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E-Book

Stirb nicht im Warteraum der Zukunft

Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer

AutorTim Mohr
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl560 Seiten
ISBN9783641212384
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Punk begann in Ostdeutschland mit einer Handvoll Jugendlicher in den späten Siebzigerjahren. Inspiriert von geschmuggelten Musikmagazinen und gelegentlichen Bildern aus dem Westfernsehen, schnitten sie sich Löcher in die Jeans und steckten sich Sicherheitsnadeln durch die Ohrlöcher. Es war klar, dass sie damit den staatlichen Behörden auffielen. Harte Repressionen waren die Folge, viele Geschichten sind noch immer unbekannt. Tim Mohr hat ein bis heute kaum bekanntes Kapitel deutscher Geschichte durchleuchtet und ein eindringliches Bild einer vergangenen Zeit gezeichnet.

Tim Mohr ist ein amerikanischer Autor, Journalist und Übersetzer. In den 1990er-Jahren lebte er in Berlin als Club-DJ, bevor er nach New York zog und für den Playboy arbeitete. Dort war er unter anderem für Hunter S. Thompson zuständig, mit der er bis zu dessen Tod an dem Buch »Ancient Gonzo Wisdom« arbeitete. Seine journalistischen Artikel erschienen bis dato u. a. in der New York Times, dem New York Magazine, Time Out oder der Huffington Post.

Zu seinen Übersetzungen aus dem Deutschen ins Amerikanische zählen Wolfgang Herrndorfs »Tschick«, Charlotte Roches »Feuchtgebiete«, vier Romane von Alina Bronsky und Dorothea Dieckmanns »Guantanamo«, die mehrfach ausgezeichnet wurden.

Als Ghostwriter hat Timk Mohr die Memoiren »It's So Easy« von Duff McKagan (Guns N' Roses), »The Last Holiday« von Gil Scott-Heron und »Face the Music« von Paul Stanley (Kiss) verfasst. Augenblicklich arbeitet er an der Lebensgeschichte von Joe Walsh von den Eagles.

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Leseprobe

Vorwort

Künstler und Musiker strömen nach Berlin, Bürgerrechtler und Whistleblower aus allen Ländern suchen hier Asyl, zehntausende Feierwillige fallen jedes Wochenende in die Stadt ein. Die Partys dauern bis in die frühen Morgenstunden, oft noch viel länger, bald wird es wieder Nacht, und die Leute tanzen einfach weiter. Wir tanzen weiter. Immer weiter und weiter.

Das Clubleben ist das Highlight von Berlin. Aber es ist auch ein Fenster zur Seele der Stadt.

Ein für die heutige Clubszene typischer Laden ist das About Blank. Er liegt an einer von mickrigen Bäumen und Wellblechzäunen gesäumten Straße, ein Stück Niemandsland, umgeben von Bahngleisen, Baustellen und einem Billigsupermarkt. Von außen ist es ein hässlicher, zweigeschossiger Betonklotz mit zwei von Graffitis übersäten Türen. Drinnen zahlt man ein paar Euro Eintritt und durchquert eine kahle Eingangshalle mit rohem Betonboden, unverputzten Wänden. Keine Absperrkordel, kein VIP-Bereich, kein Dresscode, keine Werbung, kein Scheiß. Coolness kann man in Berlin nicht kaufen. Ein paar Schritte weiter taucht man in eine andere Welt ein – Trockeneisnebel und Zigarettenrauch, so dicht und desorientierend, dass man meint, in der Luft zu schwimmen oder zu schweben, alles wirkt plötzlich langsamer, in nebliger Entfernung nur blaue Schatten und wabernde Schleier, jedes Gefühl von Zeit und Raum verfliegt. Da ist nur noch der wummernde Bass, der das Herz zusammenzieht und einen buchstäblich vom Boden abheben lässt. An einem der DJ-Pulte legt eine Frau in dunklen Shorts und T-Shirt Platten mit dem harten Boom-tick-boom-tick des ureigenen Sounds der Stadt auf: Minimal Techno, eine schnörkellose Unterart der elektronischen Musik, die perfekt zur Umgebung passt. Vielleicht ficken welche in der Ecke. Vielleicht auch nicht. Das schert niemanden. Sexual Politics sind hier kein Thema, auf der Tanzfläche werden die Leute – schwul, hetero, bi, Frauen, Männer, Transgender – sowieso eins, wenn sie die in Schweiß, Rauch und Euphorie gebadeten Körper aneinanderreiben.

