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Stephen Sondheims Sweeney Todd. Ein Werkporträt

AutorMarco Franke
VerlagDiplomica Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl149 Seiten
ISBN9783836621274
FormatPDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis43,00 EUR
Spätestens seit der Verfilmung durch Tim Burton wurde Stephen Sondheims Musical "Sweeney Todd" auch hierzulande einem breiten Publikum bekannt. 1979 am Broadway uraufgeführt, kann das Werk mittlerweile als Klassiker der Gattung bezeichnet werden und gilt gemeinhin als größte Leistung des amerikanischen Komponisten und Textautors. Aufgrund der musikalisch anspruchvollen Textur, der großen Bühnenwirksamkeit und den hohen Anforderungen, die das Werk an die Sänger stellt, wird der blutige "Musical Thriller" häufig auch von Opernbühnen aufgeführt und eignet sich zudem hervorragend für den Repertoirebetrieb eines deutschen Dreispartenhauses. Die vorliegende Untersuchung liefert eine detaillierte dramaturgische Analyse des Musicals unter besonderer Berücksichtung der musikalischen Gestaltung.

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Leseprobe
Kapitel 2.2.1.1 Situationsgestaltung in Sweeney Todd

Analog zur Situationsgestaltung im klassischen Melodrama wird die turbulente Ereignisfolge in Sondheims und Bonds Sweeney Todd durch die eben beschriebene Zufallsdramaturgie determiniert. Zufällig erblickt Anthony seine holde Johanna am Fenster der Residenz von Richter Turpin. Zufällig ist just das erste Mädchen, in das sich Anthony nach seiner Heimkehr verliebt, die Tochter seines Freundes Sweeney Todd. Ebenso zufällig entdeckt der junge Seemann im zweiten Akt das Versteck, in dem Johanna von Turpin gefangen gehalten wird, da Anthony, der planlos durch London irrt, zufällig ihren Gesang vernimmt, der aus den Mauern von Foggs Asylum auf die Straße dringt (vgl. Bond und Sondheim II, 3). Nur dem Zufall ist es zu verdanken, dass das lauschige Stelldichein von Johanna und Anthony im ersten Akt des Musicals nicht durch den heimkehrenden Richter unterbrochen wird, der quasi im letzten Moment von seinem Büttel davon abgehalten wird, die beiden Liebenden „in flagranti“ zu erwischen (vgl. Sondheim, Klavierauszug Nr. 13-15, I, 7). Auch das unbesonnene Einschreiten, mit dem Anthony am Ende des ersten Aktes Todd an seinem lang ersehnten Rachevollzug am Richter hindert, entbehrt einer plausiblen Motivation und erfolgt gänzlich akzidentiell (vgl. Bond und Sondheim I, 8), da der ungestüme Seefahrer Todd bereits zwei Szenen zuvor über seinen Entschluss, Johanna zu befreien in Kenntnis gesetzt hatte und seine Intervention damit lediglich als dramaturgisch notwendige Verzögerung von Todds Racheplänen fungiert.
Eine fatalistische Variante des Zufallsprinzips zeigt sich schließlich am Schluss von Musical und Schauspiel. Eben jene für das Melodrama charakteristische Zufallsverkettung vereitelt das melodramatische „Happy End“ und überführt das Stück in die finale Schlusskatastrophe. Zufällig treffen Anthony und Johanna nach ihrer Flucht aus Foggs Asylum vor Todd in dessen Barbiersalon ein (vgl. Bond II, 10, Sondheim II, 9). Da Anthony das Mädchen bei seinem Freund in Sicherheit vermutet, lässt er sie allein zurück.
