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E-Book

Sterben ohne Angst

Was Palliativmedizin leisten kann

AutorClaudia Bausewein
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783641172435
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Die Angst vor dem Sterben hat meist mit Vorstellungen von Schmerzen, Einsamkeit und Leid zu tun. Dabei kann mithilfe der modernen Palliativmedizin Sterben heute in nahezu jeder Hinsicht als friedlicher Abschied gestaltet werden. Claudia Bausewein erklärt die medizinische Dimension der Palliativversorgung und geht auf existenzielle Fragen ein, die Sterbende bedrängend erleben. Denn ein gutes Lebensende hat nicht nur mit Medikamenten zu tun.



Claudia Bausewein, geb. 1965, ist Lehrstuhlinhaberin für Palliativmedizin an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und ist Direktorin der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin am Klinikum der Universität München

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Leseprobe

Mein Weg zur Palliativmedizin

Als ich 1984 mein Abitur machte, wäre ich nie auf die Idee gekommen, Palliativmedizinerin zu werden. Von dieser Fachrichtung hatte ich noch nie etwas gehört – die erste Palliativstation Deutschlands war erst ein Jahr zuvor in Köln eröffnet worden, das erste Hospiz Deutschlands sollte zwei Jahre später in Aachen gegründet werden. Ich wollte Medizin studieren und um einen Einblick in den Krankenhausalltag zu bekommen, absolvierte ich zunächst ein freiwilliges soziales Jahr in einem großen Münchener Krankenhaus. Ich arbeitete als Pflegehelferin auf einer internistischen Station. Auf einer klassischen internistischen Station liegen viele alte und ältere Menschen, und auf einer solchen Station wird gestorben. Mit dem Tod war ich bis dahin nicht in Berührung gekommen, aber er schreckte mich nicht ab – im Gegenteil bemerkte ich alsbald, dass ich mich gerne um sterbende Menschen kümmerte. Als ich eingearbeitet war und selbstständiger handeln durfte, kümmerte ich mich vorzugsweise um diese Patienten. Hintergrund war meine Beobachtung, dass sowohl viele der Ärzte als auch der Pflegenden eine merkwürdige Art hatten, mit den Sterbenden umzugehen: Sie sahen weg oder taten so, als sei alles wie immer.

Es waren zwei Erlebnisse auf dieser Station, die mich tief erschütterten und die richtungsweisend für meinen späteren Weg sein sollten. Die eine Situation war bei der morgendlichen Pflege einer Patientin, bei der ich eine sehr engagierte und fähige, aber wenig einfühlsame Krankenschwester begleitete. Wie bei allen Zimmern, stieß die Krankenschwester auch beim dritten oder vierten Zimmer die Türe geräuschvoll auf, schaltete die grelle Deckenbeleuchtung ein, riss die Vorhänge auf und rief mit lauter Stimme: »Na, wie geht es uns denn heute?« Dass im Bett eine sterbende Patientin lag, wusste die Krankenschwester – und dennoch ging sie mit keinem Wort, keiner Geste auf deren besondere Situation ein.

Ebenso erinnere ich mich an einen älteren Patienten mit Prostatakarzinom, der Knochenmetastasen hatte und jedes Mal vor Schmerzen schrie, wenn wir ihn beim Waschen drehten. Die damalige Schmerztherapie war aus heutiger Sicht katastrophal: Während heute Schmerzmittel regelmäßig nach einem festen Zeitschema verabreicht werden, um möglichst zu verhindern, dass die Schmerzen wieder auftreten können, wurden die Schmerzmittel damals nur bei Bedarf gegeben, und oftmals waren es Medikamente, die – wie man heute weiß – nicht besonders gut wirkten. Ich habe das Bild dieses Mannes mit dem schmerzverzerrten Gesicht noch heute vor Augen. Ich litt mit diesem bedauernswerten Menschen mit.

