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Sterbehilfe - Erlösung oder Verbrechen? Rechtliche Aspekte eines kontroversen Problems

AutorFerda Nunninger, Simon Rietberg, Stephan Höntsch
VerlagScience Factory
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl156 Seiten
ISBN9783656589228
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Carine (43) aus Belgien ist nach einem Schlaganfall pflegebedürftig und will sterben. Darf sie über ihren Tod selbst bestimmen? Dürfen ihre Ärzte ihr dabei helfen? Ist eine solche Hilfe ein humaner Akt der Liebe oder ist es Mord? Seit Jahrzehnten wird das Thema Sterbehilfe kontrovers diskutiert. Neben zahlreichen ethischen Bedenken herrscht auch rechtliche Unsicherheit. Der vorliegende Band klärt die Begrifflichkeiten, beleuchtet die Debatte um die Sterbehilfe anhand von Fallbeispielen und erläutert die Rechtslage im europäischen Raum. Aus dem Inhalt: Aktive und passive Sterbehilfe Umgang mit Menschenrechten Die Rechtslage in Europa Fallbeispiele

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Leseprobe

Fallbeispiel: „Carine, 43, lässt sich töten“


Anhand eines Fallbeispiels soll die Problematik der Verknüpfung der aktiven Sterbehilfe mit einer anschließenden Organspende erläutert werden. Nicht nur allein die Tatsache, dass die aktive Sterbehilfe erstmalig mit einer Organspende verbunden wurde, macht diesen Fall so brisant. Es wurde nämlich, gerade aufgrund der Brisanz der Kombination, um Aufsehen zu vermeiden, mit höchster Vorsicht gearbeitet. Und trotz dieser Vorsicht lassen sich gravierende Mängel feststellen, welche die Ängste der Legalisierungsgegner bestätigen könnten. Es handelt sich bei diesem Fall um eine 43-Jährige sogenannte Frau Carine Geerts[119] aus Belgien. Dass in Belgien die aktive Sterbehilfe auch bei Patienten durchgeführt werden darf, die aufgrund ihrer Krankheit den Tod nicht unmittelbar erwarten, habe ich bereits erwähnt. Die Begutachtung, ob die Patientin entscheidungsfähig ist und ob der Sterbewunsch berechtigt ist, muss im Unterschied zu einem Sterbenskranken von drei Ärzten durchgeführt werden statt nur von zwei. Carine hätte mit ihrer Behinderung etliche Jahre länger leben können. Was war also der Grund für Carine, sich töten zu lassen? Das Leben dieser Frau wird in diesem Zeitungsartikel nach den Erzählungen ihres Hausarztes so dargestellt, dass die Frau bis zur Scheidung von ihrem Mann ein beneidenswertes Leben gehabt hätte. Danach hätte sie zwar einige jobtechnische und finanzielle Schwierigkeiten erlebt, aber dennoch hätte sie bis zu ihrer Krankheit ein sehr bewegtes und turbulentes Leben geführt. Laut der Krankenakte kam sie erstmalig am 07.11.2003 mit einem aktuellen Kopfschmerzanfall zu ihrem Hausarzt, eine Woche später wurden zusätzlich Sehstörungen und Bluthochdruck dokumentiert. Nach dem Blutdruckanstieg verfällt sie ins Koma und erwacht mit schweren Hirnschäden. Sie erhält sieben Monate Therapie in der Klinik und sieben Monate ambulante Behandlung.[120] Sie ist körperlich stabil, jedoch pflegebedürftig: „Sie kann sich nicht alleine waschen, nicht ankleiden, nicht zur Toilette gehen, kein Essen zubereiten. Ihr linker Arm ist teilweise gelähmt und lässt sich nur unter Schmerzen bewegen. In der Klinik hat sie wieder gelernt, zu gehen und Treppen zu steigen, doch sie braucht Begleitung. Ihr Sehzentrum ist geschädigt. Carine kann Bilder nicht mit Handlungen verknüpfen, es fehlt ihr die räumliche Orientierung. Obwohl die Wände in ihrer Wohnung zur besseren Orientierung mit bunten Punkten markiert sind, stößt sie an, wenn ihr niemand hilft.