Hinter der Tür am anderen Ende liegt ein verwilderter, sandiger Garten, stockdunkel bis auf ein paar winzige rote Lichter und unregelmäßig angestrahlte Discokugeln, die von den Zweigen der Bäume hängen. Ist es draußen kalt, brennt in alten Öltonnen ein Feuer, das die Leute mit Holz füttern. An einer Stelle ist ein rostiger Wohnwagen aufgebockt, drinnen ein paar Leute. Zwischen den Bäumen stehen ein großes, überdachtes Bett und zerschlissene Plastiksofas rum. Überall tanzen, trinken, reden Leute, andere sitzen nur da oder starren ins Feuer, während sich der dunkle Himmel mit dem ersten Hauch des Sonnenaufgangs aufzuhellen beginnt. Der Ort stellt keine Forderungen an seine Besucher, nichts wirkt erzwungen. About Blank ist eine Insel des Friedens, wo jeder auf seine Weise Spaß haben kann.

Ein cooler Ort.

Ein einzigartiger Ort.

Genau wie Berlin.

Nur, warum?

Wer zum ersten Mal in Berlin ist, nimmt die Einzigartigkeit der Stadt sofort wahr. Was es genau ist, lässt sich nicht so leicht greifen. About Blank bietet einen Ansatzpunkt – das, was den Club so besonders macht, erklärt vielleicht auch das spezielle Etwas, das die Besucher in ganz Berlin zu spüren glauben. Gegründet wurde der Club von einem zwölfköpfigen Kollektiv mit zahlreichen Verbindungen zu den besetzten Häusern im Ostteil der Stadt, insbesondere zur Köpenicker Straße 137, wo noch heute einige Ost-Berliner Ur-Punks leben. Das überwiegend aus feministischen Punkerinnen bestehende Kollektiv steckte im Jahr 2009 erst den politischen Rahmen des Projekts ab, dann wurde der gegenständliche Raum dafür entdeckt. In dem Gebäude war ursprünglich ein Kindergarten für die Angestellten der DDR-Reichsbahn untergebracht – daher der Sand im Garten. Danach hatte es fast fünfzehn Jahre lang leer gestanden. 2009 beschloss die Stadt Berlin, in deren Besitz sich das Gebäude befindet, es so lange zu vermieten, bis es für den Bau einer Schnellstraße abgerissen werden soll. Im Gebäude war nichts mehr: keine Heizung, kein Strom, kein Wasser, keine Fenster. Statt einen Kredit aufzunehmen und Handwerker mit der Instandsetzung zu beauftragen, machten sich die Mitglieder des Kollektivs selbst an die Arbeit. Konnten sie eine Aufgabe nicht alleine bewältigen, baten sie Freunde aus der Hausbesetzerszene um Hilfe. Das nötige Geld liehen sie sich von befreundeten linken Gruppen.

Das About Blank bietet viel mehr als nur Techno-Partys: In einem Gebäude auf dem Gelände finden Handwerkerkurse statt, außerdem sind darin Proberäume und Tonstudios untergebracht. In einem anderen Gebäude wurde ein Kulturzentrum eingerichtet, in dem hauptsächlich Gender- und Queer-Veranstaltungen stattfinden. Außerdem richtet About Blank Benefizveranstaltungen für feministische, antirassistische und antifaschistische Initiativen aus und gehört zu einem Netzwerk, das Leute zur Teilnahme an politischen Demos mobilisiert. Für das Kollektiv stand von Anfang an fest, dass jeder, der dort arbeitet – inzwischen über hundert Leute –, denselben Stundenlohn erhält, ob sie oder er nun fürs Booking der DJs zuständig ist, Bier ausschenkt oder die Klos putzt.

Dennoch ist About Blank alles andere als eine realitätsferne Fantasiewelt. Es ist ein real existierender Ort mit Betonwänden, Secondhand-Möbeln und extrem lauter Anlage. Der Club ermöglicht es Dutzenden von Leuten, den Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne sich selbst verkaufen zu müssen – sprich: Sie können nach ihren Idealen leben. Im Laden hängt kein Schild: RADIKAL LINKER CLUB. Und doch ist er genau das, und seine BetreiberInnen hoffen, dass die Atmosphäre – der gegenseitige Respekt, die Experimentierfreude, die uneingeschränkte Freiheit – auf die Gäste abfärbt. Feiern kann ein politischer Akt sein. Im Idealfall bewirken die Partys, dass die Leute Normalität infrage stellen – die Normalität, die sie außerhalb von Freiräumen wie dem About Blank erleben, vielleicht sogar die Normalität, die sie aus anderen Städten, anderen Ländern kennen.

