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Sternstunden

Jena 1800 und der Aufbruch in die Moderne

AutorPeter Neumann
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641260170
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Die Geschichte eines philosophischen Aufbruchs
Mit den Ideen der Französischen Revolution gerät nicht nur das alte Europa ins Wanken. Eine ganze Generation von Dichtern und Philosophen beschließt, die Welt neu zu denken. Die führenden Köpfe - darunter die Brüder Schlegel mit ihren Frauen, der Philosoph Schelling und der Dichter Novalis - treffen sich in Jena, um eine »Republik der freien Geister« zu errichten. Sie stellen gesellschaftliche Traditionen infrage und revolutionieren zugleich auch unser Verständnis von Freiheit und Wirklichkeit - bis heute. Leidenschaftlich erzählt Peter Neumann von dieser ungewöhnlichen Denkerkommune, die den geistigen Aufbruch in die Moderne vorbereitete.

Das Buch ist 2018 unter dem Titel »Jena 1800« beim Siedler Verlag erschienen. Enthält zahlreiche Abbildungen.

Peter Neumann, geboren 1987, ist promovierter Philosoph. Er lehrte an den Universitäten Jena und Oldenburg und ist seit November 2021 Redakteur im Feuilleton der Wochenzeitung DIE ZEIT. 2018 erschien bei Siedler 'Jena 1800. Die Republik der freien Geister'. Peter Neumann lebt in Berlin.

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Leseprobe

Das Wagnis der Freiheit:

Madame Böhmer probt den Aufstand

Man erzählt sich noch viel über sie, hier auf den Straßen in Jena, hinter vorgehaltener Hand, wenn sie über den Markt schlendert. Immer dienstags, donnerstags und samstags, während sich die Bäuerinnen ahnungslos zwischen ihren Körben, Wagen und Buden die Beine in den Bauch stehen und ihre Stimmen über den Platz donnern: Frisches Obst! Frisches Gemüse! Man erzählt sich, Caroline Schlegel habe mit den Jakobinern unter einer Decke gesteckt, damals in Mainz, an der Seite des berühmten Naturforschers und Reiseschriftstellers Georg Forster, als die Stadt, von französischen Revolutionstruppen erobert, kurzerhand zur Republik ausgerufen worden war. Eine Revolution von unten. Die erste Republik auf deutschem Boden.

Die Zeit in Mainz ist auch an Caroline nicht spurlos vorübergegangen. Sie hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, von einer enthusiastischen Zuschauerin der Revolution zur verfolgten Parteigängerin zu werden. Sie kennt den Moment, in dem das eigene Leben aus der Bahn gerät, sich die Ereignisse überschlagen und alles auf dem Spiel steht. Sie weiß, wie es ist, wenn nur die rettende Hand eines Freundes einen Menschen vor dem Abgrund bewahren kann, der ihn in Wirklichkeit schon verschlungen hat. Ihr Name zeugt von dem Schicksalsweg, der jetzt zu ihr gehört: Dorothea Caroline Albertine, geborene Michaelis, verwitwete Böhmer, wiederverheiratete Schlegel.

Noch immer gilt Caroline in Jena als die »berühmte Mdme Böhmer«, die »als Clubbistin mit auf dem Königstein saß«, sie wird argwöhnisch beäugt, als Ausgestoßene behandelt, nicht nur von Karl August Böttiger, dem umtriebigen Publizisten aus Weimar, der für Klatsch und Tratsch wie diesen jederzeit die Ohren gespitzt hat. Erst neulich hat sie auf dem Markt zwei Frauen plappern hören, während sie gerade dabei war, einen Hut anzuprobieren, mit breiter Krempe. Gut stand er ihr, er sollte Schelling gefallen. Im Spiegel hat sie die beiden aus dem Augenwinkel beobachtet, wie sie da, verstohlen hinter ihrem Rücken, mit dem Finger auf sie zeigten. Gerede, das sich in einer Kleinstadt wie dieser nicht vermeiden lässt.