Zufällig und ohne jeden ersichtlichen Grund gelingt es nun auch der Bettlerin, Todds tot geglaubter Frau Lucy, die in geistiger Verwirrung in Musical und Schauspiel durchs Geschehen geistert, in den Barbiersalon, ihr vormaliges Heim, einzudringen. Die verschreckte Johanna versteckt sich bei ihrer Ankunft in jener Truhe, in der schon Pirelli sein vorzeitiges Ende gefunden hatte. Kurz darauf trifft auch Todd ein und überrascht die Bettlerin. Da sich der von Todd bestellte Richter zufällig just in diesem Moment dem Etablissement nähert, sieht sich der Barbier gezwungen, die Bettlerin unschädlich zu machen, will er seine Rache nicht ein zweites Mal gefährden. Das knapp gesteckte „Timing“, mit dem ein Ereignis das andere jagt, verhindert eine mögliche Wiedererkennungs- Szene von Todd und Lucy, die in diesem kurzen Moment des Dramas zum ersten Mal allein aufeinander treffen. Doch damit nicht genug: Todd ist kurz davor, einen zweiten Familienmord zu begehen, da er sein Rasiermesser, ein wichtiges Utensil zur Beseitigung der Leichen, zufällig im Barbiersalon vergessen hat und so ein zweites Mal an den Tatort zurückkehren muss. Dort trifft er unvermutet auf seine als Seemann verkleidete Tochter, welche aus ihrem Versteck unfreiwillige Zeugin der vorangehende Morde an der Bettlerin, ihrer Mutter, und am Richter geworden ist. Nur der Schrei von Mrs. Lovett, die im Keller die Leiche von Lucy erkannt hat, ermöglicht Johanna die Flucht. Ist es im klassischen Melodrama das dramaturgische Mittel des Zufalls, das die verfahrene Situation schließlich in ein glückliches Ende münden lässt, so bedingt die Verkettung mehrerer unglücklicher Zufälle in Sweeney Todd die finale Schlusskatastrophe, in welcher sich der blutrünstige Barbier durch den Mord an seiner Frau gewissermaßen selbst für seine Freveltaten bestraft. Todds Erkenntnis, dass es sich bei der herumlungernden Bettlerin um seine Frau Lucy handelt, kommt zu spät. Die Anagnorisis-Szene, das Aufdecken der wahren Identität der Bettlerin, bewirkt damit keine glückliche Fügung, bei der die durch schurkische Intrigen getrennte Familie im Sinne einer höheren Gerechtigkeit wieder zusammenfindet, wie dies im klassischen Melodrama der Fall wäre, sondern mündet in ein blutiges Dénouement, aus dem einzig die jungen Liebenden unbescholten hervorgehen sollen. Ein „Happy End“ kann es für Todd, den Mörder, nicht geben.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Stephen Sondheims Sweeney Todd1
INHALTSVERZEICHNIS3
Einleitung: Sweeney Todd und sein Komponist5
1. Werkvergleich: Sweeney Todd – Vom Melodrama zum Musical8
1.1 Vorüberlegung: Die Legende von Sweeney Todd in England9
1.2 Didbin Pitt und das „Crime“ Melodrama im 19. Jahrhundert10
1.2.1 Dramaturgische Kurzanalyse des Didbin Pitt-Schauspiels12
1.3 Christopher Bonds Sweeney Todd und die Aufführungstradition des Melodramas in England15
1.3.1 Dramaturgische Analyse18
1.4 Die Sweeney Todd-Version von Stephen Sondheim, Hugh Wheeler und Harold Prince26
1.4.1 Die „Ballad of Sweeney Todd“26
1.4.2 Re-Dämonisierung der Titelfigur29
1.4.3 Exkurs: Die Zusammenarbeit von Stephen Sondheim und Harold Prince im Fall von Sweeney Todd32
1.4.4 Die Inszenierung von Harold Prince35
2. Sweeney Todd – Zwischen Rachetragödie und Melodrama45
2.1 Sweeney Todd – Eine Rachetragödie46
2.1.1 Kurzer Abriss zur Gattung46
2.1.2 Dramaturgische Grundzüge der elisabethanisch-jakobäischen Rachetragödie47
2.1.3 Kongruenzen und Divergenzen zu Sweeney Todd50
2.2 Sweeney Todd – Ein Melodrama53
2.2.1 Dramaturgische Grundprinzipien im Melodrama: Situationsgestaltung54
2.2.2 Figurenkonstellation und -konzeption im Melodrama58
2.2.3 Figurendisposition von Schurke, Heldin und Held im Melodrama und in Sweeney Todd61
3. „Opernhafte“ Elemente in Sweeney Todd70
3.1 Sondheim und Oper71
3.2 „Opernhafte“ Aspekte in der Konzeption von Sweeney Todd75
3.3. Allgemeine Charakteristika der Partitur: Gesangslagen77
3.4 „Opernhafte“ Musikdramaturgie in Sweeney Todd82
3.4.1 Ensembles in Sweeney Todd82
3.4.2 „Couleur locale“92
3.4.3 Erinnerungsmotive94
Schlussbetrachtung: Sweeney Todd im Oeuvre Sondheims108
Literaturverzeichnis112
INHALTSVERZEICHNIS DES ANHANGS119
Autorenprofil148

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