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E-Book

Stigma psychische Krankheit

Zum Umgang mit Vorurteilen, Schuldzuweisungen und Diskriminierungen

AutorAsmus Finzen
VerlagPsychiatrie-Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783884148563
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Stigma - die zweite Krankheit: Schonungslos offenbart der bekannte Psychiater und Autor Asmus Finzen die aktuelle Realität psychisch erkrankter Menschen, für die Vorurteile und Diskriminierung oft schwerwiegende Komplikationen ihrer Erkrankung sind. Sein Fazit: Die aufwändigen Antistigmatisierungs-Kampagnen sind kläglich gescheitert. Finzen analysiert die Gründe. Er deckt Stigmatraditionen, -typen und -prozesse im Bereich psychischer Erkrankungen auf, klärt die Rolle der Massenmedien und die der Lehre. Er schult die Antistigma-Kompetenz seiner Leser/innen: Selbsthilfe, Psychoinformation und Psychoeduktion, Stigmamanagement sind überzeugende Konzepte gegen die Macht von Vorurteilen und Schuldzuweisungen. Es gibt kein Buch, das die gesellschaftlichen Hintergründe der Stigmatisierung so detailliert offen legt, wie dieses; es wird die gesellschaftspolitische Diskussion der kommenden Jahre prägen.

Prof. Asmus Finzen, Jg. 1940, war ab 1975 Direktor des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Wunstorf. Bis 2003 war er stellv. Ärztlicher Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Basel. Finzen ist Autor zahlreicher Bücher, u. a. über Schizophrenie und Suizidprophylaxe. Bisher unveröffentlichte Bücher von Prof. Finzen finden Sie auf seiner Homepage www.asmus.finzen.ch.

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Leseprobe

Psychose und Stigma – die Herausforderung


Vorurteile, Diskriminierung und Stigmatisierung sind ein immerwährendes Dilemma für psychisch erkrankte Menschen und ihre Angehörigen, aber auch für die in der psychiatrischen Versorgung Tätigen. Schwere psychische Störungen sind Krankheiten, über die man, wenn man sie hat, tunlichst nicht spricht. Sie sind mit gesellschaftlichen, kulturellen Vorurteilen belastet und führen zu vielfältiger Diskriminierung. Die Vorurteile übertragen sich auf die Kranken. Diese gelten dann als unzuverlässig, oft als unzurechnungsfähig oder gar gefährlich – und das unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit und ihrem je aktuellen Gesundheitszustand.

Wenn man »darüber« reden muss, spricht man besser von »Depressionen« als von »Psychosen«, erst recht nicht von »Schizophrenie«. Was für den Einzelnen richtig und wichtig ist, hat aber Konsequenzen für die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Krankheiten, insbesondere der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Lange Zeit galt: Kaum jemand außerhalb des engsten Freundes- und Familienkreises hatte je einen genesenen Schizophreniekranken kennengelernt oder jemanden, der einen Weg gefunden hatte, um mit der Krankheit zu leben, denn wer wieder einigermaßen genesen war, sprach nicht mehr davon. Subjektiv ist das ein verständliches Verhalten, insgesamt führte es aber dazu, dass die Ängste anderer vor der Krankheit jahrzehntelang nicht gemindert werden konnten und das Vertrauen in eine mögliche erfolgreiche Behandlung nicht gestärkt wurde. Ich will das anhand einiger Beispiele verdeutlichen:

Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan ließ gegen Ende des Jahrhunderts bekannt geben, dass er an der Alzheimerkrankheit leide. Die Krankengeschichte des depressiven Klaus von Amsberg, des Ehemanns der früheren niederländischen Königin Beatrix, füllte jahrelang die Gazetten. Der Schauspieler Harald Juhnke machte seine in unregelmäßigen Abständen wiederkehrenden Rückfälle in den Alkoholismus mehr oder weniger zur publizitätsträchtigen Schlagzeile – auch eine Form der Bewältigung. Künstler erklären, dass sie an Aids leiden, und wecken damit Mitempfinden. Sportler ziehen sich zwischenzeitlich aufgrund der Folgen eines Burn-outs zurück. Aber eines geschieht nicht: dass jemand etwa bekannt gibt: »Ich bin X. Y. und ich leide an einer schizophrenen Psychose.«