Königstein: Wenn Caroline diesen Namen hört, durchfahren sie die Schrecken jener Tage, als man sie auf der Festung im Taunus gefangen hielt, nachdem ihr Versuch, im April 1793 aus Mainz nach Gotha, zur befreundeten Familie Gotter zu fliehen, misslungen war. Ein preußischer Vorposten hatte sie wenige Kilometer hinter Oppenheim, südöstlich von Mainz, angehalten, visitiert und – nach einem kurzen Blick in den Pass – ins Hauptquartier nach Frankfurt gebracht. Der Name Böhmer war bei den Behörden bekannt. Carolines Schwager Georg Wilhelm hatte eng mit General Custine, dem Anführer der Revolution, zusammengearbeitet. Verhasste Demokraten. Das Reisegepäck wurde konfisziert. Vom Hauptquartier ging es direkt in Haft. Statt der Freiheitsbäume, die man während der Revolutionszeit aufgestellt hat, eine dunkle Zelle. Dabei war Mainz für Caroline die so lang ersehnte Unterbrechung eines allzu beschränkten Lebens gewesen.

Johann David Michaelis, ihr Vater, ist ein hoch angesehener Theologe und Orientialist an der altehrwürdigen Universität zu Göttingen, Hochburg der deutschen Aufklärung; Goethe hätte für sein Leben gern bei ihm studiert. Michaelis bewohnt eines der prächtigsten Häuser der Stadt, in der Prinzenstraße, gleich gegenüber dem Kollegien- und Bibliotheksgebäude. Hier, in der gelehrten Welt, in Gesellschaft all der Koryphäen, die bei ihrem Vater zu Gast sind, wächst Caroline auf. Ständig gilt es, die Form zu wahren.

Kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag wird sie mit dem zehn Jahre älteren Amts- und Bergarzt Johann Franz Wilhelm Böhmer verheiratet und folgt ihm nach Clausthal in den Oberharz. Ein Jahr später, 1785, wird ihre Tochter Auguste geboren. Caroline stellt ihre eigene Entdeckerlust zurück. Die Rollen sind klar verteilt.

Vier Jahre nach der Hochzeit erliegt ihr Mann einer Infektion. Therese, das zweite Kind, ist mittlerweile geboren, ein weiteres unterwegs. Caroline sieht keinen anderen Ausweg, als nach Göttingen zurückzukehren. Es fühlt sich falsch an, aber was soll sie denn in Clausthal, wo es kaum mehr als Lehrkurse für Berg- und Hüttenleute gibt?

Viel Zeit zur Besinnung bleibt ihr nicht. Erst stirbt ihr Söhnchen Wilhelm, wenige Wochen nach der Geburt, dann Therese. Als auch ihr Vater stirbt, fasst sie den Entschluss, nach Mainz zu gehen. Mit dem Rücken zur Wand bleibt nur die Flucht nach vorne.

Sie kennt ein paar Leute in Mainz, darunter Forster, der an der dortigen Universität eine Stelle als Oberbibliothekar bekleidet, und dessen Frau Therese, Tochter des Altertumswissenschaftler Christian Gottlob Heyne. In Göttingen gehörten sie mit Meta Forkel, Dorothea Schlözer und Philippine Engelhardt zu einer Gruppe von Professorentöchtern, die endlich selbst akademisch und literarisch tätig werden wollten, Aufsätze und Gedichte schrieben. Schon damals galt: Raus aus den engen Gässchen, Französisch, Englisch, Italienisch, Shakespeare, Hume, Goldoni, fort mit all den unseligen Teeabenden! Sie weiß um die republikanische Gesinnung Forsters. Eine Ahnung, wie gefährlich Mainz werden könnte, hat Caroline nicht, als sie aus Göttingen aufbricht. Aufstand statt Anstand.

Dass das Wagnis der Freiheit mit Gefangenschaft und Sicherheitsverwahrung enden würde, hätte sie nie für möglich gehalten. Vom Krieg, wenn er denn kommen sollte, hatte sie sich eine Belebung erhofft – eine Erneuerung dieser verknöcherten Zeit: Caroline wollte ihren Enkelkindern davon erzählen können, wie sie eine Belagerung erlebt, wie man einem geistlichen Herrn auf dem Marktplatz die lange Nase abgeschnitten hätte.

