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Stirbt der Kapitalismus?

Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert

AutorCraig Calhoun, Georgi Derluguian, Immanuel Wallerstein, Michael Mann, Randall Collins
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783593424613
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Das ökonomische System des Kapitalismus wird kollabieren, weil negative Konjunkturzyklen und politische Krisen zusammentreffen und Wachstum an Grenzen stößt. Umweltkrisen werden den Kapitalismus massiv unter Druck setzen, ebenso wie globale Machtkämpfe und der Kampf um Ressourcen. Die Mittelklassen werden ihre Arbeit an IT-Services verlieren und nicht mehr so konsumieren können wie heute. Eine wichtige Frage wird sein, ob eine internationale politische Steuerung den Marktliberalismus wird beeinflussen können. Fünf herausragende Sozialforscher diskutieren in diesem Buch die Optionen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung in den nächsten 30 Jahren. Historische Systemumbrüche und gegenwärtige Machtverhältnisse im Blick, entwerfen sie fünf Zukunftsszenarien für das 21. Jahrhundert und führen ihre Ergebnisse in einer Synthese zusammen.

Immanuel Wallerstein (1930-2019) war als Analytiker des globalen Kapitalismus und Begründer der »Weltsystemanalyse« Senior Research Scholar an der Yale University. Randall Collins ist Dorothy Swaine Thomas Professor für Soziologie an der University of Pennsylvania und früherer Präsident der American Sociological Association (ASA). Michael Mann ist Professor für Soziologie an der University of Los Angeles (UCLA). Georgi Derluguian ist Professor für Social Research und Public Policy an der New York University in Abu Dhabi. Craig Calhoun, Professor für Soziologie, ist Direktor der London School of Economics.

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Leseprobe
Die nächste große Wende

Gemeinsame Einleitung

Die kommenden Jahrzehnte werden überraschende Schocks und gewaltige Herausforderungen bringen. Manche werden ein neues Gesicht haben, andere ein altbekanntes. Viele werden ungeahnte politische Probleme und schwierige Entscheidungen beinhalten. Diese Zukunft kann schon recht bald beginnen und wird für alle, die heute jung sind, ihr Leben bestimmen. Das muss, wie wir behaupten, nicht unbedingt schlecht sein. In den vor uns liegenden Jahrzehnten werden sich auch Möglichkeiten ergeben, es anders als frühere Generationen zu machen. Aufgrund unserer soziologischen Kenntnis der Weltgeschichte wollen wir in diesem Buch erkunden und diskutieren, wie diese Herausforderungen und Möglichkeiten aller Wahrscheinlichkeit nach aussehen werden. Was uns im Grunde beunruhigt, ist die Tatsache, dass es mit dem Ende des Kalten Krieges vor fast drei Jahrzehnten unzeitgemäß - oder sogar anstößig - geworden ist, über die Zukunft der Welt und speziell des Kapitalismus zu sprechen.

Wir haben uns zu diesem ungewöhnlichen Buch zusammengefunden, weil sich etwas am Horizont abzeichnet - eine Strukturkrise weit größeren Ausmaßes als die jüngste Große Rezession, die sich rückblickend als das Vorspiel zu einer Periode noch tiefgreifenderer Störungen und Transformationen erweisen könnte. Immanuel Wallerstein erläutert die Gründe, die dafür sprechen, dass ein Zusammenbruch des kapitalistischen Systems bevorsteht. In den nächsten dreißig bis vierzig Jahren könnte es für die Kapitalisten, die sich - unter dem Druck der gesellschaftlichen und ökologischen Kosten wirtschaftlicher Tätigkeit - auf den globalen Märkten drängen, schlicht unmöglich werden, ihre üblichen Investitionsentscheidungen zu treffen. Der Kapitalismus war in den letzten fünfhundert Jahren die kosmopolitische, explizit hierarchische Weltmarktökonomie, in der die führenden Akteure durch ihre vorteilhafte Position in seinem geographischen Zentrum große und sichere Gewinne einfahren konnten. Diese historische Situation stößt, wie Wallerstein meint, an ihre Grenzen, und damit - trotz seiner Dynamik - das System des Kapitalismus. Er würde nach dieser Hypothese an der Frustration der Kapitalisten zugrunde gehen.

Randall Collins konzentriert sich auf einen spezielleren Vorgang, der die Zukunft des Kapitalismus bedroht: auf die politischen und sozialen Folgen für nicht weniger als zwei Drittel der gebildeten Mittelschichten, die in der westlichen Welt, aber auch weltweit, durch die neue Informationstechnologie strukturell arbeitslos werden. Wirtschaftsexperten entdecken neuerdings das Schrumpfen der Mittelschicht, begnügen sich aber mit dem vagen Ruf nach politischen Lösungen. Collins betrachtet nacheinander die fünf Auswege, die den Kapitalismus in der Vergangenheit vor den sozialen Kosten seines Innovationsdrangs gerettet haben. Keiner dieser bekannten Wege scheint die technologische Arbeitslosigkeit im Dienstleistungssektor und im öffentlichen Dienst in Zukunft auffangen zu können. Der Kapitalismus des 19. und 20. Jahrhunderts mechanisierte die Handarbeit, schuf aber einen Ausgleich durch die Zunahme von Mittelschichtpositionen. Heute drängt die Hochtechnologie des 21. Jahrhunderts die Mittelschichten ins Abseits. Das führt uns zu einer weiteren Hypothese: Könnte der Kapitalismus daran verenden, dass er den politischen und sozialen Rückhalt der Mittelschicht verliert?

