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E-Book

Stein, Papier

Eine Spurensuche in Galiläa

AutorTomer Gardi
VerlagRotpunktverlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl296 Seiten
ISBN9783858695789
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Am Anfang war ein Gerücht. Als Tomer Gardi erfährt, dass das neue Museum in seinem Kibbuz mit den Steinen eines 1948 zerstörten palästinensischen Dorfes errichtet worden sein soll, kann er es zunächst nicht glauben. Wie kann es sein, dass niemand davon weiß, niemand darüber spricht? Wer lebte dort in Hounin? Wo sind diese Menschen und ihre Nachfahren heute? Und wie konnte deren Schicksal so gründlich verdrängt werden? Tomer Gardi sucht Antworten. Er durchforstet die israelischen Archive, stellt die Menschen im Kibbuz zur Rede. Bewusst rennt er gegen die Mauern des kollektiven Schweigens und Vergessens an und hält seine Recherchen und Eindrücke fest. Entstanden ist eine ganz eigene Form der Annäherung an die Geschichte, ein Spiel mit den Grenzen zwischen Essay, Reportage und Prosa und ein eindrückliches Zeugnis von zivilem Ungehorsam. Das Museum des Kibbuz Dan im Norden Israels wurde aus den Steinen eines zerstörten palästinensischen Dorfes erbaut. Auf der Suche nach den Hintergründen stößt der Autor auf Verdrängung, Zensur und die Mechanismen konstruierter Geschichte.

Tomer Gardi, geboren 1974 im Kibbuz Dan in Galiläa, ist Autor und politischer Aktivist. Er war Herausgeber der Zeitschrift Sedek: A Journal on the Ongoing Nakba, ein Projekt der israelisch-jüdischen Initiative Zochrot, die die Vertreibung der Palästinenser mittels aktiver Erinnerungsarbeit im öffentlichen Diskurs verankern will. Tomer Gardis literarischer Essay Stein Papier erschien 2011 im Verlag Hakibbutz Hameuchad, Tel Aviv, und sorgte in Israel für Aufsehen.

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Leseprobe

Kapitel


Enden


Ich erinnere mich nicht mehr, wann genau und warum. Was mir aber wichtig ist. Ich versuche es. Versuche es immer wieder. Versuche und scheitere. Finde die Aufzeichnungen zu jenem Augenblick einfach nicht wieder. Das liegt Jahre zurück. Wann genau war das? Und wie kam es, dass wir plötzlich wie aus heiterem Himmel über dieses totgeschwiegene Thema sprachen? Und wieso hatten wir bis zu jenem entschwundenen Augenblick nie darüber geredet? Wie war das Gespräch mit einem Mal darauf gekommen und dann wieder verschwunden? Und wohin?

Ich erinnere mich nicht warum und auch nicht wann, aber ich erinnere mich, mit wem. Das schon. Obgleich er sich nicht mehr erinnert. Ich habe ihn gefragt. G., meinen Freund. Ich nenne ihn schon Jahre so, G., kein schlechter Name für einen Informanten, aber nicht nur in schriftlicher Form nenne ich ihn so, um etwa seine Identität außerhalb dieses Laptops zu verschleiern, sondern auch von Angesicht zu Angesicht, vor einer freundschaftlichen Umarmung, ist er G., für mich zumindest, auch wenn sein Vorname und der seiner Familie eigentlich mit R anfangen, eine lange Geschichte, egal. Auf jeden Fall war es G., der mir eines Tages und an einem Ort, an die wir uns beide wie gesagt nicht mehr erinnern – warum ist mir das überhaupt so wichtig? – davon erzählte. Das Beit Ussischkin, das Museum im Kibbuz Dan, dem Kibbuz, in dem wir beide geboren und aufgewachsen sind, ein großes Museum aus weißem, behauenem Stein, damals wie heute nicht nur Museum, sondern auch eine Art Bühne, auf der meine Mutter und seine Mutter mich und ihn als noch nicht Einjährige im Arm gehalten hatten bei der Zeremonie zum Wochenfest: Auf den Stufen des Gebäudes stellen Bauern ihre Erstlingsfrüchte aus, präsentieren Mütter der Gemeinschaft die Frucht ihres Leibes: Ram und mich, zum Beispiel, uns und noch ungefähr ein Dutzend andere Babys, Beit Ussischkin, 1974.

