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E-Book

Sterben

Warum wir einen neuen Umgang mit dem Tod brauchen

AutorMatthias Gockel
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783827079961
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
»Halte es für möglich, dass dein Arzt beim Thema Tod noch mehr Angst hat als du.« Wir müssen über den Tod reden. Es nicht zu tun, bedeutet, die Entscheidung darüber, wie wir sterben wollen, anderen zu überlassen. Der Palliativmediziner Matthias Gockel erlebt täglich, wie sehr Verdrängen und Verschweigen einen bewussten Umgang mit dem Sterben blockieren - nicht nur bei Patienten und Angehörigen, sondern auch bei ihren Ärzten. Er fordert deshalb eine neue Art der Gesprächskultur. Indem er aus seinem Berufsalltag erzählt, macht er nicht nur Mut, sich mit den eigenen Ängsten auseinanderzusetzen. Er gibt zudem wichtige Orientierungshilfen, wie sich in einem zunehmend auf Kostenersparnis ausgerichteten Medizinsystem Entscheidungen treffen lassen, die für ein Sterben in Selbstbestimmung und Würde unabdingbar sind.

Dr. med. Matthias Gockel, geboren 1970 in Wuppertal, ist Internist und leitete von 2009 bis 2017 die Palliativstation im Helios-Klinikum Berlin-Buch. Zuvor hatte er die Palliativstation am Klinikum Großhadern in München mit aufgebaut. Seit 2018 ist er Leitender Oberarzt Palliativmedizin im Vivantes-Klinikum im Friedrichshain in Berlin.

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Leseprobe

Einführung


Trau dich, über den Tod nachzudenken

Zwischen Diesseits und Jenseits


Es war ein stressiges Jahr gewesen, und ich hatte mich auf den Urlaub gefreut. Einige freie Tage über Silvester; etwas Zeit, mit Freunden über die vergangenen Monate zu reden – die ersten, in denen ich als junger Palliativmediziner an einer Münchner Klinik gearbeitet hatte. »Gut«, antwortete ich auf die Frage eines Freundes, wie es mir gehe, »richtig gut, ich bin ganz entspannt.« Wir saßen vor dem Kamin, es war Abend, und ich glaubte, was ich sagte. Doch etwas an meiner Antwort schien den Freund zu irritieren. Er sah mich aufmerksam an und fragte noch einmal: »Nein, ich meinte: Wie geht es dir wirklich

Hätte er nicht nachgehakt, wäre wohl nichts passiert, und ich wäre davongekommen. So aber brachte seine Hartnäckigkeit alles zum Einstürzen. Plötzlich rückte das in München auf der Palliativstation Zurückgelassene wieder ganz nah: Gespräche, Krankheitsverläufe, Schicksale. Und nicht zuletzt der Tod. Wie in einer Diashow zogen die Gesichter all der Patienten vor meinem inneren Auge vorbei, die ich im zurückliegenden Jahr betreut hatte und die bei uns gestorben waren. Ein langer, flackernder Zug letzter Bilder, manche schon etwas unscharf, manche noch so deutlich, als hätte ich mich gerade erst von dem Betreffenden verabschiedet. Ich begann zu weinen und konnte für eine halbe Stunde nicht mehr damit aufhören.

Das ist viele Jahre her. Heute habe ich gelernt, mit dem Thema Krankheit und Sterben, das in meinem Beruf nun einmal allgegenwärtig ist, umzugehen. Ich habe Wege gefunden, das Unumgängliche zu akzeptieren und es als Teil meines Lebens zu betrachten. Ich fliehe nicht mehr vor der Macht, die vom Tod und allem, was mit ihm zusammenhängt, ausgeht und die für viele so beängstigend ist, dass sie ihr Heil im Verdrängen suchen. Für gewöhnlich klappt das ja auch gut. Im Alltag werden wir kaum je gezwungen, an den Tod zu denken. Fast scheint es zu seiner Natur zu gehören, dass er immer nur die anderen trifft. Und die anderen sind weit weg, vor allem aber sind sie: nicht wir. Nur manchmal, wenn unsere Abwehrmechanismen versagen, merken wir, welche Dämonen im Dunkel unserer Ängste lauern, immer bereit, uns anzufallen. Dann wird uns klar, dass wir sehr weit davon entfernt sind, den Tod als das wahrzunehmen, was er ist. Er ist das am wenigsten überraschende Ereignis der Welt.