Diese und weitere Erfahrungen führten zunächst dazu, dass ich mein Vorhaben, Medizin zu studieren, aufgeben wollte: »Ein solches System kann und will ich nicht mittragen«, war mein Gedanke. Ich hatte aber das Glück, auf der Station zwei Ärzte kennenzulernen, die mir vieles zeigten und mich für die (Möglichkeiten der) Medizin so begeisterten, dass ich mich zu guter Letzt doch zum Medizinstudium entschloss. Die Begegnungen und Eindrücke mit Sterbenden aus der Zeit meines sozialen Jahrs haben mich jedoch nicht mehr losgelassen. So fing ich an, mich neben meinem Studium mit dem Thema Sterben und Tod zu beschäftigen. Ich las die Bücher der Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross, die als Begründerin der Sterbeforschung gilt, und machte die Bekanntschaft des Münchner Jesuiten und Dokumentarfilmers Reinhold Iblacker SJ, der für seinen Film »Noch 16 Tage – eine Sterbeklinik in London« (1972), den er über das St. Christopher’s Hospice von Cicely Saunders in England gedreht hatte, den Adolf-Grimme-Preis bekam. Bis heute gilt diese Dokumentation als Meilenstein, weil sie erstmals Sterbende ins Rampenlicht und damit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte. Der Film beschreibt das Leben in dem Londoner Hospiz und die Art der außergewöhnlichen Betreuung, die den Sterbenden dort zuteilwird. 16 Tage war damals die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in St. Christopher’s, bis die Patienten verstarben. Aufgerüttelt und betroffen durch seine Erlebnisse in London machte es sich Reinhold Iblacker zur Aufgabe, die Hospizbewegung in Deutschland mit auf den Weg zu bringen. So wurde er 1985 auch Mitbegründer des Christophorus Hospiz Vereins in München, dem ältesten deutschen Hospizverein.

Von England nach Deutschland

Hospizarbeit und Palliativmedizin lagen in Deutschland also noch in der Wiege, als ich mit meinem Studium anfing. Die Vorreiterstellung nahm England ein, angeführt von der Ärztin Dr. Cicely Saunders, einer ehemaligen Krankenschwester und Sozialarbeiterin, die bereits 1967 im Südosten Londons das erste moderne Hospiz eröffnet hatte und bis zu ihrem Tod eine Schlüsselfigur der Hospizbewegung bleiben sollte.

Ich habe das Glück gehabt, Cicely Saunders mehrfach treffen zu dürfen. Zustande kam der Kontakt über Reinhold Iblacker, der ein erstes Treffen Ende der 1980er-Jahre anbahnte. 2003 hatte ich wieder Kontakt zu ihr, als ich den Cicely Saunders Prize für meine Masterarbeit am King’s College London bekam. 2005 erhielt ich ein Stipendium ihrer Stiftung, die Forschung in der Palliativmedizin fördert. Da lag sie schon mit ihrer Tumorerkrankung in ihrem eigenen Hospiz.

Ich habe sie als inspirierende, entschiedene, sehr beeindruckende und lebensfrohe Frau in Erinnerung, die von einer besonderen Aura und Ausstrahlung umgeben war. Sie hat ihr ganzes Leben der Verbesserung der Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden gewidmet und unermüdlich Menschen für ihre Ideen begeistert und Gelder und Ressourcen freigemacht, damit sich in der Betreuung dieser Menschen auch wirklich etwas veränderte. Selbst als sie bereits schwer erkrankt war, zeigte sie sich noch interessiert an unserer Arbeit wie überhaupt an ihrem großen Lebensthema, und fragte detailliert nach. Kurz vor ihrem Tod durfte ich sie nochmals besuchen. Als ich bei ihr saß, am späten Nachmittag, hatte sie trotz der regelmäßigen Einnahme von Schmerzmedikamenten vorübergehend leichte Schmerzen, verursacht durch Knochenmetastasen. Pünktlich um 17 Uhr kam die Schwester in ihr Zimmer und brachte ihr ein Gläschen Whiskey, was Dame Cicely in ihrer trockenen Art mit den Worten kommentierte: »It’s still the best pain killer.«

