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Zwischen Steppenwind und Rotem Asphalt

Die Erinnerungen von Helene Hartmann an die russischen Revolutionen und die beiden Weltkriege

AutorBeate Werst
Verlagneobooks Self-Publishing
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl190 Seiten
ISBN9783742777690
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
'Ich will hier keinen Bericht über diesen Krieg abgeben, den jeder, der ihn nicht erlebt hat, nachlesen kann. Ich will nur meine ganz persönlichen Erlebnisse niederschreiben, damit meine Enkelkinder einmal erfahren, was für furchtbare Zeiten wir haben durchmachen müssen.' So schreibt Helene Hartmann, 1862 geboren, als der Erste Weltkrieg beginnt. Doch die gebürtige Hamburgerin weiß noch sehr viel mehr zu erzählen. Sie zeichnet ein lebendiges Bild ihres Lebens in Russland, wo ihr Mann Nicolai, genannt Colli, als Verwalter namhafter Güter, u.a. des Grafen Orlow-Davydow, des Fürsten Jussupow und des Generals Skoropadski, tätig ist. Bis sie und ihre Familie in den Strudel der russischen Revolution und des ersten Weltkrieges geraten. Das Buch entstand auf der Grundlage der handschriftlichen Aufzeichnungen, die Helene Hartmann nach ihrem Tod 1949 hinterließ. Diese wurden zu Veröffentlichungszwecken redigiert.

Beate Werst, geboren 1959 in Garding, hat vor über 20 Jahren ihre Liebe zum Schreiben entdeckt. Einst im Genre der kurzen Liebesgeschichten zu Hause, hat sie mit der Überarbeitung der Aufzeichnungen Helene Hartmanns ein für sie bislang unvertrautes Gebiet betreten, in dem sie sich jedoch sehr wohl fühlt. Das 'Helenen-Projekt' ist sie ein Stück weit mit Herzblut angegangen: Helene Hartmann war die Urgroßmutter einer ehemaligen Arbeitskollegin.

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Leseprobe

1. KAPITEL



Dass ich mit meinem Vater beginne und ihm beinahe ein ganzes Kapitel widme, während ich meine Mutter quasi „nebenbei“ erwähne, mag auf den ersten Blick nicht recht erscheinen, denn sie war eine warmherzige, lebenskluge Frau, die sicherlich ein gutes Stück dazu beigetragen hat, dass mein Vater seine beruflichen Ziele erreichen konnte; hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau, so sagt man doch, nicht wahr? Ebenso wenig richtig – und angesichts der Fülle seines Tuns und Wirkens nicht wirklich möglich - schien es mir, das Lebenswerk meines Vaters mit ein oder zwei Sätzen abzuhandeln.

Theodor Niebour, 1825er Jahrgang, war jemand, der schon sehr früh sehr genau wusste, was er wollte, jemand, der ein klares Ziel vor Augen hatte und alles daran setzte, es zu erreichen. Die Seefahrt faszinierte ihn, der Moment, wenn ein Segelschiff in See stach, der Bug des Schiffes sich stolz aus dem Wasser hob, während es sich zielstrebig seinen Weg aus dem sicheren Hafen hinaus aufs offene Meer bahnte. Und fragte sich, als das kindliche Staunen längst ehrlichem Respekt gewichen war, ein ums andere Mal, wie es gelingen konnte, ein solches Schiff auf Kurs zu halten und an sein Ziel zu bringen.

Inwieweit meine Großeltern die Begeisterung ihres Sohnes teilten, vermag ich nicht zu beurteilen; zumindest ließen sie ihn ziehen, als er, gerade mal 14-jährig, auf einem Segelschiff als Schiffsjunge anheuerte. Vermutlich spielte auch der Umstand eine Rolle, dass er sein eigenes Geld verdienen und ihnen nicht auf der Tasche liegen würde; gab es doch genügend hungrige Mäuler, die es zu stopfen galt.

Trotz der harten Arbeit auf den Segelschiffen wurde er es nicht müde, sich selbst weiterzubilden. Er lernte, wie man den Ort eines Schiffes bestimmte und dessen Geschwindigkeit und Kurs berechnete, wusste bald, wie er es anstellen musste, eine Schiffsroute anhand nicht nur geographischer, sondern auch meteorologischer Gegebenheiten festzulegen. Sein Eifer und sein Fleiß wurden belohnt: Mit nur 19 Jahren lehrte mein Vater bereits an der Marineschule in Kiel und gab sein Wissen weiter.