Dass das auch und vielleicht sogar ganz besonders für Menschen gilt, die im Beruf häufig mit Sterben und Tod konfrontiert werden, habe ich immer wieder bei Workshops mit angehenden Ärzten erlebt. Zum ersten Mal geschah das vor einigen Jahren auf Einladung der Münchner Studierendeninitiative »MuM – Medizin und Menschlichkeit«. Engagierte junge Leute, die mehr wollten als das, was ihnen der Uni-Betrieb zu bieten hatte, und deshalb für eine Woche ein Seminarhaus irgendwo in Oberbayern angemietet hatten. Für Blicke über das Curriculum hinaus waren verschiedene Dozenten eingeladen worden, etwa ein Psychologe, aber auch ein Komplementärmediziner, der über alternative Heilmethoden referieren sollte. Mich hatte man für den Bereich »Medizin und Sterblichkeit« angefragt.

Schon kurz nach meiner Zusage war mir klar gewesen, dass ich keinen trockenen Vortrag halten wollte. Die Teilnehmer sollten sich auf einer eher emotionalen Ebene mit dem Thema Sterblichkeit auseinandersetzen. Dazu schwebten mir einige Reflexionsübungen vor, die ich selbst im Rahmen meiner Palliativausbildung kennengelernt hatte. Sie waren mir im Gedächtnis geblieben, weil sie mich damals alles andere als gleichgültig gelassen hatten. Nun wollte ich herausfinden, ob es mir gelingen konnte, ähnliche Emotionen auch bei anderen hervorzurufen.

Für die erste Übung trennte ich den Seminarraum mithilfe eines Seils in zwei Hälften. Eine Hälfte blieb leer, in der anderen versammelten sich die zwanzig Teilnehmer, die ich in kleine Gruppen aufteilte, nachdem jeder Einzelne durch Durchzählen seine eigene Nummer erhalten hatte. Dann erläuterte ich die Aufgabe. Jeder sollte den anderen in der Gruppe erzählen, warum er heute hier war. Das Mitgeteilte sollte möglichst individuell ausfallen und durfte gern auch sehr persönlich sein. Wichtig war, ins Reden zu kommen und zu versuchen, sich den anderen ein wenig näherzubringen.

Natürlich gab es einen Haken an der Sache, schließlich sollte es keine reine Gesprächsrunde werden. Ich kündigte an, in gewissen Zeitabständen einen Gong zu betätigen und eine Zahl aufzurufen. Der Teilnehmer, zu dem die Zahl gehörte, musste dann auf der Stelle aufstehen und sich in die andere Hälfte des Raums begeben, und zwar ganz egal, ob er gerade nur zuhörte oder mit Erzählen dran war. Dort sollte er stehen bleiben und den anderen zuschauen, konnte aber selbst nicht mehr ins Geschehen eingreifen und durfte sich auch nicht mit seinen nach und nach hinzukommenden Nebenleuten unterhalten. Wann der Gong jeweils ertönte und welche Zahl aufgerufen wurde, lag allein in meinem Ermessen. Eine Art »Reise nach Jerusalem« also. Aber eine, die unter der Überschrift »Sterblichkeit« stand und daher bei allen, ohne dass ich das explizit aussprechen musste, die entsprechenden Assoziationen auslöste. Das zeigte sich spätestens bei den Rückmeldungen nach Ende der Übung.

Eine Studentin sagte: »Ich wollte meine Geschichte erzählen, unbedingt. Aber ich kam und kam nicht dran. Und dann redete der Typ unmittelbar vor mir auch noch mit einer Engelsgeduld über das langweiligste Zeug, das man sich nur vorstellen kann. Warum konnte der sich nicht kurz fassen oder schneller reden? Oder sich wenigstens auf wirklich Wichtiges konzentrieren? Aber plötzlich machte es klick, und mir wurde bewusst, dass es gleich für mich vorbei sein konnte; dass also diese Erzählungen möglicherweise das Letzte waren, was ich hörte, bevor ich starb. Und von dem Moment an war alles anders. Ich glaube, ich habe noch nie jemandem bei einem so langweiligen Vortrag mit einer so großen Aufmerksamkeit zugehört. Und ich war glücklich dabei.«

