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E-Book

Steht auf, auch wenn ihr nicht könnt!

Behinderung ist Rebellion

AutorMaximilian Dorner
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641240479
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Dies ist kein Buch für eine Nacht. Das hat mit dem Gegenstand zu tun, denn es handelt von Behinderungen aller Art. Und viel wichtiger: darum, was wir daraus machen. Zusammengefasst schnurrt es auf zwei Empfehlungen zusammen: Hinschauen und nicht verkrampfen!

Maximilian Dorner ist Autor, Aktivist und Theatermacher. Seit zehn Jahren bewegt er sich wegen einer Nervenkrankheit mit dem Rollstuhl fort. Kein Tag vergeht, an dem er sich nicht über das eigene Eingeschränktsein, das Beschränktsein der anderen und oft auch über andere Behinderte oder einen kaputten Lift aufregt. Dies ist sein persönlicher Aufruf zur Rebellion - und eine leidenschaftliche Liebeserklärung ans Leben mitsamt seinen Widersprüchen.



Maximilian Dorner (1973-2023) studierte als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes Dramaturgie an der Bayerischen Theaterakademie und war bis zu seinem Tod im Februar 2023 als Autor, Journalist, Regisseur, Aktivist und Kulturveranstalter tätig. Von 2021 bis 2023 verantwortete er zudem im Münchner Kulturreferat die Stabsstelle »Diversität und Inklusion«. Er war Autor von neun Büchern, für seinen Debütroman »Der erste Sommer« erhielt er 2007 den Bayerischen Kunstförderpreis. Zuletzt arbeitete er, selbst an Multipler Sklerose erkrankt, an einem Buch über das Thema Pflege, das er leider nicht mehr abschließen konnte.

Über sein buntes, widersprüchliches Leben schrieb er: »Ich bin mit einem Kabarett-Programm vor dem Bundespräsidenten aufgetreten, habe gemeinsam mit dem Münchner Kardinal in der Frauenkirche bei einer Fernsehübertragung über Zerbrechlichkeit gepredigt und für eine Homestory der ?Bild der Frau? nicht vorhandene Blumen gegossen, eine Oper inszeniert und einen Gedichtband getürkt.«

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Leseprobe

1 // Umleitungen


#Selbstauskünfte


»Es folgen Staus und Behinderungen ab drei Kilometern Länge.« Die Radiosprecherin nudelt sie runter wie die Nebenwirkungen eines Medikaments. Das ganze Sendegebiet scheint gerade aus nichts anderem zu bestehen. Kein Wunder, dass da niemand vor Begeisterung aufspringt. Wer kann, nimmt sogar einen Umweg in Kauf. Und wer nicht kann, hofft, dass es bald wieder heißt: »Zur Zeit liegen uns keine Störungen vor.«

Auf Stockungen muss man sich also gefasst machen, wenn es um Behinderungen geht – und auf Umleitungen. Denn der direkte Weg ist eben versperrt. Es dauert wesentlich länger, bis man ans Ziel kommt. Auch das gehört bei Staus und Behinderungen mit dazu. Alle Pläne werden über den Haufen geworfen.

Die Parallelen zu körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen gehen weit über das Sprachliche hinaus: Für beide kann der Betroffene nichts. Bei beiden ist man gezwungen, sich dazu irgendwie zu verhalten. Und beide lassen sich nur begrenzt umfahren, schönreden oder ignorieren. Auch dem Thema Behinderung kann man nur mit Behinderungen näherkommen. Mit unvorhergesehenen Abzweigungen, mit Umkehren, mit unfreiwilligen Pausen und Wiederholungen. Sie sind eine Schule in Geduld.

Es gibt jedoch auch einen entscheidenden Unterschied: Für motorisierte Vierräder hat man nun schon über hundert Jahre lang ohne jede Diskussion Rampen in Form von Straßen, Brücken und Parkplätzen gebaut. Barrierefreiheit ist meistens eine Frage des Willens.

Wie viele Sendeminuten verschlänge die Aufzählung meiner eigenen Behinderungen? Renitent spastische Beine, Augen voller Müll vergangener Schlachten, mit einem Hemdknopf überforderte Hände, eine auf Widerspruch gebürstete Blase … Eine zu lange Liste wirkt schnell streberhaft. Also belasse ich es zusammenfassend bei der einzig sichtbaren Behinderung: dem Rollstuhl. Meiner ist kein Kassenmodell, sondern ein durchdesignter und sündteurer Schlitten, in dessen Hochglanzprospekten mit Phrasen wie »ausgezeichnete Fahrperformance« um sich geschmissen wird. Die Seitenteile sind aus angeblich unzerbrechlichem Carbon. Das ist aber schon das Einzige, womit ich bei Nichtbehinderten Eindruck schinden kann. Irgendwie habe ich es nach nur einem Jahr geschafft, auf dem schwarzen Aluminiumrahmen zahlreiche Dellen und Kratzer zu hinterlassen. Aber so genau schaut eh niemand hin.

