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E-Book

Stimmen im Raum

Der Komponist Beat Furrer

VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl98 Seiten
ISBN9783795786397
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Der Band versammelt die Beiträge des Symposiums für und mit Beat Furrer «Stimmen im Raum» unter der Leitung von Hans-Klaus Jungheinrich im Rahmen von «Auftakt 2010» der Alten Oper Frankfurt/Main. Beat Furrer, 1954 im schweizerischen Schaffhausen geboren, gehört heute zu den profiliertesten mitteleuropäischen Komponisten seiner Generation. Er lebt seit seinem 21. Lebensjahr vornehmlich in Österreich, war zunächst in Wien Schüler von Roman Haubenstock-Ramati und ist seit längerem Professor in Graz, aber auch in Frankfurt am Main. Zentrale Elemente des Furrer'schen Komponierens sind Sprache, Stimme und Raum. Gleichsam in einer Laborsituation (Furrer betreibt umfangreiche analytische Klangforschungen) kristallisieren sich zunächst kleinere Stücke heraus, die oft zu größeren Forma­ten, besonders zu musiktheatralischen Einheiten, zusammenwachsen. Bedeutende Werke dieser Art waren in letzter Zeit «Begehren» und «Wüs­ten­buch».

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Leseprobe

Die Erzählung in die Tiefe

Klangraum und Erlebnisraum im Werk von Beat Furrer

Max Nyffeler

Selbstkommentare und Selbstexegesen gehören spätestens seit Richard Wagner zum Geschäft des Komponisten. Im 20. Jahrhundert ist das zur allseits anerkannten Strategie geworden, und wer sich für die zeitgenössische Musik interessiert, kann von dieser Art von Verständnishilfe profitieren. Auch der Komponist profitiert, denn er kann mit seinen Textvorgaben die Diskursrichtung bestimmen. Und wenn er dann noch auf überzeugende Weise eine eigene Begrifflichkeit prägt und damit ein spezielles Instrumentarium zum analytischen Verständnis seiner Werke schafft, sind die Voraussetzungen auch für eine weitreichende Kontrolle des Diskurses gegeben. Das hat Auswirkungen auf die Rezeption in der Gegenwart und post mortem. Komponisten wie Arnold Schönberg oder Karlheinz Stockhausen haben, nicht weniger als Wagner, mit ihren umfangreichen theoretischen und weltanschaulichen Schriften das Fundament für eine dauerhafte Rezeptionsgeschichte gelegt. Auch manche ihrer heute lebenden sprachgewandten Kollegen argumentieren bereits mit Blick auf die Nachwelt. Stellt das Partiturenschreiben oder ganz allgemein das Herstellen von Musik das primäre Tätigkeitsfeld des Komponisten dar, dann kann man den als Theoretiker aktiven Komponisten als seinen eigenen Sekundärliteraten bezeichnen. An diesen knüpfen dann in der Regel wir Tertiär- und Quartärliteraten an.

Beat Furrer ist der Gegentyp zu den Komponisten, die sich gerne und ausführlich selbst kommentieren. Selbstverständlich gibt es auch von ihm die unvermeidlichen Programmheftkommentare, in denen er sich pflichtschuldigst über die technischen Verfahren seiner Stücke auslässt, und in Interviews hat er sich, meist im Zusammenhang mit seinen Bühnenwerken, auch über einige Hintergründe seines Komponierens geäußert. Doch Grundsatztexte kompositionstechnischer oder ästhetisch-weltanschaulicher Art sucht man von ihm vergebens. Nichts zu neuen Tonsystemen und Materialordnungen, keine Weltentwürfe, in deren Mitte seine Musik stünde, keine musikphilosophischen Betrachtungen, keine politischen oder sozialen Anklagen, keine Streitschriften und Manifeste. Für Beat Furrer steht das Musikschreiben weit über dem Texteschreiben. Einer der Gründe dafür ist vielleicht in seiner Doppelexistenz als Komponist und Dirigent zu finden. Wenn er sich selbst interpretiert, tut er es als Musiker mit der Aufführung seiner Werke und nicht als Literat.

Das Verschwinden der Wörter

Den Zugang zu Furrers Musik findet man folglich am besten über seine Musik: durch das Lesen der Partituren und das Hören der Aufführungen und Aufnahmen. Das heißt nicht, dass das Wort keine Rolle spielte. Einen Schwerpunkt seines Schaffens bilden die Bühnenstücke, bei denen es naturgemäß eine wichtige Rolle spielt. Aber schon beim ersten Hören dieser Werke fällt die enge strukturelle Verbundenheit von Text und Musik auf. Der Text scheint sich in seiner phonetischen Beschaffenheit aus der Musik herauszulösen, oder auch umgekehrt: in ihm zu verschwinden. Momente von Klartext, in denen das Wort als nackter Bedeutungsträger im Vordergrund steht, sind selten. Dem darf man erstens entnehmen, dass für ihn als Komponist das Denken in Tönen Vorrang vor dem Denken in Begriffen hat. Und man darf zweitens vermuten, dass auch sprachlich-begriffliche Elemente in seinen instrumentalen Werken durchaus eine Rolle spielen – jedoch in der Art, dass sie hier nur mitgedacht sind und gleichsam eingekapselt existieren. Die textgebundenen Kompositionen sind dann der Ort, wo diese versteckte Schicht mehr oder weniger offen zutage tritt. Das hieße, dass instrumentale und vokale, textgebundene Musik bei Furrer sich tendenziell annähern, dass sie in seiner schöpferischen Fantasie und in seiner Klangwelt gleichwertig nebeneinander stehen, wenn nicht sogar ineinander verschwimmen. Solche Übergänge und Berührungsflächen sollen im Folgenden etwas näher unter die Lupe genommen werden. Der Ausgangspunkt sind textgebundene Werke.

