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E-Book

Standardsituationen der Technologiekritik

Merkur-Kolumnen

AutorKathrin Passig
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl103 Seiten
ISBN9783518731420
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Auto, PC, Internet - wenn die Menschheit mit technologischen Neuerungen konfrontiert ist, zeigt sie immer dieselben Reflexe: »Wer braucht das?«, »Ist das nicht viel zu teuer?«, »Verdirbt das nicht das Denken?« Erkenntnisfördernd sind solche Standardreaktionen nicht unbedingt, und daher wirft Kathrin Passig in sechs ursprünglich für den »Merkur« verfassten Essays einen genaueren Blick auf Phänomene, die oft als Anzeichen für den bevorstehenden Untergang des Abendlands betrachtet werden: auf E-Books, Internetforen und den Datenexhibitionismus der »Quantified Self«-Bewegung.

<p>Kathrin Passig, geboren 1970, ist Journalistin und Schriftstellerin. 2006 wurde sie mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Zuletzt ver&ouml;ffentlichte sie gemeinsam mit Sascha Lobo das Buch Internet &ndash; <em>Segen oder Fluch</em>.</p>

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Leseprobe

Abschied vom Besten

»Das meiste, was auf Twitter kursiert, ist belangloses Geschnatter von zweifelhaftem Erkenntniswert«, konstatierte ein Spiegel-Online-Journalist 2009 im Gespräch mit Twitter-Gründer Evan Williams. Dass das richtig, aber nicht weiter erkenntnisbefördernd ist, hatte der Science-Fiction-Autor Theodore Sturgeon schon 1958 erkannt: »Neunzig Prozent von allem ist Mist«, lautet das nach ihm benannte »Sturgeon’s Law«. Hier aber geht das Argument zweifach ins Leere, denn über die Qualität von Twitter lässt sich so wenig Allgemeingültiges aussagen wie über den Inhalt von Bücherregalen. Twitter existiert in so vielen Varianten, wie es Nutzer hat, eine gemeinsame Basis gibt es nicht. Wer bei Twitter belangloses Geschnatter liest, der hat es sich so ausgesucht.

Twitter wird im Folgenden noch öfter als Beispiel herhalten müssen, weil es wegen seines geringen Funktionsumfangs ein Mikrolabor darstellt, in dem man verschiedene Phänomene in Reinkultur beobachten kann. Kaum ein Onlineangebot ist so konsequent und vollständig den persönlichen Interessen angepasst. Dass eine der Methoden, die verwirrende Fülle des Internets in den Griff zu bekommen, das individuelle Ausblenden von Störfaktoren ist, zeichnet sich schon seit einigen Jahren ab. Seit Dezember 2009 erhält jeder Nutzer der Google-Suche Suchergebnisse auf der Basis seiner vergangenen Suchanfragen und – unter bestimmten Voraussetzungen – seiner besuchten Seiten. Es gibt keine »normalen« Google-Ergebnisse mehr, und wer seine eigene Firmenwebsite auf Platz eins der Suche vorfindet, kann nicht länger davon ausgehen, dass das auch für andere so ist. In naher Zukunft wird »das« Internet noch weniger existieren, als das jetzt schon der Fall ist. Was bei Google automatisch passiert, wird bei Twitter von Hand justiert, aber das Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe: Der Nutzer bekommt das zu sehen, was er sehen will, der Rest bleibt ihm erspart.

Weil diese manuelle Justierung selten so einfach wie bei Twitter ist, kommen in der Regel automatisierte Lösungen zum Einsatz. Die ersten solchen Techniken zum Herausfiltern der für einen bestimmten Nutzer interessanten Elemente tauchen im Internet ab den frühen neunziger Jahren auf. Es gibt diverse Möglichkeiten, passende Empfehlungen zu liefern. Google wertet das bisher beobachtete Nutzerverhalten aus und generiert daraus Vorhersagen. Beim »kollaborativen Filtern« versucht man, Nutzer mit ähnlichen Interessen zu identifizieren: Wenn jemand neun Bücher, Filme oder Bands gut bewertet hat, macht das Empfehlungssystem andere Nutzer mit denselben neun Vorlieben ausfindig und versucht, eine zehnte Gemeinsamkeit zu bestimmen. Dieser zehnte Titel wird dem zu beratenden Kunden wahrscheinlich auch zusagen.

Kollaborative Filterung steckt hinter dem lernenden Internetradio last.fm, den »Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch«-Empfehlungen bei Amazon und dem deutschsprachigen Filmempfehlungsdienst moviepilot.de. Zum Teil müssen die Nutzer dabei aktiv Bewertungen abgeben, wie ihnen etwa ein bestimmter Film gefallen hat, zum Teil lassen sich die zugrunde liegenden Daten direkt aus dem Verhalten der Nutzer – bei last.fm etwa aus ihren Musikhörgewohnheiten – auslesen. Eine dritte Möglichkeit ist der Vergleich von Produktähnlichkeiten, wie ihn das Onlineradio Pandora oder der Filmempfehlungsdienst jinni.com betreiben. Bei Pandora analysieren Mitarbeiter Musikstücke und klassifizieren sie im Rahmen des »Music Genome Project« von Hand, bei jinni.com geschieht dasselbe automatisch anhand von Rezensionen. Den so zugewiesenen Attributen lassen sich dann wiederum Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Stücken entnehmen. Die Zuverlässigkeit der Empfehlungen steigt, wenn mehrere Verfahren kombiniert werden.