Auch nach zehn zunehmend behinderten Jahren erlebe ich Momente maßlosen Staunens über mein umgeleitetes Leben. Meist dann, wenn ich mich in einer Schaufensterscheibe gespiegelt sehe. Ich wirke nie so cool, wie ich mich eigentlich fühle, sondern wie ein Mittvierziger im Rollstuhl. Was tust du hier eigentlich, frage ich dann das Spiegelbild, warum läufst du nicht einfach?

Es ist gar nicht einfach, sich dem in seiner Widersprüchlichkeit anzunähern, selbst dann nicht, wenn es einen täglich betrifft.

Die Behinderung regiert in jeden Lebensbereich mit hinein. Rund um die Uhr und in jeder Lebenslage. In jeder, leider … Mein Leben ist ein Tohuwabohu aus Überforderung, Rastlosigkeit, kaputten Liften, Überheblichkeit und Nachsicht. Ich weiß selbst manchmal nicht, ob ich alles im Griff habe oder mich nur nicht traue, das Gegenteil zu akzeptieren. Staus und Behinderungen eben.

Am meisten schmerzt nicht der Verlust der großen Dinge, sondern die Unmöglichkeit der kleinen: in einem fremden Bett aufzuwachen und noch vor dem Kaffee zu gehen. Ein Glas Wasser zu holen, nachdem man sich hingelegt hat. Nach einer aufregenden Vorstellung mit den anderen Zuschauern zum Jubeln aufzuspringen. Oder einer Freundin beim Umzug zu helfen. Immer läuft es auf den Schmerz hinaus, Autonomie verloren zu haben. Und auf die Sehnsucht nach der alten Freiheit.

Als ich noch Auto fahren konnte, war ich oft leicht gereizt: Ob die anderen Autofahrer nun zu langsam oder zu schnell fuhren, schlichen oder nicht früh genug blinkten. Keiner konnte es mir recht machen. Aber nicht alles hat mit mir zu tun. Vielleicht sollte ich also auch andere Behinderte ihr Ding machen lassen. Wenn jemand von »Behinderung« spricht, meint er nicht zwangsläufig mich. Sich angegriffen zu fühlen, obwohl man es objektiv nicht ist, ist ein Anzeichen für Narzissmus. Der vermeintliche Angreifer hatte im Zweifelsfall etwas ganz anderes im Sinn. Und ganz ehrlich: Es gibt nichts Peinlicheres, als mit geballten Fäusten und mit Schaum vorm Mund einer Windmühle gegenüberzutreten.

Manchmal macht es mich unendlich müde, immer über Behinderungen zu sprechen. Jeder versteht das und ist erleichtert. Und dann bin doch wieder ich es, der irgendwann darauf zurückkommt. Behinderung ist wie ein Fluch.

Das Leben ist schon ohne eine Zumutung, mit eine tägliche Frechheit. Da hilft nur eines: Klarheit – mit sich selbst und mit anderen, wenigstens das. Sich nicht mehr verstellen, offenbleiben. Vor allem aber, sich selbst eingestehen zu können, wenn man sich verfahren hat.

Dafür braucht es also Nachsicht. Mit mir und mit anderen. Das heißt erstens: nicht jede Äußerung auf sich zu beziehen, selbst die an mich gerichteten. Und ich zumindest benötige für Nachsicht genauso viel Disziplin wie Neugier – und Geduld. Qualitäten, die auch ohne Behinderung nicht schaden.

Und es bedeutet zweitens: sich nicht vom Augenblick wegreißen zu lassen, sondern erst einmal einen Schritt zurückzutreten. Nachsicht durch Abstand also. Und mir selbst dann zu verzeihen, wenn das nicht auf Anhieb gelingt. Immer im Wissen darum, dass Behindertsein bedeutet, lebenslang mit einer nicht heilenden Wunde herumzulaufen, die in jedem Augenblick wieder aufbrechen kann.

Es hat ein paar Jahre gebraucht, bis ich dazu in der Lage war: Geduld zu üben mit den Schwächen anderer wie mit den eigenen, zumindest momentweise. Manchmal schlägt das dann in echte Gelassenheit um, manchmal in Gleichgültigkeit.

