert Jahren gab es schon Schriftsteller, die haben Berliner Typen aufgestellt, die dann in ganz Deutschland berühmt wurden. Die bekanntesten davon sind: der Schusterjunge, das Marktweib, der Budiker, der Straßenhändler, vor allem der berühmte Eckensteher Nante. Und dann habt ihr vielleicht einmal, wenn ihr alte Jahrgänge von einem Witzblatt in der Hand gehabt habt, die beiden berühmten Berliner gesehen, von denen der eine ganz dick ist und klein und der andere ganz lang und schmal; die redeten über Politik, und mal hießen sie Kielmeier und Strobelweber und Plümecke und Bohnhammel, mal Meck und Scherbel und zum Schluß einfach Müller und Schulze; und sie haben die schönsten berlinischen Sachen zusammengequatscht. Jede Woche stand etwas Neues davon in der Zeitung. Dann kam aber 1870 und die Reichsgründung, und die Berliner wollten auf einmal sehr hoch hinaus und sehr vornehm werden. Da mußten ihnen erst ein paar große Männer, vor denen sie ja immer Respekt haben, die Courage zu ihrem eigenen Dialekt wiedergeben. Zwei von denen sind komischerweise Maler und keine Dichter. Und es gibt eine Menge wunderschöne Geschichten von ihnen. Der eine, den kennen die meisten von euch aber nicht, ist der berühmte alte Max Liebermann, der noch lebt und wegen seiner schrecklichen Schnauze gefürchtet ist. Dem hat es nun aber einmal ein anderer Maler, Bondi heißt er, vor ein paar Jahren mächtig gegeben. Da saßen die beiden im Café einander gegenüber und unterhielten sich nett, und auf einmal sagt Liebermann zu dem Bondi: »Wissense Bondi, Sie sind ja ’n janz netter Kerl, wenn Se bloß nich so eklije Hände hätten.« Der Bondi sieht den Professor Liebermann an und sagt: »Herr Professor, da habense ja recht, aber sehnse, die Hände, die kann ick denn eben in meine Tasche stecken, aber wie machen Sie det mit Ihrn Kopp?« Und der andere große Berliner, von dem kennen viele von euch den Namen, der ist vor kurzem gestorben und heißt Heinrich Zille. Wenn der eine besonders schöne Geschichte hörte oder beobachtete, dann ließ er sie nicht einfach so dummweg drucken, sondern zeichnete ein famoses Bild dazu. Und diese Geschichten mit den Bildern hat man jetzt nach seinem Tode gesammelt, ihr könnt sie euch schenken lassen, und viele werdet ihr auch schon kennen. Oder kennt ihr etwa die nicht: ein Vater sitzt mit seinen drei Jungs bei Tisch. Es gibt Nudelsuppe. Da sagt der eine: »Oskar, seh mal, wie Vater die Nudeln um die Schnauze bammeln!« Da sagt der Älteste, der heißt Albert: »Justav, wie kannste denn zu Vater seine Fresse Schnauze sagen!« »Na«, sagt Gustav, »wennt sich der Ochse jefallen läßt!« Nun wird es aber dem Vater zu bunt, er springt auf und sucht nach dem Rohrstock. Und die drei Jungens, Gustav, Albert und Oskar, kriechen unter die Bettstelle. Der Vater versucht, sie herauszukriegen, aber das glückt ihm nicht, und schließlich sagt er zu dem Jüngsten: »Du komm man vor, Oskar, du hast ja nischt jesagt, dir tu ick ja nischt.« Da hört man die Stimme von Oskar unterm Bett: »Dir Aas kenn ick!« Nachher erzähl ich euch noch ein paar Geschichten von frechen Jöhren.

