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Sterben und Tod als Unterrichtsthema für Schüler mit geistiger Behinderung

Aktueller Forschungsstand und Möglichkeiten der unterrichtlichen Umsetzung an der Förderschule

AutorMartin Bube
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl237 Seiten
ISBN9783656256120
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,0, Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg (Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik), Sprache: Deutsch, Abstract: Die Todesvorstellungen geistig behinderter Jugendlicher wurden bisher kaum empirisch untersucht, so dass es insgesamt auch nur wenige Erkenntnisse über deren Todesverständnis gibt. In diesem Artikel stellt Martin Bube seine Interviewstudie vor, in der er neun geistig behinderte Jugendliche über deren Erleben und Bewältigung von Sterben und Tod befragt und schildert die wichtigsten Ergebnisse. Der Leser erhält so Einblick in die Todesvorstellungen der befragten Personengruppe und in deren Todesverständnis. Ziel des Artikels ist es dem Tod, als wichtiges Lebensthema, einen angemessenen Stellenwert in der Schule einzuräumen und den Sonderschullehrern Mut zu machen, sich dieser Thematik im Unterricht zu stellen. Nur so können geistig behinderte Kinder und Jugendliche bereits im Schulalter lernen, den Tod als Teil des Lebens zu verstehen.

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Leseprobe

5. Der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Tod und Sterben


 

5.1 Die Todesvorstellung von Kindern und Jugendlichen


 

Wie im vorherigen Kapitel aufgezeigt wurde, lassen die gesellschaftlichen Bedingungen und die damit verbundenen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche kaum mehr eine natürliche Begegnung und einen natürlichen Umgang mit Tod und Sterben zu und machen es ihnen heute zunehmend schwerer eigene Todesvorstellungen zu entwickeln.

 

Was aber weiß ein Kind überhaupt vom Tod? Und woher hat es dieses Wissen? Diese Fragen wurden lange Zeit nicht untersucht. Obwohl Sylvia Anthony (1937) und Maria Nagy (1948) schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Untersuchungen zum kindlichen Todeskonzept anstellten, wurde die Todesvorstellung von Kindern und Jugendlichen erst ab den späten 1950er Jahren zu einem festen Gegenstand psychologischen Interesses. Seit den 1980er Jahren wird die Entwicklung des Todeskonzepts bei Kindern durch empirische Untersuchungen der Thanatopsychologie, die sich mit dem Erleben und Verhalten gegenüber Sterben und Tod befasst, intensiv und wissenschaftlich erforscht (vgl. Neimeyer et al. 2003b, 110/ Kastenbaum 1989c, 267). Auch wenn die Thanatopsychologie trotz alledem in den USA bisher nur einen geringen und in Europa kaum einen Stellenwert hat, „kann man heute auf eine vergleichsweise differenzierte Befundlage mit einer erfreulich breiten Datenbasis zurückgreifen“ (Wittkowski 1990, 43/ vgl. auch Ochsmann 1993, 176).

 

Die Thanatopsychologie erforscht das Erleben und Verhalten gegenüber Tod und Sterben mit empirischen Methoden. „Dabei handelt es sich um den Versuch, den Tod ganz pragmatisch unter rein rationalen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten“ (Zingrosch 2000, 70). Ich werde im Folgenden die aktuellen Ergebnisse der Thanatopsychologie ausführlich vorstellen, um dem Leser das Ziel, den Inhalt und die methodische Vorgehensweise meiner eigenen empirischen Untersuchung verständlich und theoretisch gut begründet vor Augen zu führen.

 

Bevor wir uns aber den Forschungsergebnissen zuwenden, sollte geklärt werden, was überhaupt „Todesvorstellungen“ oder gleichbedeutende Begriffe wie „Todeskonzepte“, „Todeserleben“ und „Todesbilder“ meinen.