Ein anderer sagte: »Auch mir war es unheimlich wichtig, erzählen zu können, und ich kam ja auch an die Reihe. Nur eben als Allerletzter, als sich alle anderen schon drüben, in der anderen Hälfte des Raums, befanden. Niemand war mehr da, der meine Geschichte hören konnte. Da habe ich gelernt, dass man beim Wünschen besser vorsichtig ist. Denn in Wahrheit war es mir gar nicht so sehr darum gegangen, zu Wort zu kommen, sondern darum, von jemandem gehört zu werden.«

Am härtesten traf es den Studenten, der als Erster auf die andere Seite gerufen wurde. Er musste erleben, dass sein Verstummen und damit sein »Tod« für die anderen nur ein banaler Zwischenfall war. Die entstandene Lücke wurde schnell geschlossen, und das Leben ging weiter, als wäre überhaupt nichts geschehen. Aber auch für ihn gab es Trost, denn ganz undurchlässig war die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits dann doch nicht: »Ich fand das so ungerecht, ganz allein im Nichts zu stehen, bis ich sah, wie ein guter Freund zu mir herüberschaute und mit den Lippen lautlos den Satz formte: ›Hinter dir, der Nachtisch!‹ Tatsächlich, da stand der Kuchen! Und auf einmal war das mit dem Sterben gar nicht mehr so schlimm.«

So enthielt diese Übung sogar noch eine von mir gar nicht eingeplante Lektion in Sachen Hoffnung aufs Paradies …

Das Leben ist manchmal ein Arschloch


Die zweite Übung zielte noch stärker auf die jeweilige Persönlichkeit des Einzelnen, auf seine Hoffnungen und Werte. Aus diesem Grund kann man sie recht gut auch ganz für sich allein, in der eigenen Vorstellung durchspielen. Ich verteilte an jeden der Teilnehmer fünf Karteikarten und einen Stift, dann nannte ich das Motto der Übung: »Was ist mir wirklich wichtig im Leben?«

Jeder hatte eine Viertelstunde Zeit, um diese Frage für sich zu beantworten, und zwar anhand von bestimmten Kategorien: Welche Person ist mir am wichtigsten? Auf welche meiner Fähigkeiten bin ich am meisten stolz? Gibt es etwas an meinem Äußeren, auf das ich großen Wert lege? Welchen Traum möchte ich noch verwirklichen? Und schließlich: Welcher materielle Gegenstand besitzt den höchsten Wert für mich? Fünf Kategorien, fünf Karteikarten, fünf Antworten. Je kürzer sie ausfielen, desto besser. Nur ein Stichwort war verlangt, keine Begründung. Also etwa: »Paul«; »anderen Sicherheit geben« oder auch: »Klavier spielen können«; »meine Hände«; »eine Weltreise unternehmen«; »die Armbanduhr, die ich von meinem Vater geerbt habe«. Zwar würde die Übung in der Gruppe abgehalten werden. Was jeder auf seine Karten geschrieben hatte, würde aber, das versicherte ich den Teilnehmern vor Beginn, weder den anderen gezeigt noch laut vorgelesen werden.

Dann ging es los. Ich stellte mich in die Mitte des Raums und sagte: »Leben, das bedeutet sehr oft auch Verlust. Dinge gehen verloren, Träume zerplatzen, es gibt schwere, uns für immer verändernde Krankheiten, und Menschen, die wir lieben, sterben. Es kann nicht schaden, sich das gelegentlich klarzumachen.«

Ich griff nach einer großen Schale, die ich mitgebracht hatte, und begann meinen Gang von Teilnehmer zu Teilnehmer. Jeder sollte sich von einer der fünf Karten, die er in der Hand hielt, trennen und sie in die Schale legen. Den meisten, das zeigt die Erfahrung, fällt diese erste Wahl noch leicht. Sie entscheiden sich für den Gegenstand. Weg mit der geliebten Lederjacke, der in einer glücklichen Stunde erworbenen Kafka-Erstausgabe oder dem so lange gehüteten Bündel Briefe, zusammengehalten von einer roten Schleife. Das Hergeben mag zwar durchaus schmerzen, berührt aber noch nicht den Kern der Persönlichkeit. Interessanterweise fand sich am Ende dieser Eröffnungsrunde...

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