“[121] Nach nur 14 Monaten Therapie und gewissen Fortschritten seien die Möglichkeiten der Rehabilitation bei ihrem Krankheitsbild nach dem Psychiater Manfred Wolfersdorf, der diesen Fall überprüft habe und ein renommierter Spezialist für Depression und Suizidvorbeugung ist, nicht ausgeschöpft gewesen. Er erläutert, dass allgemein bekannt ist, dass viele Patienten nach einem Schlaganfall eine in den ersten zwei Jahren äußerst schlimm verlaufende Depression bekommen. Es vergehen aber keine zwei Jahre, genaugenommen nur 14 Monate, vom Krankheitsbeginn bis zu dem selbstbestimmten Tod dieser Frau. Sie wird am 29. Januar 2005 durch aktive Sterbehilfe getötet. Nach Manfred Wolfersdorf hätte die Patientin dringend eine längerfristige intensive und vor allem ganzheitliche Therapie und Begleitung gebraucht.[122] Die Tatsache, dass vom Krankheitsbeginn bis zu ihrem Tod nur 14 Monate vergingen, dass sie Antidepressiva nahm, dass ihre erste Willenserklärung getötet zu werden mit dem Todestag ihrer besten Freundin zusammenfiel, scheint niemanden irritiert zu haben. Im Gegenteil beschwört der die aktive Sterbehilfe durchführende Arzt, welcher zugleich als Vorsitzender der Ethikkommission über die anschließende Organspende entschieden hat, dass Carine mindestens drei Jahre Rehabilitation gehabt hätte. Die Antidepressiva seien nicht wegen einer klassischen Depression verschrieben worden, sondern nur zur Stimmungsaufhellung. Und dass ihre erste Willenserklärung am Tag erfolgte, an dem ihre an Brustkrebs erkrankte beste Freundin ebenfalls die aktive Sterbehilfe erfuhr, scheint niemand hinterfragt zu haben.[123] Denn nur vier Monate später wurde sie ebenfalls getötet. Zu ihrer Krankheit kam also der Verlust ihrer Freundin, mit der sie sich tagtäglich traf, hinzu. Dass dies ihre psychische Lage, die durch die Folgen ihrer Krankheit sowieso nicht stabil genug sein konnte, nochmals ins Schwanken gebracht haben könnte, wurde gar nicht in Erwägung gezogen. Stattdessen wurde, nachdem eine Psychiaterin die aktive Sterbehilfe bei Carine ablehnte, drei Tage vor ihrem Tod ein weiterer Psychiater hinzugezogen. Ein die aktive Sterbehilfe befürwortender und seine eigenen Demenzpatienten an der Grenze zur Entscheidungsunfähigkeit an die Willenserklärung erinnernder Arzt, stimmt bei Carine der aktiven Sterbehilfe zu.[124] Es scheint nichts unternommen worden zu sein, die Patientin zu einer lebensbejahenden Haltung zu begleiten. Die palliativmedizinische Versorgung hätte der Patientin vielleicht den Halt wieder zurückgeben können, den sie mit der Umstellung von einem selbstständigen Leben zu einem von anderen abhängigen verloren hatte. Sie betonte auch, dass ihr am meisten die Abhängigkeit von anderen zu schaffen mache. Doch stattdessen wird, da die Patienten laut Protokoll eine Woche vor Ihrem Todestermin die Bereitschaft für eine Organspende aussprach, die letzte Woche mit Organspendeformalitäten gefüllt.[125] Darüber, ob dieser Tod mit einem würdevollen, selbstbestimmten Sterben verbunden werden kann, lässt sich streiten. In dem Moment der Durchführung dieser geplanten Handlungen erhält Carine drei Medikamente. Eine tötende Spritze und zwei weitere Medikamente, die die Organe nach dem Herzstillstand vor Schäden durch Sauerstoffmangel bewahren sollen. Bei der Organtransplantation zählt jede Sekunde, denn die Organe müssen nach dem Herzstillstand und der damit verbundenen Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr schnellstmöglich entnommen und dem Organempfänger transplantiert werden, damit die Organe auch weiterhin funktionieren können. Bei diesem heiklen Fall wurden die Ärzte von Carine, die die Sterbehilfe durchführten, gebeten, bis zur Todesfeststellung im Operationssaal zu bleiben, damit keine Fehler passieren. Die Frage in dem Zeitungsartikel ist jedoch berechtigt, ob die Ärzte Carine in diesen Minuten noch als sterbende Patientin, für deren Wohl sie bis zuletzt sorgen müssen sehen oder schon als Spenderin.