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Stellen Sie sich nicht so an.

Meine Odyssee durch das deutsche Gesundheitssystem

AutorLioba Werrelmann
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl236 Seiten
ISBN9783426423189
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Todkrank. Von heute auf morgen aus dem Leben gerissen. Ärzte, die nicht wissen, was sie tun. Krankenkassen, die notwendige Hilfe nicht bezahlen. Lioba Werrelmann leidet unter den Folgen eines angeborenen Herzfehlers. In diesem Buch schildert sie, wie es Patienten in Deutschland ergeht, wenn sie in kein festes Schema passen. Ein Buch vom Überleben - eindringlich, schockierend, Mut machend. Jedes 100. Kind in Deutschland wird mit einem Herzfehler geboren. Während noch vor fünfzig, sechzig Jahren neunzig Prozent dieser Kinder starben, bevor sie ein Jahr alt wurden, werden sie heute dank der modernen Medizin fast alle erwachsen. Doch die meisten sind nicht geheilt, ihre Herzen sind nur vorübergehend repariert. Viele ahnen nicht, dass sie erneut schwer erkranken können. Und die allermeisten Ärzte sind über-fordert - die Behandlung von Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern kommt im Medizinstudium nicht vor. Mit fatalen Folgen für eine rasant wachsende Patientengruppe. Denn schon jetzt leben circa 300.000 Menschen mit einem angeborenen Herzfehler in Deutschland. Und es werden jeden Tag mehr.

Lioba Werrelmann, geboren 1970, studierte Politikwissenschaft, Staatsrecht und Germanistik. Sie machte ein Volontariat bei einem großen öffentlich-rechtlichen Sender und arbeitete als Radiomoderatorin und Fernsehautorin. Viele Jahre berichtete sie als Hauptstadtkorrespondentin aus Berlin. Sie lebt und arbeitet im Rheinland.

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Leseprobe

Volle Pulle leben


Bis zu jenem Moment im März 2011 hatte ich ziemlich genau das Leben geführt, das ich mir immer erträumt hatte.

An meiner Seite war ein Typ, der mich vollends begeisterte. Ein echter Traumtyp. Groß und durchtrainiert, mit Oberarmen so breit und hart wie Eisenbahnschienen. Ein klassisch schön geschnittenes Gesicht und ein umwerfendes Lächeln. Man konnte ihn nicht allein in den Supermarkt schicken, er wurde sofort angebaggert. Er konnte kochen, staubsaugen und Computer reparieren. Ich liebte seinen Duft und den Wirbel an seinem Hinterkopf. Ich liebte seine Hände und sein Lachen. Seinen scharfen Verstand. Er war der erste Mann, den ich traf, der genauso schnell dachte und handelte wie ich. Wir stritten auch viel. Doch um nichts in der Welt hätte ich ihn gehen lassen.

Ich hatte nicht nur einen Traumtypen, ich hatte auch einen Traumjob. Ich war Radio-Korrespondentin für den WDR im Hauptstadtstudio in Berlin. Ich war dort, wo ich immer hinwollte: im Zentrum der Macht.

Ich war rasende Reporterin und tagtäglich im Radio zu hören. Als Christian Wulff zwölf Stunden und drei Wahlgänge brauchte, um zum Bundespräsidenten gewählt zu werden, war ich dabei und berichtete von morgens früh bis spät in den Abend. Am Ende schalteten sie mich nach Breaking-News-Art live ins laufende Programm. Als die SPD 2009 ihr schlechtestes Wahlergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg einfuhr, meldete ich mich um 18.01 Uhr live aus der SPD-Parteizentrale und schilderte den WDR-Hörern, wie die erste Hochrechnung die Sozialdemokraten in Schockstarre versetzt hatte.

Ich reiste mit Politikern durch ganz Deutschland und um die halbe Welt, war oft erst nachts zurück im Hauptstadtstudio, machte dann noch meinen Bericht für die Frühsendungen fertig und saß wenige Stunden später morgens um neun wieder an meinem Arbeitsplatz.

Ich führte nahezu jeden Tag Live-Gespräche, erklärte, so gut es ging, wie der Berliner Polit-Betrieb funktioniert, sprach böse Kommentare zum Betreuungsgeld. Ich arbeitete manchmal fast rund um die Uhr. Es machte mir nichts aus. Ich liebte meine Arbeit so sehr, dass es sich anfühlte, als flöge ich.