Aber ihr müßt nicht etwa denken, das Berlinische wäre eine Witzesammlung. Es ist eben eine ganz richtige und wundervolle Sprache. Man hat sogar eine richtige Grammatik dieser Sprache geschrieben. Hans Meyer, Direktor der alten Berliner Schule vom Grauen Kloster, hat sie verfaßt, und sie heißt »Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten«. Man kann auf Berlinisch so fein, so witzig, so zart, so klug sprechen wie nur in irgendeiner Sprache sonst. Nur muß man natürlich wissen, wo und wann. Das Berlinische ist eine Sprache, die aus der Arbeit kommt. Sie entsteht nicht bei dem Schriftsteller und bei dem Gelehrten sondern in der Mannschaftsstube und am Skattisch, auf dem Omnibus und im Leihhaus, im Sportpalast und in der Fabrik. Das Berlinisch ist eine Sprache von Leuten, die keine Zeit haben, die sich oft mit einer ganz kurzen Andeutung, einem Blick, einem halben Wort verständigen müssen. Das können nicht Leute, die sich gelegentlich dann und wann in Gesellschaft treffen, sondern nur welche, die sich regelmäßig, tagtäglich, unter ganz bestimmten unveränderten Bedingungen sehen. Unter solchen Leuten entstehen immer besondere Sprachen, und ihr selber habt in der Klasse das beste Beispiel dafür. Es gibt ja eine besondere Schülersprache. So gibt es auch besondere Ausdrücke unter den Arbeitern, unter den Sportsleuten, unter den Soldaten, unter den Dieben usw. usw. Und alle diese Sprachen steuern zum Berlinischen etwas bei, weil eben in Berlin all diese Menschen in den verschiedensten Berufen und Verhältnissen in großen Massen und in einem ungeheuren Tempo zusammenleben. Das Berlinische ist heute einer der schönsten und genauesten Ausdrücke von diesem rasenden Lebenstempo. – Natürlich ist es das nicht immer gewesen. Jetzt lese ich euch eine Berliner Geschichte aus einer Zeit vor, wo Berlin noch nicht die Vier-Millionen-Stadt war, sondern eine Stadt von ein paar hunderttausend Einwohnern.

»Bürstenbinder (trägt seine Bürsten und Besen, ist aber so betrunken, daß er seine Handelsartikel vergessen hat):Neunoogen! Neunoogen! Immer ran, wer Jeld hat!

Erster Schusterjunge: Hör’n Se, Herr Schrubber, wer von die Neunoogen en Paar ißt, der bekehrt sich. ( Er verläßt den Betrunkenen und schreit, indem er auf der Straße hin und her rennt:) Herrjees, nanu is et noch hübscher! Keen Mensch darf nich mehr aus’t Fenster roochen!

Mehrere Leute: Wat meenst du’n damit? Ist des wahr? Darf man nich mehr aus’t Fenster roochen? Det wär’ denn doch zu arch?

Erster Schusterjunge (fortrennend): Nee! Man muß aus de Pfeife rochen!– Etsch, etsch!

Eckensteher Brisich (vor dem Museum): Det Haus freut mir, det Haus macht mir Spaß.

Eckensteher Lange: Wie so macht dir det Haus Spaß? –

Brisich (ein wenig torkelnd): Wie so es mir Spaß macht? Na, wegen die Adlersch da oben druf!

Lange: Na, wie so machen dir denn die Adlersch Spaß? –

Brisich: Weil des königliche Adlersch sind und doch Ecke stehen müssen! Denk’ dir, wenn ick son’n königlicher Adler wäre un da oben uf’t Museum Ecke stehen müßte als Verzierung! Det wüßt’ ick woll: wenn mir durschterte, verziert’ ick ’ne Weile nich, sondern zöge meine Pulle raus, jenösse Eenen, und schrie runter uf de Leute: ›Nehmen Se det jefälligst des Museum nich übel! Ein königlicher Adler erholt sich!‹«

Alle Sprachen ändern sich schnell, aber die Sprache einer Großstadt ändert sich noch viel schneller als die Sprache in ländlichen Gegenden. Nun hört euch einmal im Vergleich zu dieser kleinen Geschichte die Sprache eines Ausrufers von heute an. Der Mann, der sie aufgeschrieben hat, heißt Döblin und hat euch an einem der letzten Sonnabende von Berlin erzählt. Natürlich wird er sie nicht genau so gehört haben,...

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