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E-Book

Stehauffrauchen

AutorVera Lúcia Castro
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783741248634
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,49 EUR
Ich war neunzehn Jahre alt, als ich meine Heimat in der Dritten Welt, Brasilien, voller Naivität und Hoffnung verlassen habe. Ich wollte nach Deutschland, ein Land mit gebildeten, intelligenten und somit auch freundlichen Menschen, wo die Gesetze für alle gleich gelten und wo man vor Gericht solange als unschuldig gilt, bis einem die Schuld nachgewiesen wird. Doch ist das wirklich so in Deutschland? Was ich hier erlebte, hat nicht nur mein perfektes Bild von dem Land, sondern beinahe mein ganzes Leben zerstört...

Vera Castro, geboren 1967 in Rio de Janeiro, Brasilien. Seit 1999 in Deutschland eingebürgert. Ausbildung als Grundschullehrerin. Dolmetscherin, Übersetzerin und Dozentin für Portugiesisch. Assistentin der Geschäftsleitung des Klinischen Krebsregisters Unterfranken. Seit 1987 in Deutschland, verheiratet, 2 Kinder, 2 Hunde.

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Leseprobe

Willkommen in Deutschland

Am Flughafen warteten Isabella, Carlos, Daniel und Susana auf uns. Nur unsere Koffer waren nicht da. Erst zwei Tage später konnten wir unser Gepäck endlich abholen.

Isabella hat sich alle Mühe gegeben, die Situation zu vertuschen. Sie brachte uns in ihre Wohnung nach Nürnberg/Nußhof. Es war ein Hochhaus - für mich etwas ganz Normales. Eine 4-Zimmer-Wohnung mit Bad, Küche und Balkon. Dort lebte sie mit ihren zwei kleinen Kindern. Am Wochenende kamen die zwei großen und die Tochter einer portugiesischen Freundin von ihr. Da war die Bude voll. Irgendwann bekam ich mit, dass Isabella nicht arbeitete und von Sozialhilfe in einer Sozialwohnung lebte. Was das war, erfuhr ich erst viel später, denn bei uns gab so etwas nicht. In Brasilien gibt es keine staatlichen Sicherheiten, kein Arbeitslosengeld oder -hilfe, keine Sozialhilfe, Wohngeld o.ä. Alles war neu und unbekannt. Die drei, die nur am Wochenende heim kamen, machten ihre Ausbildung beim Kolping in Scheindorf.

Als meine Kleidung endlich angekommen ist, baute Carlos einen Schrank in seinem Zimmer für mich auf. Ich bügelte und er räumte auf. Es war sehr süß von ihm, mir so zu helfen. Mit meinen Cousins habe ich mich kaum gestritten. Sie waren wohl auch froh, etwas Abwechslung zu haben, denke ich.

Das Essen wurde immer knapper und wir hatten plötzlich kein Geld mehr. Da hat Isabella jemand kennen gelernt, der ihr und meiner Mutter ein paar Nähjobs für Schwarzgeld angeboten hat. Leider hatte er keinen Job für mich. Wir haben uns eine kurze Zeit damit über Wasser gehalten. Ab und zu begleitete ich Isabella und meine Mutter zur Arbeit. Dort gab es zumindest manchmal etwas zum Essen.

Ein Test beim Arbeitsamt und viele Gespräche mit Amerikanern brachten mir kein Glück. Für mich gab es keinen Job.

Das war kein Leben für mich. Ich fühlte mich verloren, überfordert, einsam. Doch ich hatte noch Hoffnung. Alles wird gut, dachte ich. Es muss.

Da ich einen Deutschen in Brasilien kennengelernt hatte, beschloss ich, ihn zu besuchen. Er zahlte mir die Zugfahrkarte und ich bin zu ihm nach Tübingen gefahren.