Zusammen sind wir im Kinderhaus des Kibbuz aufgewachsen, um sieben Jahre nach jener Zeremonie erneut aktiv teilzuhaben an einem weiteren Initiationsritus des Kibbuz, auf den Steinen eben jenes Museums, beim feierlichen Eintritt in die Kindergemeinschaft. Gestärkte weiße Hemden, zur einen Seite unsere Mütter, die Väter zur anderen, alle halten sich an den Händen und schreiten unter zwei Palmwedeln hindurch, die zu einer Art Tor in die Höhe gereckt sind, durch das wir alle hindurch müssen, ich und Ram, Jahre bevor er zu G. werden sollte, und ungefähr ein Dutzend weitere aufgeregte Kinder.

Ich werde hier jetzt nicht eine ganze Historie mithilfe dieses Museums erzählen. Eine irrwitzige Idee ohnehin, von wegen ganze Historie. Eine geradezu messianische Idee. Doch auf den Stufen eben dieses Museums habe ich immer mit G. gesessen, meistens mit dem einen oder anderen Goldstar-Bier in der Hand, einer Flasche Wodka für sechzehn Schekel und zwei Volontärinnen, die nach Israel gekommen waren, um im Kibbuz ein bisschen Spaß zu haben. Und G. hat mir erzählt, Jahre nach einer dieser süßen Nächte mit den zwei Volontärinnen auf den Steinen des Museums und von dort weiter zu einer wilden Vögelei im kibbuzeigenen Pool in einer warmen Sommernacht, also G. hat mir erzählt, dieses Museum, das Beit Ussischkin, hätten sie aus den Steinen eines arabischen Dorfes errichtet, das im Krieg zerstört worden war, damals, achtundvierzig.

Was du nicht sagst! Wirklich?

Für G. war die Geschichte nicht mehr als ein Witz. Haha. Ja, ja. Auch ich habe erst mal gelacht, damals. Doch dann – ein Dann, aus dessen geöffneter Büchse sich unendliche Myriaden ergießen sollten – nahm ich, wie Sigmund Freud, diesen Witz zunehmend ernster. Wollte ihn ergründen. Zu seinen Mechanismen vordringen. Dem Geheimnis seiner Wirkung auf die Spur kommen. Der inneren Struktur dieser Ironie. Wie eine begriffsstutzige Nervensäge oder ein Fliege tragender Wiener mit Pfeife ließ ich nicht locker. Fragte, was daran so lustig sei und warum.

G., das weiß ich inzwischen, bereut seine launige Bemerkung noch immer, eine kleine Anekdote, die mir bleibendes Unbehagen bescherte, als hätte ich ein lebendiges Pferd verschluckt, das mit mir auf seinem Rücken losgaloppiert, um zu fragen, zu klären, zu begutachten, zu stochern, herumzuschnüffeln, alles auf den Kopf zu stellen, auch Verrat zu üben, um am Ende in Archiven zu landen, zum Teil großen und bekannten, zum Teil solchen, in denen kaum jemand je in Akten blättert, niemand die aus braunem Karton gemachten Pandorabüchsen öffnet, ein Pferd, das in meinem Inneren mit mir auf seinem Rücken dahingaloppiert, um Menschen zu treffen, Freunde, Nachbarn, Familie und viele andere, Bekannte und Fremde, um zu hören, zu fragen, zu beharren und zu drängen, galoppiert, um irgendeine Geschichte zu erzählen, nein, nicht eine Geschichte, Geschichten, sehr ausufernde, sich immerzu ausbreitende Geschichten, Geschichten, die kein Ende haben, oder besser gesagt: jede Menge Nicht-Enden, die immer weiter reichen, weiter und weiter, deren unbegrenzte Ausdehnung nur durch ihre Abhängigkeit von den Gegebenheiten des Raumes gestoppt wird.