Craig Calhoun stellt dagegen fest, dass ein reformierter Kapitalismus zu retten wäre. Er führt die von uns allen anerkannte Tatsache ins Feld, dass der Kapitalismus nicht nur eine Marktwirtschaft ist, sondern auch eine politische Ökonomie. Seine institutionellen Rahmenbedingungen würden von politischen Entscheidungen bestimmt. Strukturelle Widersprüche könnten in den komplexen Marktmechanismen zwar auftreten, es sei aber die Politik, in der sie behoben oder vernachlässigt werden - und wo sie auch außer Kontrolle geraten. Anders gesagt: Entweder werde es unter den Kapitalisten einen aufgeklärteren Teil geben, der die systemischen Kosten und Verantwortlichkeiten zur Kenntnis nimmt, oder sie würden sie weiter auf die Gesellschaft abwälzen, wie sie es seit dem Verebben linker oder liberaler Herausforderungen vor einer Generation tun konnten. Wie grundlegend die Wende vom heutigen Kapitalismus zu einem gezügelten System sein wird, ist für Calhoun eine offene Frage. Sozialistische Zentralwirtschaft sei eine Möglichkeit, noch wahrscheinlicher ist für ihn eine chinesische (sprich staatskapitalistische) Lösung. Märkte könne es in Zukunft weiterhin geben, auch bei einem Rückgang spezifisch kapitalistischer Finanz- und Eigentumsformen. Der Kapitalismus könne überleben, werde aber einiges von seiner Fähigkeit einbüßen, die globale wirtschaftliche Integration voranzutreiben.

Michael Mann vertritt für die Probleme des Kapitalismus eine sozialdemokratische Lösung, beleuchtet aber auch tiefere Probleme, die aus den Multikausalitäten der Macht entspringen. Neben dem Kapitalismus gehören dazu Politik, militärische Geopolitik, Ideologie und die Vielfalt der Weltregionen. Diese Komplexität macht, wie er meint, die Zukunft des Kapitalismus unvorhersehbar. Die übergreifende Bedrohung, die vollends unkalkulierbar ist, sei die während des 21. Jahrhunderts sich weiter verschärfende Umweltkrise. Sie könne sich in Kämpfen um Wasser und Nahrung äußern und zu Verseuchung und massiven Migrationsströmen führen, mit der Gefahr totalitärer Reaktionen, sogar atomarer Kriege. Mann verbindet dies mit der Grundfrage dieses Buches: der Zukunft des Kapitalismus. Der Klimawandel ist nach seiner Analyse deshalb so unaufhaltsam, weil er von allen herrschenden, heute globalisierten Institutionen gefördert wird - vom Kapitalismus als ungezügeltem Profitstreben, von autonomen, auf ihre Souveränität pochenden Nationalstaaten und von individuellen Verbraucherrechten, auf denen die Legitimität moderner Staaten und Märke basiert. Eine Lösung der ökologischen Krise hätte also eine grundlegende institutionelle Veränderung der heutigen Lebensverhältnisse zur Folge.

All das sind strukturelle Projektionen, vergleichbar mit 'Stresstests', wie sie in der Technik oder auch, wie wir inzwischen wissen, bei Banken durchgeführt werden. Keiner von uns begründet seine Prognosen für den Kapitalismus auf Verdammungen oder Elogen. Wir haben unsere moralischen und politischen Überzeugungen, nehmen aber als historische Soziologen zur Kenntnis, dass das Schicksal menschlicher Gesellschaften - zumindest in den letzten zehntausend Jahren nach dem Jäger-und-Sammler-Stadium - nicht davon abhing, was sie an Gutem oder Bösem hervorgebracht hatten. Unsere Diskussion dreht sich nicht darum, ob der Kapitalismus besser oder schlechter ist als andere Gesellschaftssysteme. Die Frage ist: Hat er eine Zukunft?

In der Frage klingt eine alte Vorhersage an. Der erwartete Zusammenbruch des Kapitalismus war grundlegend für die offizielle Ideologie der Sowjetunion, die selbst zusammengebrochen ist. Aber garantiert das den Fortbestand des Kapitalismus? Georgi Derluguian beleuchtet die wirkliche Stellung des sowjetischen Experiments im umfassenderen Bild der globalen Geopolitik, die am Ende zu seiner Selbstzerstörung geführt hat. Er erklärt auch, wie China dem Zusammenbruch des Kommunismus entging, um zum jüngsten kapitalistischen Wirtschaftswunder zu werden. Der Kommunismus war keine gangbare Alternative zum Kapitalismus. Die Art und Weise aber, wie der Sowjetblock nach 1989 in breiter Massenmobilisierung von unten und blinder Panik bei den Eliten ein plötzliches Ende nahm, könnte für die politische Zukunft des Kapitalismus eine wichtige Lehre beinhalten.