Bedingt durch seine Jugend kam es zu Beginn seiner Lehrtätigkeit vor, dass die Schüler älter waren als mein Vater; gab es doch Männer darunter, die nach jahrelanger Seefahrt erst jetzt ihr Examen als Steuermann oder Kapitän ablegten. Dennoch erwarb er, ein „Grünschnabel“, der er mit seinen 19 Jahren ja nun einmal war, sich deren Achtung und Zuneigung: Den Unterricht mit strenger Hand führend (nicht selten, dass den Schülern Begriffe wie „Dummköpfe“ und „Esel“ nur so um die Ohren flogen!), glich er seine Härte mit Menschlichkeit aus, in dem er manch Unbemitteltem Nachhilfestunden gab, der sein Pensum bis zum Examen allein nicht bewältigen konnte. Und er tat es, ohne etwas dafür zu berechnen.

Zudem verfügte er über eine ganz spezielle Art, mit den Späßen der jungen, übermütigen Menschen umzugehen, die nur kurze Zeit an Land waren und meinten, ihren Lehrer mit allerlei Schabernack herausfordern zu müssen. Dem mein Vater allerdings mit dem ihm eigenen Humor gewappnet war: So erzählte man sich, dass die Schüler einmal vor dem Unterricht an die Wandtafel „Thedje (Papas Spitzname) ist ein Esel“ geschrieben hatten. Alles grinste vor Erwartung, wie mein Vater reagieren würde.

Doch mein Vater kannte seine Pappenheimer: Die Klasse betretend, sah er sofort, dass wieder etwas ausgebrütet worden war! Gelassen schritt er auf die Tafel zu und ergänzte das Wort „Esel“ um den Zusatz „Treiber“. So hatte er den Spieß herumgedreht und den Spaß zu seinen Gunsten entschieden.

Ein anderes Mal hatten die Schüler einen Drehorgelmann vor die Fenster der Klasse bestellt. Mein Vater fixierte jeden Einzelnen, bis er schließlich zu dem, der am breitesten grinste, sagte: „Geben Sie dem Mann einen Schilling.“ Und damit hatte es sich für ihn!

Ein weiteres Mal, es war Winter, hatten sich die Schüler hinter der Ausgangstür versteckt und wollten meinem Vater einen Schneeball in den Nacken werfen. Er jedoch hatte das durch das Fenster gesehen. Rasch trat er aus der Tür, griff in den Schnee und rieb den Ersten, den er zu fassen bekam, tüchtig mit Schnee ein.

Irgendwann fand Theodor Niebour heraus, dass es neben der Seefahrt noch andere Dinge gab, an die es mit derselben Ambitioniertheit heranzugehen galt. Oberzollinspektor Marr nämlich führte in Holtenau nicht nur ein gastfreies Haus, in dem mein Vater oft und gern verkehrte; er hatte auch eine Tochter. Und eine hübsche noch dazu: Wilhelmine, meine Mutter.

Wenn mein Vater über sie sprach, vergaß er nie zu erwähnen, dass sie das schönste Mädchen am Ostseestrand gewesen sei.

Als es 1848 um die Herzogtümer Schleswig und Holstein zum Krieg gegen Dänemark kam, zog mein Vater unter v. d. Tann als Kriegsfreiwilliger mit. Nach Kriegsende trat er als Lehrer in die Navigationsschule in Hamburg ein, der er 50 Jahre, davon 35 Jahre als Direktor, angehören sollte. Im Oktober 1900 ernannte ihn die Universität Kiel zu seinem 25. Jubiläum zum Ehrendoktor, auch erhielt er viele Orden und Auszeichnungen.

Doch auch in seiner Freizeit ließen ihn die Gestirne nicht los. So stand er nachts, wenn wir Kinder längst schliefen, an seinem Fernrohr und beobachtete das Treiben der Sterne am Himmel. Bis er, wir schrieben das Jahr 1871, in einer klaren Sternennacht etwas entdeckte, was mit dem Saturn zu tun hatte. Ich erinnere nicht mehr, worum genau es dabei ging; aber ich weiß, dass es nicht so unbedeutend gewesen sein kann, denn seine Entdeckung war immerhin eine Erwähnung seines Namens in den Astronomischen Nachrichten wert.

Was er sich einst in jungen Jahren vorgenommen hatte, war also eingetreten: Er hatte es zu anerkannt hohem Wissen gebracht und sich einen Namen gemacht.