In ihrem St. Christopher’s Hospice kamen unheilbar kranke und sterbende Menschen in den Genuss einer spezialisierten medizinischen Behandlung, die durch eine pflegerische Betreuung mit emotionaler, spiritueller und sozialer Unterstützung ergänzt wurde. Cicely Saunders formulierte ihr Ziel so: »Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.« Von einer solchen Fürsorge konnten hierzulande damals viele Sterbende nur träumen. In den 1970er-Jahren starben immer mehr Menschen im Krankenhaus, sie starben also nicht mehr zu Hause, aber noch nicht im Hospiz. Die heutigen Strukturen mit stationärer oder ambulanter Palliativversorgung gab es noch nicht. Im Krankenhaus aber waren die Sterbenden oft völlig unpassend untergebracht. Das bestätigt eine medizinisch-soziologische Arbeit aus den 1970er-Jahren, die es als Ziel des Krankenhauses herausarbeitete, Menschen zu heilen oder zumindest wieder so herzustellen, dass sie auch mit einer chronischen Erkrankung langfristig leben konnten. Soziologisch gesehen hatten Sterbende in diesem System keinen Platz.3 Und das bekamen sie zu spüren. Bei der Visite etwa konnte man Sätze hören wie: »Den Patienten in Zimmer 114 können wir überspringen, der stirbt sowieso.«

Ende 1986 besuchte ich Reinhold Iblacker in München und er erzählte mir von der Hospizbewegung und seinen Erfahrungen, die er beim Drehen seines Films im St. Christopher’s Hospice gemacht hat. Diese in Deutschland noch junge Initiative begeisterte mich. Endlich war ich auf einen Weg gestoßen, wie man dem Dilemma, das ich in meinem freiwilligen sozialen Jahr erlebt hatte, begegnen könnte. Iblackers Hospizverein bot kurz darauf erstmalig ein Seminar zur Ausbildung von Hospizhelfern an, das ich besuchte. Es ging um die Auseinandersetzung mit den Themen Sterben, Tod und Trauer, um die Fragen und Nöte schwerkranker, sterbender Menschen und ihrer Angehörigen, die Aufgaben der ehrenamtlichen Helfer und die Möglichkeiten der Hospizidee. Einige Teilnehmer sollten ihr Leben über viele Jahre der Hospizbewegung widmen oder entscheidende Rollen in der Entwicklung der Palliativmedizin übernehmen.

»Noch 16 Tage« – Ein Film bringt die Hospizidee nach Deutschland

In diesem Film über das St. Christopher’s Hospice in London, der am 10. Juni 1971 im ZDF ausgestrahlt wurde, werden sehr behutsam und unsentimental die Stationen des Abschieds beschrieben: die Einweisung in das Hospiz; der Transport im Taxi und die Blicke des Fahrers, der weiß, dass seinem Fahrgast nicht mehr zu helfen ist; das Leben im Hause; eine Frau, die sich schön macht; dann die Sekunde des Übertritts, sanft und sachlich gezeigt. Schließlich das Danach, wenn das Gesicht wieder anmutig wird, das Kreuz auf der Brust ruht und das Bett aus dem Zimmer gerollt wird. Es ist ein leiser Film, ein Film, für dessen Kameraeinstellungen gilt: Die Sterbenden bestimmen das Tempo. Immer wieder kehrt man als Zuschauer von Interviews und Sachinformationen zurück, um die Trennung von Leben und Tod, gespiegelt durch die Diskrepanz zwischen den einen, die sich in einer letzten großen Anstrengung verständlich zu machen suchen, und den anderen, von denen nicht erkennbar war, ob sie das ihnen Bedeutete, die Augensprache überhaupt noch verstehen. Besonders beeindruckend sind die kurzen Interviews mit Cicely Saunders, in denen zum Ausdruck kommt, was auch heute unverändert...

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