Zunächst einige Bemerkungen zum Musiktheaterstück BEGEHREN, konzertant uraufgeführt 2001 in Graz unter der Leitung des Komponisten. Wie schon in früheren Bühnenwerken hat Furrer auch hier mehrere Texte miteinander verzahnt und überlagert. Ausgangspunkt war eine Passage aus Günter Eichs Hörspiel Geh nicht nach El Kuwehd!, in dem es um die gefährliche und aussichtslose Suche nach einer Frau geht. Der Ausschnitt beschreibt die unüberwindbare Ferne der geliebten Person; Furrer verwob ihn mit Texten von Vergil, Ovid, Cesare Pavese und Hermann Broch, die alle um den Orpheus-Mythos kreisen und die Unmöglichkeit der Begegnung zweier Liebender zum Thema haben. Die beiden Figuren auf der Bühne heißen aber nicht Orpheus und Eurydike, sondern werden abstrahierend «Er» und «Sie» genannt. Die Dialektik von Sehnsucht und Entfremdung schlägt sich in der Struktur des Werks auf verschiedenen Ebenen nieder. «Er» spricht zunächst und «Sie» singt, am Schluss ist es umgekehrt. Sie sprechen sich gegenseitig an, doch der andere ist abwesend. «Er» spricht deutsche Texte, «Sie» singt lateinische. Beide agieren stets aneinander vorbei. Durch die Verknüpfung mehrerer Textquellen wird eine lineare Erzählung verunmöglicht. Furrer spricht von einer palimpsest-artigen Überlagerung von Textschichten, die nach und nach abgetragen werden, wobei immer wieder andere Handlungsmomente zutage treten, aber nie der eigentliche Kern. Den gibt es als eindeutig identifizierbare Wahrheit nämlich gar nicht. So entsteht nach den Worten des Komponisten nicht eine lineare Erzählung, sondern eine «Erzählung in die Tiefe».1

«DIE BLINDEN» als Prototyp

Dazu nun ein Blick zurück auf Furrers erstes abendfüllendes Musiktheaterstück DIE BLINDEN, das 1989 in Wien uraufgeführt wurde. Auch hier gibt es bereits diese «Erzählung in die Tiefe»; und auch hier geht es, wie in BEGEHREN, um die Suche nach einem Anderen, die keine Erfüllung findet. Dieses Andere wird nun allerdings nicht durch eine bestimmte Person verkörpert, sondern ist ein abstraktes Unbekanntes. Mit diesem Motiv hält sich Furrer eng an seine Vorlage, das Theaterstück DIE BLINDEN des Symbolisten Maurice Maeterlinck, das vor ihm auch schon Walter Zimmermann und Paul-Heinz Dittrich als Quelle benutzt haben. Und schon hier praktiziert er auf gekonnte Weise, was er in BEGEHREN, in WÜSTENBUCH und in anderen Stücken später noch verfeinern sollte: die Kompilation von Texten unterschiedlicher Autoren, aber mit ähnlicher Aussage. Der Haupttext von Maurice Maeterlinck wird durch Textbruchstücke von Rimbaud, Hölderlin und aus Platons «Höhlengleichnis» ergänzt, und alle Texte kreisen um die Thematik des Lichts als Symbol menschlicher Erkenntnis. Mit dieser Art von Textkomposition erzeugt Furrer ein weit gefasstes Be-deutungsgeflecht, das den geistigen Raum für seine Komposition definiert.

Auf den Spuren Maeterlincks will Furrer hier das Unsichtbare, Unbegreifbare wahrnehmbar machen, mit anderen Worten: in das menschliche Innere hinabsteigen. Dafür schafft er einen Klangraum, der wie im Traum in ständiger Veränderung begriffen ist und doch an Ort und Stelle verharrt.

Die Hauptfiguren des Stücks sind eine Gruppe von Blinden auf einer einsamen Insel, die auf die Rückkehr ihres Führers warten. Sie sind allein gelassen mit ihren Fragen. Wohin ging dieser Führer? Kann er überhaupt sehen, wie sie hoffen, oder ist er womöglich auch blind? Kommt er überhaupt zurück? Es ist eine Geschichte des Ertastens von Wirklichkeit, eine Geschichte der Ängste, Hoffnungen und Vermutungen, deren Dramatik radikal nach innen gekehrt ist.

Die klare Anlage des Librettos findet ihre Entsprechung auch auf der Ebene der Komposition. DIE BLINDEN behandelt Furrer konsequent als Sprechrollen. Die Fragmente aus Platons «Höhlengleichnis» werden von einem Chor vorgetragen, der bei der Wiener Uraufführung von 1989 lange unsichtbar blieb und erst im letzten Drittel in das Bühnengeschehen einbezogen wurde. Die Texte Hölderlins und Rimbauds werden von Solistinnen quasi kommentierend an hervorgehobenen Stellen gesungen.

Der traumähnliche Schwebezustand: die Ambivalenz zwischen Sehnsucht nach dem Licht und Angst vor dem Licht, die ständige Aufbruchsstimmung, die doch nur ein Irren im Kreis ist, das Schwanken der Blinden zwischen Hoffen und Furcht, Resignation und Zuversicht – all diese Ambivalenzen und offenen Möglichkeiten werden aufgefangen in einer Musik, die ebenfalls kein Ziel kennt und deren innere Struktur ebenso offen ist wie das Bühnengeschehen. Es ist eine ungegenständliche, athematische Musik, in der Textur rigoros durchkomponiert, im Klang enorm differenziert. Das Spektrum reicht von der geräuschhaften Verbindung von Instrumenten und Sprechstimmen über mystisch anmutende, farbenreich changierende...

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