*

Beinahe ist sie froh darüber, dass Auguste bei ihr im Gefängnis ist. Gustel ist zwar noch ein Kind, aber immerhin kann Caroline sich ihr anvertrauen, wenn sie nicht weiterweiß. Und das kommt oft vor, öfter, als ihr lieb ist. Die Zustände auf Königstein sind verheerend. Eine Zelle mit sieben Inhaftierten. Zudem ist Caroline schwanger. Nicht von Forster – auch wenn Therese und die halbe Welt versuchen, ihr ein Verhältnis mit ihm anzudichten –, nein, viel schlimmer: von einem jungen Besatzungsoffizier, ausgerechnet der Neffe und Adjutant des Generals Ervoil d’Oyré, der das Ruder von Custine übernommen hat. Und während aus der Ferne die alliierten Geschütze dröhnen, verwünscht sie ihren Übermut in jener freiheitstrunkenen Ballnacht am Tag der Eroberung.

Caroline fühlt sich nicht schuldig, keineswegs, nichts ist dran an den Vorwürfen, die man gegen sie erhebt: Kollaboration mit den Franzosen. Niemals hätte sie Auguste in eine solche Gefahr gebracht. Und hätte sie getan, was man ihr vorwirft, sie würde sich dazu bekennen. Forster ist indessen in Paris gelandet. Unterstützung, welcher Art auch immer, kann sie von ihm nicht erwarten. Caroline sieht sich als politische Geisel.

Die Gefängnistage sind lang. Caroline spürt, wie die Zeit zum absoluten Stillstand kommt. Zu viel hat sie gesehen, fürchterliche Szenen: Häftlinge, die zu Tode geprügelt werden, ohne dass man sie verhört oder ihnen gar den Prozess gemacht hätte. Einmal verlässt sie für drei Wochen nicht das Bett. Aber Gustel ist da. Um ihretwillen gilt es durchzuhalten.

In ihrer Verzweiflung hofft sie auf eine Kaution. Noch ist niemand bereit, sie zu hinterlegen. Selbst Goethe, der einflussreiche Geheimrat und Minister, den sie einst schwärmerisch in ihrem Göttinger Elternhaus begrüßt und erst letzten August in Mainz wiedergesehen hat – von Politik hatte man bei diesem Treffen lieber geschwiegen –, kann ihr nicht helfen. Entweder es naht bald Rettung, oder sie muss über diesen Zuständen zugrunde gehen. Absolute Freiheit oder absolute Tyrannei, das war die von Forster ausgegebene Losung, die sie nach Mainz gelockt hatte. Daran hat sich nichts geändert. Unablässig prasselt das Feuer der Alliierten auf Mainz nieder.

*

Seit dem letzten Jahr toben die Revolutionskriege in Europa, überall wimmelt es von Franzosen. Österreich, Preußen und verbündete Kleinstaaten machen mobil, um die in Frankreich grassierende, wie ein gefährlicher Virus um sich greifende »Freiheitsinfluenza« zu bekämpfen. Bis nach Mainz ist die Revolution vorgedrungen. Wenn man jetzt nicht einschreitet, kann es schon morgen zu spät sein.

Das Establishment im alten Reich reagiert fast hysterisch auf die politischen Ereignisse in Mainz. Überall wittert man Revolutionsgefahr. Als der Kurfürst, Friedrich Karl Joseph von Erthal, aus seiner eigenen Stadt fliehen muss, lässt er das Wappen, das auf der Wagentür prangt, kurzerhand auskratzen. Sein ehemaliger Leibarzt Georg Wedekind ist zu den Revolutionären übergelaufen. Sicher ist sicher. Herrscher von Gottes Gnaden, vom Hof gejagt von Volkes Zorn.

Ende Mai 1793 stoßen der Weimarer Herzog Carl August und sein Minister zu den alliierten Truppen. Preußische und österreichische Einheiten belagern jetzt die Stadt, auch sächsische, hessische sowie pfalzbayrische Kontingente unter dem Oberbefehl des preußischen Generals Friedrich Adolf von Kalckreuth. Die Stellungen der Franzosen sind nicht unvorteilhaft.

Richard Earlom, Die Plünderung des königlichen Kellers 1792, Schabkunst­blatt nach einem Gemälde von Johann Josef Zoffany, 1795 (Ausschnitt)

Wie schon auf dem Feldzug im vorigen Herbst begleitet Goethe seinen Herzog in den Krieg. Damals, in der Campagne, hatten sich die Alliierten geschlagen geben müssen. Das darf sich nicht wiederholen. Bis zum entscheidenden Angriff gegen die Republik vertreibt sich Goethe die Zeit mit Studien zur Farbenlehre, Studien, die er für den Feldzug unterbrechen...

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