[126] Denn in Freude, dass durch die Organe ein neues Lebens geschenkt werden kann und in der ärztlichen Berufung Krankheiten zu heilen, könnte die Todesfeststellung voreilig bekannt gegeben werden, damit die Organe nicht geschädigt werden. Alle brauchbaren Organe bis auf ihr Herz wurden entnommen und auf fünf Kinder verteilt. Die Herztransplantation haben die Ethiker deshalb abgelehnt, da für die Entnahme eines funktionstüchtigen Herzens das Herz nicht stillstehen darf, d.h. unter Narkose entnommen werden muss. Und da die Ärzte bei dieser ersten Koppelung von Organspende an die aktive Sterbehilfe nichts falsch machen wollten, entschieden sie sich dagegen. Schließlich wäre nämlich dann die Todesursache nicht die tötende Spritze gewesen, sondern die Entnahme des Herzens, also die Organtransplantation. Ebenso wurden bei dieser heiklen Organspende die Organe, um Missverständnisse auszuräumen, nicht den klinikeigenen Patienten transplantiert, sondern Patienten in anderen Kliniken. Bei den anschließenden Kombinationen von aktiver Sterbehilfe mit Organtransplantationen wurden die Organe jedoch nicht mehr anonym, sondern klinikintern verteilt.[127] Bei diesem Fallbeispiel wird deutlich, was für eine Gefahr bei der Koppelung der Organspende an die aktive Tötung des Patienten besteht. Abgesehen von den ethisch zu hinterfragenden Mängeln bei der aktiven Sterbehilfe, obwohl bei diesem Fall diese mit großer Sorgfalt vorbereitet und durchgeführt wurde, scheint der Eindruck nicht zu trügen, dass die Koppelung der Organspende einen negativen Beigeschmack hat. Wie der Hausarzt dieser Patientin selber die Gefahr der Organspende schildert: „Diese extrem reichen Menschen, die eine Bauchspeicheldrüse brauchen, und dann ist da jemand, der ein passendes Organ hat und nicht sterbenskrank ist… Vielleicht würden sie mir zehn Millionen Euro zahlen, um den Patienten zu überreden, seine Organe zu spenden.“[128] Und das ist genau der Punkt, worauf es ankommt. Wie ich bereits erwähnt hatte, wurden die folgenden Organe nach diesem Fall klinikintern verteilt. Es erweckt den Eindruck, dass wenn die Organspende mit dem vom Patienten selbstbestimmten und würdevollen Sterben verbunden wird, eben das Sterben nicht würdevoll und selbstbestimmt geschieht. Im Gegenteil sind die Interessen des Arztes oder der Klinik so hoch, dass fraglich ist, ob letztendlich der Sterbewunsch und die Entscheidungsfähigkeit der Patienten wirklich objektiv beurteilt werden können und somit die Autonomie des Patienten bewahrt bleibt, oder ob Ärzte Patienten vielleicht aus eben den genannten Gründen überreden. Wenn Letzteres der Fall ist, ist es nämlich über die Tötung auf Verlangen hinaus schlichtweg Mord und das ist auch in den Ländern mit Legalisierung der aktiven Sterbehilfe gesetzlich verboten. Es ist unumgänglich, zwischen der Sterbehilfeanfrage, der Sterbehilfedurchführung und dem Organspendeverfahren strikt zu trennen. Diese Trennung ist erforderlich, um schreckliche Missbräuche verhindern zu können.

Utilitaristische Aspekte dieses Fallbeispiels


In dem Zeitungsartikel wird die Position des Utilitaristen Julian Savulescu dargstellt. Wie für alle Utilitaristen heilige auch für ihn ein guter Zweck jedes Mittel.[129] Nach dem...

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