Es gibt viele Menschen, die schizophreniekrank sind, von denen aber niemand weiß. Eine Ausnahme aus jüngerer Zeit soll nicht verschwiegen werden. Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1994 ging an den Mathematiker John Forbes Nash. Nash hatte als ganz junger Mann eine bahnbrechende Doktorarbeit zur Spieltheorie verfasst, die große Bedeutung für die Wirtschaftswissenschaften erlangte. Nash ist Nobelpreisträger und: Er ist schizophreniekrank. Seine Psychose bedingte jahrzehntelange Arbeitsunfähigkeit und Behinderung, bis schließlich die Besserung einsetzte. In einer Zeitungsmeldung heißt es dazu:

» Vielleicht war es das Eingebettetsein in ein besonderes soziales Umfeld, das den Spuk Anfang der achtziger Jahre zum Verschwinden brachte: Nash begann ganz langsam wieder zu arbeiten. Auch wenn vielleicht seine besten Jahre vorbei sind, halten ihn manche Kollegen doch noch der einen oder anderen Überraschung für fähig. Und das Nobelpreiskomitee hat mit seiner Wahl eines klargestellt: ›Eine Geisteskrankheit ist nicht anders zu betrachten als etwa Krebs.‹ « (Kontakt 1995)

Eine Biografie über Nashs Leben und Krankheit (NASAR 1999) und die Verfilmung mögen anderen Psychosekranken eine Hilfe sein. Aber sie machen zugleich überdeutlich, wie das Leben auch dieses »privilegierten« Kranken durch Abwertung, Vorurteile und Diskriminierung zusätzlich erschwert wurde. Im Übrigen ist sie zuerst einmal eine traurige Geschichte, nicht die Geschichte einer Heilung. Im deutschsprachigen Raum hat die Biografie der Bildhauerin Dorothea Buck ähnliche Wirkungen gehabt, zuletzt ebenfalls durch einen Film über sie unterstrichen (Himmel und mehr – Dorothea Buck auf der Spur von Alexandra Pohlmeier).

»Wer gesundet, kann nicht schizophren gewesen sein«


Selbst in einer Zeit, in der das öffentliche »Bekennen« ziemlich in ist, bleibt die Veröffentlichung der schizophrenen Psychose eines genesenen prominenten Zeitgenossen kaum vorstellbar. Gelegentlich findet sogar eher eine kuriose Verschiebung der Wahrnehmung statt: Wird die ausgeheilte schizophrene Erkrankung eines prominenten, erfolgreichen Zeitgenossen bekannt, endet das nicht etwa in einer Enthüllungsgeschichte, sondern in einer Denunzierung der Ärzte, die die fatale Diagnose gestellt haben. Sie nämlich müssen sich geirrt haben, sonst hätte der Betroffene – Krankheit hin oder her – nicht so leistungsfähig sein können, wie er das offensichtlich ist. So hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in einer ausführlichen Würdigung des Werkes der australischen Schriftstellerin Janet Frame, die acht Jahre in psychiatrischen Krankenhäusern verbracht hatte, sie sei fälschlich – weil nicht unheilbar – als schizophren diagnostiziert worden (LUEKEN 1994).

Der Mythos der Unheilbarkeit, der die Vorurteile gegen Krankheit und Kranke gleichsam legitimiert, scheint unausrottbar und im konkreten Einzelfall kaum überwindbar zu sein. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür vermittelt die schizophreniekranke Amerikanerin Lori SCHILLER (2009) in ihrem Lebens- und Krankheitsbericht Wahnsinn im Kopf:

» Wenn wir [...] zufällig auf meine Vergangenheit zu sprechen kommen, ist es nicht immer einfach. Viele Männer können so etwas einfach nicht akzeptieren. Im Rückblick sind einige ihrer Reaktionen sogar witzig. Eine Zeit lang traf ich mich mit einem Mann, den ich kennengelernt hatte, als ich mein Auto zur Reparatur brachte. Wir verstanden uns gut und verbrachten eine schöne Zeit miteinander. Schließlich entschied ich mich, ihm von meiner Vergangenheit zu erzählen. Ich nahm ihn mit in meine Wohnung und zeigte ihm einen Artikel, den ich über meine Erfahrungen geschrieben hatte. Er las den Artikel und schaute mich dann angewidert an.