Gerald war sehr bemüht. Wir gingen essen, zur Staatsgalerie, ins Kino, zum Frühlingsfest. Er zeigte mir den Fernsehturm, stellte mir seine Schwester vor, fuhr mit mir zu einer Burg und nahm mich mit in die Disco. Leider musste ich jedoch feststellen, dass er mehr wollte, als ich bereit war, zu geben. Und damit war die Freundschaft auch beendet. Bald fuhr ich wieder zurück zu Isabella und meiner Mutter nach Hause.

Daheim eskalierte die Situation immer mehr. Schlägereien, Schreie, Chaos. Ich war so etwas nicht gewohnt. Die Welt drehte sich bis dahin nur um mich, als Einzelkind. Nun war ich weit außen vor. Neugierig und naiv betrachtete ich alles, trotz meines Alters, mit Kinderaugen. Ich merkte gar nicht, was es aus mir machte. Ich wusste nur, dass ich darunter litt und dass ich es so nicht wollte.

Ich vermisste meinen Vater. Er hat mich schon immer beschützt und geliebt. Mir fehlte plötzlich sehr viel Liebe. Eine ganze Menge. Also bemühte ich mich, stets Spaß zu haben. Ganz egal wie. Es war wohl für mich ein Fluchtweg, alles mit Spaß zu kompensieren.

Inzwischen lernte ich Jan in einer Studentendisco kennen. Er war so wunderschön! Blond und mit blauen Augen. Das kannte ich kaum. Sein Freund hat sich für Aurora interessiert. Irgendwie habe ich mich sofort verliebt. Er war so charmant… Wir kommunizierten auf Englisch, da er dies auch perfekt sprechen konnte. Trotzdem bemühte er sich, mir Deutsch beizubringen - ohne viel Erfolg. Diese Zeit hat mich alles andere vergessen lassen. Ich habe es einfach genossen, geliebt und bewundert zu werden. Während Aurora den Freund stets wechselte, blieb ich bei meinem Jan.

Jetzt war es an der Zeit, die Papiere für den Aufenthalt zu regeln. Das wusste ich nicht. Ich dachte, man könnte überall auf der Welt hin, dort leben und arbeiten. Was wäre denn schon dabei? Schließlich leben wir in Freiheit, oder? Weit gefehlt. Und damit gleich die böse Überraschung: Meine Mutter durfte als Portugiesin in Deutschland leben und arbeiten, doch als Brasilianerin hatte ich nicht das Recht dazu. Oha! Man erklärte mir, dass ich hier weder bleiben noch arbeiten dürfte. Zum Glück ist man in Brasilien erst mit einundzwanzig Jahren volljährig. Deshalb würde ich hier bis zu meiner Volljährigkeit „geduldet“ werden. Danach müsste ich das Land verlassen oder würde - wie man mir ganz deutlich erklärt hat - „in Begleitung der Polizei“ zurückgebracht werden. Ich fühlte mich so, als hätte ich einen Elektroschlag bekommen. Polizei? Ich habe noch nie im Leben etwas verbrochen! Das Wort „Polizei“ löst in einem Brasilianer ganz komische Gefühle aus. Polizei bedeutet Verbrechen, Drogen, Gewalt, falsches Verhalten. Das wollte ich auf gar keinen Fall. Niemals wollte ich mit der Polizei etwas zu tun haben. Ich war mehr als geschockt. Und jetzt? Was passiert jetzt mit mir?

Isabella - die alles immer zu lösen wusste - beruhigte mich gleich. Kein Problem. Wir fahren nach Portugal, beantragen für mich die portugiesische Staatsangehörigkeit und kommen wieder zurück. Ganz einfach und locker. Ja. Das war eine sehr vernünftige Lösung.

Carlos machte eine Ausbildung als Mechaniker. Dort kaufte Isabella ein Auto für mich. Total paradox, aber damals habe ich nicht viel darüber nachgedacht. Wir warteten auf die Zahlung des Schwarzgeldes, um reisen zu können.

Ich war jung und unerfahren. Habe keine weiteren Gedanken verschwendet. Es würde doch alles gut werden. Endlich.