 

„Das Todeskonzept bezeichnet die Gesamtheit aller kognitiven Bewußtseinsinhalte (Begriffe, Vorstellungen, Bilder), die einem Kind oder einem Erwachsenen zur Beschreibung und Erklärung des Todes zur Verfügung stehen. Das Todeskonzept beinhaltet eine kognitive Komponente, an der primär Wahrnehmung und Denken beteiligt sind, sowie eine emotionale Komponente, welche die mit einzelnen kognitiven Inhalten des Todeskonzepts verbundenen Gefühle abdeckt“ (Wittkowski 1990, 44).

 

In der psychologischen Forschung wird also zwischen kognitiver und emotionaler Ebene der Todesvorstellung unterschieden, obwohl die emotionale und kognitive Dimension des Todeskonzepts eng miteinander verknüpft sind (vgl. Ramachers 1996, 121). Auch ich werde aus Gründen der besseren Übersicht beide Seiten getrennt vorstellen.

 

5.1.1 Die kognitive Komponente der Todesvorstellung


 

Um die Gesamtheit des Todeskonzepts vollständig zu erfassen, wurde in den letzten Jahrzehnten versucht, Subkomponenten des kognitiven Teils des Todeskonzepts näher zu bestimmen. Speece und Brent kamen 1984 aufgrund ihrer Untersuchungen auf drei empirisch unabhängige Komponenten eines „reifen Todeskonzepts“, an dem die Entwicklung der kindlichen Todesvorstellung gemessen werden kann (vgl. Wittkowski 1990, 49/ Ramachers 1994, 15/ Ramachers 1996, 55f/ Habermas/Rosemeier 1990, 264/ Wass 2003, 89).

 

Ein reifes Todeskonzept beinhaltet demnach das Wissen um:

 

Universalität

 

Universalität meint die Einsicht in die Unvermeidbarkeit des Todes: Jedes Lebewesen muss früher oder später sterben!

 

Irreversibilität

 

Irreversibilität meint die Unumkehrbarkeit des einmal eingetretenen Todes: Tote sind und bleiben tot, daran ist nichts zu ändern!

 

Nonfunktionalität/ Funktionsverlust

 

Nonfunktionalität meint die Erkenntnis, dass alle lebensnotwendigen Körperfunktionen mit dem Eintritt des Todes aufhören: Tote Menschen können nichts mehr machen!

 

Wittkowski ergänzt aufgrund neuerer Untersuchungen eine vierte Komponente des kindlichen Todeskonzepts (vgl. Wittkowski 1990, 49):

 

Kausalität

 

Kausalität meint das realistische Verständnis der Todesursachen: Der Tod tritt ein, wenn der Körper seine lebensnotwendigen Funktionen einstellt!

 

Diese vier kognitiven Komponenten müssen mindestens vorhanden sein, um von einem voll entwickelten Todeskonzept im Sinne eines Erwachsenen sprechen zu können. Der Tod wird also erst dann in seiner vollständigen Bedeutung verstanden, wenn der Mensch alle vier Komponenten erfasst und damit ein reifes Todeskonzept erlangt hat. Menschen mit einem reifen Todeskonzept „können logisch und biologisch zutreffende Kennzeichnungen der einzelnen Subkonzepte des Todeskonzepts geben“ (Wittkowski 1990, 58).

 

Die Forscher weisen allerdings darauf hin, dass die vier Komponenten nur kognitive Aspekte des Todeskonzepts berücksichtigen und dass der Begriff „reifes Todeskonzept“ höchst spekulativ und zweifelhaft ist (vgl. Ramachers 1996, 16/ Gebhard 1994, 178).

 

„Das Kind muß das “Nichts“ als “reifes Todeskonzept“ kognitiv erfassen. Diese Anforderung übersteigt nach hiesiger Auffassung sogar die kognitiven Fähigkeiten vieler Erwachsener. Die Darstellungen der Entwicklung von kindlichen Todeskonzepten sind daher nur aus der Erwachsenen Sicht heraus konstruierte Annahmen, deren inhaltliche Wahrheit letztendlich nur mit einer größtmöglichen Wahrscheinlichkeit zutreffend ist“ (Ramachers 1996, 16).