Wäre ich Golfspieler, könnte ich ohne Hemmungen sagen: Ich arbeite täglich an meinem Handicap: nachsichtig und aufmerksam. Ehrlich, ohne zu verletzen. Hinschauend und nicht wegsehend. Mich nicht zufriedengebend mit den handelsüblichen Phrasen – das alles verlangt, sich angreifbar zu machen, und damit sichtbar.

#Behinderungsschule


Unvermittelt behindert zu sein, das ist ein ebenso elementarer Einschnitt ins Leben wie für andere die Geburt eines Kindes. Mit einem Mal ist alles anders. Und irgendwie doch gleich. Und dann wieder ganz anders.

Eine erworbene Behinderung zwingt einen, sich selbst anders wahrzunehmen. Und das dauerhaft, auch wenn es ein paar Jahre braucht. Auf jedes Foto schmuggelt sich dieser Rollstuhl. Es kann drum herum alles noch so harmonisch sein, das schwarze Ungetüm schreit: Hier bin ich!

Er ist mein Schatten. Und auch nach acht Jahren ist es mir noch nicht gelungen, ihn zu übersehen oder zu vergessen. Kein einziges Mal. Wie lange diese Annäherung wohl noch braucht?

Eine Behinderung verändert die Beziehung zu anderen Menschen, vor allem aber verstärkt eine Behinderung Charakterzüge. War man vorher ängstlich, ist man es jetzt noch mehr. War man vorher ein Abenteurer, wird man noch tollkühner.

Zukunftsaussichten, Pläne, Wünsche, kurz: Alles, was ein Leben ausmacht, justiert sich neu. Das braucht seine Zeit. Die Beziehungen zu sich und zu den anderen gruppieren sich unmerklich um. Man wird anders angeschaut, wird man selbst schaut auch anders auf die anderen.

Ich versuche, mich an die erste Zeit im Rollstuhl zu erinnern. Was müssen das für wilde, abenteuerliche Tage gewesen sein! Voller neuer Erfahrungen. Voller Abenteuer.

Doch da kommt gar nichts. Vielleicht, weil ich am Anfang vollauf damit beschäftigt war, halbwegs unfallfrei von A nach B zu gelangen. Hängen geblieben ist nur eine riesengroße Erleichterung nach Jahren mit Gehstock und Krücken. Das Gehen war vor dem Rollstuhl immer mehr zur Tortur geworden. Noch heute messe ich jeden Weg nach der letzten Gehstrecke: Ist sie machbar oder überfordere ich mich wieder? Diese Haltung hat sich mir eingebrannt. Und wenn jemand für mich einen Umweg in Kauf nimmt, beispielsweise zum Supermarkt und zurück, erstarre ich in Hochachtung.

Wie hat sich mein Blick auf die Welt verändert? Aus dem Rollstuhl, wohlgemerkt. Nun, ich bin auf die Größe eines Neunjährigen geschrumpft. Steigungen spüre ich bereits, wo andere noch meinen, es ginge bergab. Kleinste Unebenheiten prägen sich mir tiefer ein als Sehenswürdigkeiten. Überhaupt: der Boden. Seine Beschaffenheit, geborstene Pflastersteine, Glassplitter und anderer Müll. Und natürlich Stufen. Überall tauchen sie auf, überflüssig meist, Überbleibsel aus Zeiten mit regelmäßigen Überschwemmungen und von der Haustür fernzuhaltendem Straßendreck. Mein neuer Stadtplan hat sich über den alten gelegt. Sehr viel ist dabei ergänzt, manches schlicht und einfach überschrieben worden.

Wann habe ich eigentlich zuletzt selbst einen Rollstuhl geschoben? Das ist schon sehr lange her. Ich war neunzehn und Zivildienstleistender. Christa, eine Altenpflegerin, kölnerte nach dem Mittagessen alle zwei Wochen los: »Ma-haax, gehst du zum Heimleiter und bettelst um etwas Geld?« Sie blinkerte mit den dick schwarz umrahmten Augen. Ich nickte und redete wenig später so lange auf den Chef ein, bis er keinen anderen Ausweg sah, als seine schwarze Kasse zu öffnen.

Gemeinsam mit Christa betreute ich tagtäglich ungefähr ein Dutzend älterer Damen, die ihr Gedächtnis allesamt komplett verloren hatten. Neben Mensch-ärgere-dich-nicht (man musste nur immer höllisch aufpassen, dass sie sich die Figürchen nicht in den Mund schoben) liebten sie Musik. Und so gingen wir mit ihnen regelmäßig ins Münchner Hofbräuhaus. Auf dem Weg dorthin, durch die leicht abschüssige Fußgängerzone, nahm ich mitsamt dem Rollstuhl...

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