Hinzu kommt ein anschwellender Strom von Empfehlungen aus dem privaten Umfeld, die in letzter Zeit hauptsächlich über soziale Netzwerke wie Facebook verbreitet werden. Es ist vor allem dieses Phänomen, das zu der derzeit populären Vorhersage geführt hat, dass Empfehlungen mittelfristig die Suche als zentrales Mittel zur Durchforstung der Welt und Bändigung der Informationsflut ablösen werden. Allerdings bringt diese Variante ein Problem mit sich, dem sich bislang wenige Anbieter stellen: Die Tatsache, dass zwei Menschen befreundet sind, sagt wenig über die Übereinstimmung ihrer Interessen aus. Aus gutem Grund unterscheidet das Onlineradio last.fm zwischen »Freunden« und »Nachbarn« – die Freunde dienen dem Sozialleben, die Nachbarn der Erzeugung von Musikempfehlungen. Bei Facebook hingegen geht man davon aus, dass jeder dieselben Links interessant findet wie die Menschen, mit denen er befreundet ist.

Reed Hastings, Gründer und CEO des Online-DVD-Verleihs Netflix, gibt in einer New-York-Times-Reportage aus dem Jahr 2008 zu Protokoll, dass Netflix zwar nicht wenige demografische Daten seiner Nutzer erhebt, aber – so zumindest der Stand 2008 – beim Erzeugen von Empfehlungen kaum von ihnen Gebrauch macht. Was der Anbieter über die Filmvorlieben seiner Kunden hinaus von ihnen weiß, erweist sich, so Hastings, als wenig nützlich bei der Vorhersage ihrer Ansichten über Filme. Und obwohl die Netflix-Nutzer die Filmempfehlungen ihrer Freunde angezeigt bekommen, geht nur ein sehr kleiner Teil der Ausleihvorgänge auf Tipps aus dem Freundeskreis zurück. Anders als man mit 15 zu vermuten geneigt war, ist persönliche Sympathie für die Qualität von Buch- oder Musikempfehlungen nicht nötig, und in der Praxis sind die Überschneidungen zwischen Freundeskreis und Geschmacksnachbarschaft gering. Es hilft, wenn Anbieter die Frage nach der Freundschaft von anderen Aspekten entkoppeln.

Noch vor Kurzem wurde die Aufgabe der Vorsortierung eines unüberschaubaren kulturellen Angebots von Buchhändlern, Bibliothekaren, Rezensenten oder Plattenverkäufern übernommen, die sie mehr schlecht als recht erfüllten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Empfehlungen eines einzelnen Menschen einem beliebigen anderen Menschen weiterhelfen, ist naturgemäß gering. Wer einen Händler oder Rezensenten fand, dessen Ansichten sich mit den eigenen deckten, hatte Glück, der Rest der Welt blieb auf Zufallsfunde angewiesen. Dass die neuen Empfehlungstechniken zur Lösung dieses Problems beitragen, erfreut nicht nur die Nutzer, es lohnt sich auch für die Anbieter. Amazon erzielt 20 bis 30 Prozent seiner Umsätze mit Verkäufen, die auf individuelle Produktempfehlungen zurückgehen.

Netflix schrieb im Jahr 2006 den »Netflix Prize« für Programmierer aus, die aufgefordert waren, die Qualität der Netflix-eigenen Empfehlungen um zehn Prozent zu verbessern. (Wie zuverlässig die verwendete Software funktioniert, ist leicht überprüfbar, indem man auf der Basis der Bewertungen, die ein Netflix-Nutzer bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vergeben hat, versucht, bereits vorliegende spätere Bewertungen korrekt vorherzusagen.) Der mit einer Million Dollar dotierte Preis wurde im September 2009 ausbezahlt. Hinter dieser Großzügigkeit steckt die Tatsache, dass eine zehnprozentige Verbesserung der Empfehlungsqualität Netflix mehr als das investierte Preisgeld einbringen wird.

So sind in den letzten Jahren einige spezialisierte Anbieter entstanden, die produktunabhängige Empfehlungssoftware entwickeln. Richrelevance.com, ein 2006 vom ehemaligen Leiter der Amazon-Entwicklungsabteilung für Personalisierungstechniken gegründetes Unternehmen, vertreibt Empfehlungslösungen für E-Commerce-Websites. Die Software des 2009er Berliner Startups Directed Edge lässt sich ebenfalls in E-Commerce-Angebote einbinden, kann aber auch Empfehlungen für soziale Netzwerke oder Nachrichtenwebsites erzeugen. »The Filter« entstand 2008 als eigenständige Film- und Musikempfehlungswebsite, schwenkte aber kurze Zeit später ebenfalls auf die Lizenzierung seiner Software für den Einsatz durch Drittanbieter um.

In einer Umfrage des Produktempfehlungsspezialisten ChoiceStream gaben 59 Prozent der Befragten an, im Jahr 2009 schlechte Produktempfehlungen von Onlineanbietern erhalten zu haben. 2008 hatten sich darüber nur 45 Prozent beklagt. ChoiceStream führt diese Zunahme nicht auf eine tatsächliche Verschlechterung der Lage zurück, sondern darauf, dass die Kunden höhere Erwartungen an Empfehlungen stellen als noch im Vorjahr. Wenig geschätzt sind Empfehlungen von Produkten, die man bei genau diesem Anbieter bereits erworben hat, nicht korrigierbare Empfehlungen auf der Basis eines vor Jahren bestellten Geburtstagsgeschenks für die siebenjährige Nichte oder allzu nahe liegende Ratschläge wie der, nach sechs Harry-Potter-Bänden doch auch noch den siebten zu erwerben.

Auch zu gute Empfehlungs- und Filterungssysteme können theoretisch Nachteile mit sich bringen. Google erklärte im Dezember vorauseilend, man habe nicht vor, konservativen Nutzern nur noch konservative Ergebnisse zu zeigen, sondern bemühe sich um eine lediglich individuell zugeschnittene Vielfalt von Quellen und Meinungen. Die Schere...

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