Und zu allem Überfluss lebte ich damals im hipsten Viertel Deutschlands, in Prenzlauer Berg.

Ich werde nie den Morgen vergessen, als ich 2008 das erste Mal die Stargarder Straße entlangging. Es war Januar, es lag Schnee, die Sonne schien. Auf den kahlen Bäumen glitzerte das Eis, die renovierten Jugendstilhäuser blinzelten mir zu. Mittendrin die Gethsemanekirche, die schon in den frühen achtziger Jahren der Friedensbewegung ein Obdach geboten hatte. Im Herbst 1989 wurde hier Tag und Nacht gebetet. Direkt vor der Gethsemanekirche trieb die Stasi Hunderte Demonstranten auf die Ladeflächen hastig herbeigeholter Lkw, viele verschwanden für Wochen im Gefängnis. Heute heiraten hier die zugezogenen Schwaben und lassen im Ostergottesdienst ihre Kinder taufen. In den Garten der Gethsemanekirche hat man eine Bronzeplastik des »Geistkämpfers« von Ernst Barlach gestellt – um an die zu erinnern, die hier einst die Freiheit erkämpften.

An jenem Morgen war die Straße voll mit Menschen in meinem Alter, die meine Art Klamotten trugen und Latte-macchiato-Becher. Ich zog damals für den Job von Köln nach Berlin und wollte unbedingt eine Wohnung mit Garten. Ich hatte schon beinahe eine gemietet, in einem völlig verranzten Hinterhaus im Wedding. Meine Katzen sollten weiter Freigang haben. Aber irgendwie schauderte es mich doch, als mir klarwurde, dass alle Cafés drum herum zugezogene Vorhänge hatten. Nun also die Stargarder Straße und Latte macchiato. Was schon mal ziemlich gut war, denn der Typ an meiner Seite wollte nur da wohnen, wo er sich morgens gleich vor der Haustür Latte macchiato holen konnte. Nun ja, er hatte sich die Kaffee-Bars wohl etwas anders vorgestellt, schicker, mehr München-mäßig. Er würde sich nie wohl fühlen in der Stargarder Straße, er zog nie nach. Berlin und die Stargarder Straße waren ihm zu schmuddelig. Ich fand hier mein Zuhause. In einer Hinterhauswohnung, die einen riesigen Garten hatte. Die Wohnung war dunkel und billig renoviert. Der Garten war komplett schattig und eine Schlammwüste. Monatelang zog ich mir an jedem freien Morgen, von denen es wenige gab, meine Jeans direkt über die Schlafanzughose und begann, dieses Stück Land zu beackern. Mir ging ziemlich viel ein – zu dunkel, zu nass –, doch später blühten in meinem Hinterhausparadies Lilien und Rosen, Hibiskus, Jasmin und Bornholmer Margeriten, ich pflückte dort Minze für den Tee und beobachtete vergnügt, wie Herzgespann und Frauenmantel sich ihre Plätze suchten.

Latte macchiato gab es direkt im Vorderhaus. Im Café meiner Freundin Nicole, eine Rheinländerin wie ich. Sie war die Erste, die ich in der Stargarder Straße kennenlernte, am Tag der Wohnungsübergabe.

Der Typ an meiner Seite sah die Wohnung, die ich ausgesucht hatte, zum ersten Mal und war entsetzt. »Die Wohnung«, sagte er, »ist perfekt für dich und die Katzen.« Ich freute mich über den Garten, er hätte lieber ein Loft gehabt.

Es war einer von diesen dunklen Berliner Wintertagen, bitterkalt und ohne jede Sonne. In diesem Moment war auch die Stimmung zwischen uns deutlich abgekühlt. Wie immer brauchte er seinen Latte macchiato, und so landeten wir in Nicoles Café. Und dort stand sie hinter der Theke. Die kurzen blonden Locken unter einer dicken Wollmütze, strahlend grüne Augen und ein Lächeln so herzlich, wie nur Rheinländerinnen es zustande bringen. Sie plapperte auch gleich drauflos. Mit dieser Frau, dachte ich bei mir, möchte ich viel Zeit verbringen.