Am 02. Juni 1987 ging die Reise nach Portugal los. Ich fuhr über vierundzwanzig Stunden am Stück. Wir hatten als Proviant Cola, Orangen und Schokolade. Während der Fahrt spuckte ich die Kerne aus dem Fenster und bekam sofort eine Ermahnung von Isabella: „Hier wirft man nichts durch das Fenster. Es ist verboten!“. Komische Welt, dachte ich… Haben die vielleicht Angst, dass Orangenbäumen plötzlich in Europa wachsen würden? Aber anscheinend war in Deutschland eh alles verboten: Auf Gras laufen, Müll in fremde Mülltonnen zu werfen, nachts ohne Begleitung von Erwachsenen auf der Straße sein (obwohl es in Deutschland kaum Kriminalität gab). Somit stellte ich ihre Aussage nicht in Frage.

Das Geld war verbraucht und ich musste schlafen. Fünf Stunden im Auto waren ausreichend. Ich war müde. Doch wie sollten wir tanken?

Isabella hat sich an einer Tankstelle Geld von einem portugiesischen LKW-Fahrer geliehen. Damals dachte ich, sie würde ihm das Geld wieder geben… Tja, so kann man sich täuschen…

In Coimbra habe ich meine Freunde wieder gesehen. Es war sehr schön, obwohl ich mir immer wieder Sorgen um meine Mutter und meine Cousins in Deutschland machte. Die Zeit verging und nichts geschah. Isabella amüsierte sich, gab Geld aus, freute sich, aber kein Wort über Papiere o.ä. Immer wieder fragte ich sie, wann wir uns endlich um die Papiere kümmern würden.

Dann kam endlich der so ersehnte Tag. Wir fuhren zum Konsulat.

Im brasilianischen Konsulat in Porto konnte man mir nicht helfen. Es ist nicht so einfach, eine neue Staatsangehörigkeit zu bekommen. Auch nicht, wenn man als Brasilianer portugiesische Eltern hat. Ich würde beweisen müssen, dass ich seit Jahren in Portugal lebe. Und das konnte ich nun wirklich nicht. Ich war einfach nur enttäuscht und fragte mich immer wieder, wie die Sachlage in Deutschland war.

Nun musste ich nach Lissabon, wo mir erklärt wurde, dass meine Situation nicht zu ändern war.

Isabella fing an, sich unmöglich zu benehmen. Spaß war alles, wofür sie sich interessierte. Ich war zum zweiten Mal im Leben total verzweifelt. Ich wollte mein Leben selbst in die Hand nehmen, meine Mutter mit mir mitnehmen, einfach raus aus dieser Zwickmühle. Endlich haben wir telefonieren können. Meiner Mutter ging es gut, sagte sie und mein Vater würde bald kommen. Das erfüllte mich mit viel Freude, trotz dieser unendlicher Warterei.

Zwei Tage später jedoch rief meine Mutter wieder an. Isabella sollte sofort zurück, da sie keinerlei Geld mehr hatte. Da erfuhr ich, dass meine Mutter nur noch gearbeitet hat und Isabella das gesamte Geld immer wieder geschickt hat, damit wir zurückkommen konnten. Doch Isabella gab das Geld einfach so aus. Meine Mutter hungerte und ich verzweifelte. Ich hatte Angst, mein Leben, meine Mutter und meinen Frieden zu verlieren. Weitere zwei Tage vergingen. Meine Mutter rief wieder an, weinend. Ich erlitt damals wohl meinen ersten körperlichen Zusammenbruch. Ich zitterte, mir war übel, ich konnte kaum atmen und bin fast zusammengebrochen. Mein Herz raste mit einer mir bisher unbekannter Geschwindigkeit. Trotz meiner Bemühung, die Zeit irgendwie zu überbrücken, ist es mir nicht mehr gelungen, fröhlich zu sein. Mir war nur noch schlecht. Meine Tage bestanden nur noch aus Warten. Warten auf die Rückkehr zu meiner Mutter, welche uns unermüdlich immer wieder Geld schickte. Erst am 01. Juli 1987 fuhren wir endlich los. Dafür hat mir mein Lieblingscousin Sérgio Geld...

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