Das Prinzip, eine eigene, alle Lebensbereiche umfassende Welt zu schaffen, die fest in einer politischen Ideologie verwurzelt ist, lässt sich bis zu den Vorgängerclubs des About Blank zurückverfolgen: Die am Spreeufer gelegene Bar 25, die die 2000er-Jahre prägte, war im Prinzip eine eigenständige Enklave mit Wohnräumen, Hostel, Zirkus, Radiosender, Plattenlabel, Restaurant, Saunabereich, ja, einfach allem. Das Tacheles war ein halb verfallenes Kaufhaus, bevor es von seinen Besetzern in den Club verwandelt wurde, der in den 1990er-Jahren den Ton angab; das Tacheles hatte alles, was es in der Bar 25 auch gab, plus Kino, Künstlerateliers, Ausstellungsflächen und Biergarten inklusive Skulpturen aus sowjetischem Kriegsgerät. Im Hinterhof stand ein russisches MiG-Kampfflugzeug, im Keller lief ohrenbetäubender Techno, und das Bier kostete eine Mark. Das Tacheles war im Grunde eine einsturzgefährdete Ruine, die von den Besetzern ständig neu gestaltet und neu erfunden wurde. Das 1909 erbaute, im Zweiten Weltkrieg durch die Luftangriffe der Alliierten und in der DDR durch Abrissbirnen stark beschädigte Gebäude war im Februar 1990, also drei Monate nach dem Fall der Mauer, von einem Kollektiv aus Mitgliedern ostdeutscher Punkbands besetzt worden.

Das ist der rote Faden, der sich durchs Nachtleben – die Lebensader – des heutigen Berlin zieht: Ost-Punk. Die ersten legendären Techno-Clubs – neben dem Tacheles vor allem der Tresor und das WMF – wurden alle von DDR-Punks mitbegründet, und der Geist, die Ideologie der Punks sind noch heute in Clubs wie dem About Blank, dem Salon zur Wilden Renate oder dem Berghain deutlich spürbar.

Ich landete 1992 im Ostteil von Berlin, in einer Wohnanlage für Studierende, draußen beim Tierpark. Die Stadt schien den Ostblock-Klischees zu entsprechen, die ich seit meiner Kindheit kannte: düster, kalt, eingehüllt in Kohlerauch – noch nie hatte ich eine grauere Stadt gesehen. Dazu das entfernte Heulen der Zootiere und die ständige Angst, die Gerüchte über die Horden von durch die Straßen ziehenden Skinheads könnten am Ende doch stimmen. Mein erster Eindruck von Berlin war deprimierend. Aber ich fand schnell raus, dass sich hinter den heruntergekommenen, von Einschusslöchern vernarbten Fassaden in den Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain eine bunte, kreative Szene tummelte. Hinter unscheinbaren Türen, die eine oder andere Treppe runter, eingebettet zwischen den bröckelnden Mauern eines kerzenbeleuchteten Kellers oder einer stillgelegten Zisterne, auf den Dachböden halb zerstörter Gebäude, ja, sogar in alten Bunkern oder Banktresoren, entstand eine neue kaleidoskopische Stadt. Die Kneipen und Clubs dieser Unterwelt waren dunkel und dreckig, Verlängerungskabel, verbunden mit einer fernen Energiequelle, baumelten von der Decke und versorgten die Anlage mit Strom, zum Spülen der Gläser stand ein Eimer Wasser hinter der Theke. Hier waren tatsächlich alle Menschen gleich. Und ein Außenseiter wie ich wurde herzlich in den Kreis aufgenommen. Ich hatte dort so viel Spaß, dass ich manchmal am nächsten Tag aufwachte und mich fragte, ob ich nicht alles nur geträumt hatte. Einige Male stellte ich beim Aufwachen fest, dass ich immer noch im Club war, nur an einem anderen Tag. Gelegentlich kam es vor, dass die Tresenleute gingen und uns Nachzüglern sagten, wir sollten beim Gehen einfach die Tür zuziehen. In den Sommermonaten verließen wir – in Berlin hieß es damals schnell »wir« –, die DJs, Tänzer und...

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