›Du leidest nicht an Schizophrenie‹, sagte er.

›Doch, ich fürchte schon‹, erwiderte ich.

›Nein, das stimmt nicht, das hast du doch bloß erfunden.‹ «

Wer gesund wirkt, kann nicht schizophreniekrank sein. Wer sein Leben meistert, kann es nie gewesen sein. Diese Logik ist falsch. Sie verdreht die Wirklichkeit. Für die Schizophreniekranken selbst wird sie zur doppelten Falle. Sie wirft sie auf sich selbst zurück, wenn sie ihr Leiden bewältigt haben. Sie lässt sie, wenn sie sich in guten Zeiten offenbaren, unglaubwürdig erscheinen. Sie hindert sie an der Ausbildung einer eigenen Identität unter Einbeziehung ihrer Krankheitserfahrungen.

»Die Gedanken werden handgreiflich«


Weil die schizophrenen Erkrankungen von Zeitgenossen für uns tabu sind, greifen wir gern auf Zeugnisse von historischen Persönlichkeiten zurück, wie Christian MÜLLER (1992) sie unter dem Titel Die Gedanken werden handgreiflich gesammelt und herausgegeben hat. Da gibt es Jakob Michael Reinhold Lenz, den Freund Goethes, dessen schizophrene Krise Georg Büchner in Lenz literarisiert hat. Da gibt es den französischen Dichter Gérard de Nerval, der eine Reihe von schizophrenen Episoden durchmachte und mehrfach stationär behandelt werden musste. Gaetano Benedetti hat darüber in seinen Psychiatrischen Aspekten des Schöpferischen (1975) geschrieben. Bei Nerval kommt es zu einer Verschmelzung von Werk und Psychose, wie sie leider selten ist. Bei Friedrich Hölderlin und Robert Walser führte die Psychose nach älterer Auffassung zur Verarmung der schöpferischen Kraft und zum Versiegen der dichterischen Tätigkeit. In jüngerer Zeit sind allerdings Zeugnisse aufgetaucht – vor allem bei Walser –, die das infrage stellen. August Strindberg entwickelte eine paranoide Schizophrenie. Die Einordnung der psychotischen Episoden von Virgina Woolf bleibt offen.

Meist erfahren wir davon nur, wenn die Psychose einen unglücklichen Ausgang nimmt, wenn die Krankheit die Betroffenen aus der geordneten Bahn des bürgerlichen Lebens wirft. Wie viele andere, die – wie Janet Frame – die Psychose bewältigen, bleiben uns verborgen? Verborgen bleibt es uns in der Regel auch, wenn Menschen mit ihren psychotischen Erkrankungen leben und leiden und dennoch kreativ und leistungsfähig bleiben. So ist beispielsweise kaum bekannt, dass Rainer Maria Rilke – zumindest nach Auffassung Ernst KRETSCHMERS (1966) – zu diesen Menschen gehörte. Er schreibt:

» Rainer Maria Rilke geht während vieler Jahre wie ein Nachtwandler am Abgrund entlang, hart am Rande der schizophrenen Katastrophe, ohne jedoch wie Hölderlin ganz darin zu versinken. Es kommt zu schubweisen Verstimmungen mit jahrelanger quälender Unproduktivität, die durch Angst- und Unheimlichkeitsgefühle und zuweilen durch halluzinatorische und magische Beeinflussungserlebnisse akzentuiert ist. Fast ein Jahrzehnt des Verstummens fällt in die Zeitspanne vor 1922. Vor und nach solchen Zuständen krankenden Gemütes gibt es Phasen stürmischer Produktivität mit dem unmittelbaren Erleben mystischer Verbundenheit des Göttlichen. [...] Diese Grundzüge formen sich schon in der Frühzeit. [...] Nach der stummen, schweren Krisenzeit aber ist in der hochproduktiven Periode der letzten Lebensjahre ein deutlicher Stilwandel festzustellen. [...] Hier kommt es zu einer fortschreitenden Auflösung der sprachlichen und logischen Bindungen und ihrem Ersatz durch vieldeutige...

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