 

Das Todeskonzept stellt also lediglich ein Konzept dar, das eine gewisse Orientierung über die Entwicklung der menschlichen Todesvorstellung bieten kann, und keine ewige Wahrheit. Ein Todeskonzept liefert damit keine für jedes Kind gültige Darstellung der Ereignisse. Das gilt besonders in Bezug auf Menschen mit einer geistigen Behinderung. Das Todeskonzept ist ein Konstrukt von nicht behinderten Theoretikern und kann somit nur Teilaspekte des schwer fassbaren Phänomens der geistigen Behinderung erschließen und begrenzt Wissen für die Sonderpädagogik liefern (vgl. Eberwein 1985, 103). Dies zeigt sich auch in den bisherigen Untersuchungen zur Entwicklung des kindlichen Todeskonzepts. Sie liefern bedingt durch ihre unterschiedlichen Fragestellungen, Probanden und Untersuchungsmethoden teilweise unscharfe und widersprüchliche Ergebnisse und sind nur schwer miteinander vergleichbar (vgl. Warren 1984, 186/ Wittkowski 1990, 44ff). Außerdem handelt es sich bei den Studien ausnahmslos um Querschnittstudien. Längsschnittstudien existieren nicht.

 

Alle beschreiben allerdings eine Art Phasenfolge für die Entwicklung der kindlichen Todesvorstellung und zeigen einen deutlichen Alterseffekt (vgl. Ramachers 1994, 36/ Habermas/Rosemeier 1990, 267). Das Lebensalter beeinflusst demnach das Verständnis des kognitiven Todeskonzepts. „Je älter ein Kind ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß es ein „reifes“ Todeskonzept hat“ (Wittkowski 1990, 67). Das Todeskonzept wird mit steigendem Lebensalter also „präziser“ und „richtiger“.

 

Da ebenfalls eine deutlich positive Beziehung zwischen dem chronologischen Alter und dem kognitiven Entwicklungsstand besteht, sind einige Forscher der Meinung, Piagets Theorie der geistigen Entwicklung sei als Bezugsrahmen für die Entwicklung des Todeskonzepts geeignet (vgl. Wittkowski 2002, 11/ Wass 2003, 88). Obwohl manche Kritiker in den meisten dahingehenden Untersuchungen eine allzu vage theoretische Verknüpfung zwischen Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung und den Komponenten des Todeskonzepts sowie eine Vernachlässigung individueller todbezogener Lernerfahrungen bemängeln, wird eine gewisse Parallele zwischen der geistigen Entwicklung im Sinne Piagets und der Entwicklung des Todeskonzepts nicht ausgeschlossen (vgl. Ramachers 1994, 60/ Ramachers 1996, 27/ Habermas/Rosemeier 1990, 267). Die kognitive Entwicklung des Menschen unterstütze einige strukturierende Leistungen in bestimmten Gebieten, die ihrerseits wiederum für das Todesverständnis bedeutsam sind. Die Fähigkeit zwischen „belebt“ und „unbelebt“ zu unterscheiden beispielsweise, erleichtert wahrscheinlich auch das Verständnis von der Universalität des Todes. Es scheint zu stimmen, „daß die allgemeine kognitive Entwicklung zumindest einen gewissen strukturierenden Einfluß auf die Vorstellung vom Tod hat“ (Habermas/Rosemeier 1990, 271). Für eine genaue Erläuterung des Entwicklungsmodells von Piaget sei auf andere Autoren verwiesen (vgl. Piaget 2003/ Montada 2002/ Sodian 1998).

 

Aufgrund des aufgezeigten Zusammenhangs zwischen dem Lebensalter, der kognitiven Entwicklung und der Entwicklung des Todeskonzeptes erscheint die Darstellung der Entwicklung der Todesvorstellungen in Form von Altersangaben sinnvoll, auch wenn diese je nach Studie stark variieren. Die bisherigen Ergebnisse deuten auf eine „enorme interpersonelle Variation“...

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