G. hat mir irgendwann dann ein Ende der Geschichte vorgeschlagen. Ich hatte mir für zwei Monate ein Zimmer genommen, im Kibbuz, mehr als zehn Jahre nachdem ich ihn verlassen hatte. Und dieses Zimmer verließ ich, um Archivunterlagen zu lesen und Leute zu befragen. Was war das für ein Dorf, aus dem unser Museum gebaut worden ist? Und wieso ist überhaupt entschieden worden, hier ein Museum zu bauen? Und warum ausgerechnet eines für Geschichte und Natur? Und wie sind die Steine hierhergekommen? Wie wurden sie transportiert? Wer hat das gemacht? Und wo ist die Verbindung zu Menachem Ussischkin? Wie kompliziert dieser Name für den kleinen Tomer gewesen war – Ussischkin Uschisskin Uschkikin Ukissschkin –, und heute ist mir der Name auf der Zunge eingebrannt wie das glühende Stück Kohle, das der kleine Moses beim Pharao in den Mund nimmt, ich frage i-i-im B-B-Beit Ussischkin, w-w-wir ha-haben es gebaut, o-o-okay, a-a-aber wer w-war das, d-der Stein auf Stein gesetzt hat? Wer hat das G-Geld gegeben? Und warum, wenn man hier schon ein Geschichts- und Naturkundemuseum aus den Steinen eines zerstörten arabischen Dorfes hingesetzt hat, Hounin hieß es, so habe ich später irgendwann herausgefunden, ausgerechnet im Zionistischen Zentralarchiv in Jerusalem, warum also, wenn das Geschichts- und Naturkundemuseum aus den Steinen eines Dorfes errichtet wurde, das Hounin hieß, warum findet sich dann in diesem Museum nicht ein Hinweis auf dieses Dorf in unserer Geschichte? Warum findet sich dort nicht ein Hinweis auf die Existenz Dutzender anderer arabischer Dörfer in der Geografie der Chule-Senke? Warum hat es in der Natur und der Geschichte, die das Museum zeigen will, niemals Araber gegeben? Was hat dieses Negieren zu bedeuten? Wie arbeiten die Kodizes? Die kollektiven Narrativstatuten? Und vor allem: Wie ist dieses Negieren, diese Verdrängung und Unterdrückung verbunden mit dem Negieren und der Unterdrückung der Araber heute bei uns, in diesem Moment, nicht in irgendeinem Krieg damals, sondern jetzt, da ich diese Worte eintippe, genau in diesem Augenblick.

Dennoch hat G. mir ein Ende für die Geschichte vorgeschlagen. Wir waren im Kibbuz. Ich hatte mich ihm und noch ein paar Freunden angeschlossen, um unter dem Torgang des Museums Musik zu machen. Beit Ussischkin. Die Akustik ist großartig und auch im Sommer lässt es sich dort gut aushalten, denn der Stein ist kühl und gleich daneben strömt, in einem schön überwucherten Kanal, der Fluss Dan und es weht immer eine erfrischende Brise durch die beiden großen Torbögen. Juval spielte Darbuka, und Stein, den alle Bouzouki nennen, spielte Oud und G. Akkordeon, außerdem wurde ausgelassen gesungen. Ich spiele gar nichts, habe nie ein Instrument gelernt, und vergnügte mich deshalb mit dem libanesischen Haschisch. Wirklich, es war ein wundervoller Nachmittag, und G. meinte zu mir, siehst du, ein schönes Ende für deine Geschichte, ein versöhnliches Ende. Ein Kreis schließt sich. Happy End.

Und auch mein Vater schlug mir ein Ende vor. Rief mich zu Hause an, in Tel Aviv, ungefähr zwei Wochen nachdem Soldaten der Hisbollah zwei Soldaten der israelischen Armee an der Grenze zum Libanon entführt hatten. Raketen fliegen nach Israel rein, das Volk motzt und meckert, will Rache und bekommt Rache, bekommt sie in reichem Maße. Blut als Nachtisch nach dem Honig. Und wir alle sind vereint, wie damals, als Maccabi den Europapokal geholt hat, ein nationalistischer Schauder fürs kollektive Rückrad. Und wenn diese Worte, die ich jetzt schreibe, erscheinen, wenn sie denn überhaupt jemals erscheinen, werden wir mit Sicherheit schon in der Phase der Untersuchungsausschüsse sein, der Phase der Leichenbeschauung, der Entschädigungszahlungen an Witwen und Waisen, der Beileidsbekundungen, der Entschädigungsleistungen auch für unsere Flüchtlinge und des Schweigens der Sieger, was andere Flüchtlinge betrifft, und mit dem Fleiß vernünftiger Resümierer werden die Herren beginnen, die Bomben des nächsten Krieges zu produzieren. Doch ich bin noch hier, in der Gegenwart, welche die Vergangenheit desjenigen ist, der...

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