Am 6. September 1862 im Tierkreiszeichen der Jungfrau geboren, verlebte ich meine Kindheit und Jugendzeit in Bergedorf. Wir wohnten damals in der Sternwarte, deren zweites Gebäude die Hamburger Navigationsschule beherbergte, wo mein Vater ja arbeitete.

Wir Kinder waren zu viert: Meine Schwester Olga ist neun Jahre älter, mein Bruder Max neun Jahre jünger als ich; ich liege also so ziemlich genau in der Mitte. Und dann ist da noch Anna, unsere Pflegeschwester.

Eigentlich ist Anna ja unsere Cousine: Ihre Mutter, Tante Annette, ist eine Schwester unserer Mutter. Sie war, 33-jährig, bei Annas Geburt gestorben, ihr Mann, Annas Vater, acht Tage darauf. Meine Eltern nahmen die Kleine daraufhin zu sich, obwohl wir finanziell nicht gerade auf Rosen gebettet waren. Beide, weder mein Vater noch meine Mutter, ließen Anna jemals spüren, dass sie nicht deren leibliches Kind war. Vielmehr wurde sie wie eine eigene Tochter behandelt und erzogen. So sehe ich noch meine Mutter vor mir, wie sie die Kleine stundenlang mit sich herumtrug, wenn sie krank war (und Anna war oft krank!), ihr liebevoll über den weichen Kinderrücken strich oder sie sanft in ihren Armen schaukelte. Erst als sie konfirmiert wurde, erfuhr Anna, wer sie in Wahrheit war. Später heiratete sie den Kapitän Mahn, mit dem sie fünf Kinder hatte.

Mit uns Kindern war mein Vater sehr streng. Besonders Max, aus dem er etwas Besonderes machen wollte, hatte unter seiner Härte zu leiden. Dass mein Bruder in der Schule nicht recht mitkam, lag sicherlich nicht daran, dass er etwa zu dumm gewesen wäre – eher im Gegenteil, ich hielt ihn sogar für ziemlich intelligent. Aber er war ein stiller, schüchterner Junge, der immer ein bisschen länger als andere brauchte, um das Gehörte in seinem Kopf zu verarbeiten und den Lehrstoff so umzusetzen, damit er darin haften blieb. So hinkte er ständig hinter den anderen her, was sich natürlich in den Klassenarbeiten niederschlug.

Mein Vater zeigte wenig Verständnis für die langsame Denkart seines Sohnes und ließ ihn für schlechte Noten nach seiner eigenen Fasson büßen: Brachte Max nämlich ein schlechtes Zeugnis nach Hause, musste er in den Garten gehen und selbst den Stock schneiden, mit dem unser Vater ihn schlug. Und wehe!, der fiel zu dünn aus…!

Meine Mutter und ich litten unter diesem Verhalten meines Vaters. Und obwohl wir ihn verehrten, fürchteten wir ihn und seine unerbittliche Härte, die er Max gegenüber an den Tag legte. Sicherlich meinte er es auf seine Art gut, wünschte, dass aus ihm etwas Ordentliches wurde. Trotzdem hätte ich es für wünschenswert gefunden, wenn er sein Wohlmeinen auf andere Art und Weise zum Ausdruck gebracht hätte.

Gerechterweise muss bzw. kann ich sagen, dass Vater diese Härte im Alter verlor und das Verhältnis zu Max besser wurde. Max hatte derweil seinen Weg gemacht; immerhin leitete er in Spanien in Bilbao eine Vertretung von Siemens & Schuckert.


An meinen Großvater mütterlicherseits, Carl Christian Ludwig Marr, erinnere ich mich so gut wie gar nicht. Was ich von ihm weiß, beschränkt sich im Wesentlichen auf die Tatsache, dass er 20 Jahre älter war als meine Großmutter - als er sie heiratete, war sie 17! - , dass er mit ihr acht Kinder hatte und dass er vor ihr gestorben war.

An Großmutter Henriette Marr hingegen hege ich lebhafte Erinnerungen: Großmama, allgemein „Frau Justizrat“ genannt, war bei uns Kindern sehr beliebt. Sie hatte für mich immer etwas von einer Märchengroßmutter: Korpulent, wie sie war, konnte oder mochte sie sehr bald wenig gehen und saß daher nur in der Sofaecke, wo sie, eine weiße Spitzenhaube auf dem Kopf, das gütige runde Gesicht uns Kindern zugeneigt, die wir rings um sie herum auf der Lehne, auf ihrem Schoß und wo sonst noch Platz war, saßen, Märchen und Erinnerungen aus ihrer Jugend erzählte. Letztere waren das Schönste, wir konnten diese...

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