Und so kam es. Nicoles Café wurde mein Wohnzimmer. Über sie erfuhr ich alles, was rund um unser Haus geschah, über sie lernte ich alle Nachbarn kennen. Sie war Briefkastentante und Vertraute. Sie hütete meinen Wohnungsschlüssel für Gäste und die Putzfrau. Sie brachte mir abends ihre neuesten Kuchenkreationen zum Testessen. Unzählige Abende verbrachten wir auf dem Bürgersteig vor ihrem Café, Wein trinkend und mit den Vorübergehenden quatschend. Oder Wein trinkend in meinem Garten, Tom Waits hörend.

Jeden Montag und jeden Donnerstag machten wir zusammen Yoga, Anusara-Yoga, was ziemlich schweißtreibend ist und hübsche Oberarme macht. Wir waren fit wie Flummis.

Nicole sorgte auch dafür, dass ich meine Nachbarin Katja traf. »Ihr müsst euch kennenlernen«, sagte sie und verabredete uns miteinander in ihrem Café.

Sie war natürlich schon da, als ich kam. Katja ist immer superpünktlich, ich eher weniger. Sie nippte an ihrem doppelten Espresso und strahlte mich an. Die ganze Frau strahlte. Feuerrote Locken, ein zart gezeichnetes Gesicht. Jeder in der Stargarder Straße kannte sie, zumindest vom Sehen. Man konnte Katja nicht sehen und sie dann wieder vergessen. Ein Ostberliner Schriftsteller hatte sogar eine kleine Geschichte in einer Tageszeitung über sie geschrieben. Über die Frau mit den wilden roten Locken, die jeden Morgen mit ihrem Hund an seinem Fenster vorbeijoggte. »Danke«, schrieb der stille Bewunderer, »dass ich dich morgens sehen darf.«

Ich begann und beendete jeden meiner Tage mit einem Blick zu Katja. Wir konnten einander durch den Innenhof von Schlafzimmerfenster zu Schlafzimmerfenster sehen. Morgens schaute ich, ob sie schon auf war, abends, ob sie schon schlief. Katja machte es genauso. Wir arbeiteten beide viel, Katja war Heilpraktikerin und hatte ihre eigene Praxis, wir verbrachten gar nicht viel Zeit miteinander. Aber wir hatten einander im Blick, eigentlich immer.

Und dann war da noch Miranda. Sie wohnte schräg gegenüber. Wir lernten uns bei einem Naturheilkunde-Kurs kennen. Sie war genau wie Katja Heilpraktikerin, ich war nur interessiert. Miranda und ich waren beide groß und doch grundverschieden. Sie war dunkel und sehr schmal, ich war blond und nicht allzu schmal. Was auch daran lag, dass das, was sie abends als Hauptgericht aß, mir gerade so als Vorspeise reichte. Während ich für meinen Job so ziemlich alles gab, bestellte sie ihre ersten Patienten nicht vor elf Uhr. Miranda schlief gerne aus.

Miranda war ein wenig bequem. Zugleich war sie der liebste und mitfühlendste Mensch, den ich kannte. Sie hielt es mit Typen aus, die ich schon längst rausgeschmissen hätte.

Und doch waren wir seelenverwandt. Als wir uns kennenlernten, stellten wir fest, dass wir beide zum Essen am liebsten zu Ton Gluay in unserer Straße gingen. Das war eine asiatische Garküche, die einem Türken gehörte. Ton Gluay, von dem niemand weiß, ob er wirklich so hieß, warf alles, was man essen wollte, in riesige Pfannen: Gemüse, Tofu, Chili, Ingwer und frischen Koriander. In Windeseile brutzelte er die köstlichsten Gerichte und verkaufte sie für vier Euro fünfzig. Später ist er bankrottgegangen.

Was mir schmeckte, schmeckte Miranda auch, ausgenommen rohe Tomaten. Wir trugen die gleiche Art von Klamotten. Der Typ an meiner Seite sah fast genauso aus wie der Typ, mit dem Miranda sich rumschlug. Wir liebten beide Tiere, vor allem Katzen. Vor allem aber nahmen wir das Gleiche wahr. Egal, was um uns herum passierte – uns reichte ein Blick, um uns zu verständigen. Wir wussten, wer wie drauf war, und was gleich passieren würde. Was andere nicht erahnten – für uns war es offensichtlich. Wir hatten andere Antennen als die meisten Menschen, feinere.

Nie zuvor hatte ich mich so wohl gefühlt wie in jenen Jahren in Berlin. In meiner dunklen Hinterhauswohnung, mit dem Traumtypen, dem Traumjob und Nicole, Katja und Miranda um mich herum. Ich führte ein rasantes, beschwingtes und...

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