Untergangsszenarien sind nicht Gegenstand dieses Buches. Anders als Wirtschafts- oder Sicherheitsexperten, die aufgrund bestimmter Konstellationen mittels veränderter Variablen kurzfristige Zukunftsprojektionen erstellen, halten wir allzu konkrete Szenarien für nutzlos. Die Ereignisse sind zu zufällig und unvorhersehbar, weil sie auf vielfältigen menschlichen Willensentscheidungen und sich verändernden Umständen beruhen. Halbwegs kalkulierbar sind nur grundlegende strukturelle Entwicklungen. Zwei von uns, nämlich Collins und Wallerstein, die für den Kapitalismus keinen Ausweg mehr sehen, sagten auch schon in den 1970er Jahren das Ende des Sowjetkommunismus voraus. Aber niemand konnte den Zeitpunkt vorhersehen oder die Tatsache, dass es die ZK-Mitglieder selbst sein würden, die auf irrationale Weise ihre wirtschaftlichen Supermachtpositionen preisgaben. Dieser Ausgang war unvorhersehbar, weil es nicht auf diese Weise geschehen musste.

Wir finden Hoffung gegen den Untergang gerade darin, wie sehr unsere Zukunft politisch unterbestimmt ist. Die Systemkrise lockert und sprengt die strukturellen Zwänge, die das Erbe früherer Probleme sind und institutionalisierte Entscheidungen vergangener Generationen darstellen. Business as usual wird unmöglich, und solche Momente eröffnen historische Scheidewege. Der Kapitalismus mit seiner produktiven Zerstörung älterer Technologien und Produktionsformen war auch eine Quelle von Ungleichheit und Umweltzerstörung. Die kapitalistische Strukturkrise kann eine Möglichkeit sein, die menschlichen Angelegenheiten auf eine Weise zu reorganisieren, die mehr soziale Gerechtigkeit schafft und für einen bewohnbareren Planeten sorgt.

Unser Hauptargument ist, dass historische Systeme über mal mehr, mal weniger destruktive Formen verfügen, zugrunde zu gehen und dabei eine andere Gestalt anzunehmen. Die Geschichte menschlicher Gesellschaften entwickelte sich durch revolutionäre Ausbrüche, expansive Entwicklungsmomente und lange, leidvolle Perioden von Stagnation oder sogar Regression. Auch wenn von niemandem gewollt, können letztere zu den möglichen Ausgängen der künftigen globalen Krise gehören. Die politischen und ökonomischen Strukturen des heutigen Kapitalismus könnten angesichts steigender Kosten und sozialer Zwänge schlicht ihre Dynamik verlieren. Strukturell könnte dies dazu führen, dass die Welt in defensive, nach innen repressive und xenophobe Blöcke zerfällt. Manche könnten darin den Kampf der Kulturen sehen, andere die Verwirklichung eines Orwellschen '1984' mithilfe modernster elektronischer Überwachungstechnik. Formen der Wiederherstellung einer gesellschaftlichen Ordnung innerhalb extremer Konfliktlagen könnten an den Faschismus erinnern, aber auch die Möglichkeit einer viel breiteren Demokratie umfassen. Das haben wir in diesem Buch vor allem betonen wollen.

In den letzten Jahrzehnten war es die herrschende Auffassung in der Politik und im sozialwissenschaftlichen Mainstream, dass man über einen strukturellen Wandel nicht nachdenken muss. Die Modelle der neoklassischen Ökonomie beruhen auf der Annahme einer sozialen Welt, die ihrem Wesen nach unveränderlich ist - wenn es zur Krise kommt, führen politische Maßnahmen und technische Innovationen stets zu einer Erneuerung des Kapitalismus. Das ist aber nur eine empirische Verallgemeinerung. Dass der Kapitalismus seit fünfhundert Jahren als System existiert, beweist nicht, dass er unbegrenzt weiter besteht. Die kulturphilosophische Kritik der diversen Postmodernismen, die in den 1980er Jahren - als die utopischen Hoffnungen von '68 der Ernüchterung wichen und mit der sichtbaren Krise des Sowjetkommunismus - als Gegenbewegung aufkamen, ging von derselben Grundannahme einer Beständigkeit des Kapitalismus aus, nicht ohne eine Prise existentieller Verzweiflung. Die kulturellen Postmodernisten waren deshalb außerstande, den strukturellen Realitäten ins Auge zu sehen. In unserem Schlusskapitel werden wir ausführlicher auf die heutige Weltlage mitsamt ihrem geistigen Klima zurückkommen.

Wir haben das Buch bewusst in einem zugänglichen Stil verfasst, weil wir unsere Argumente breiter zur Diskussion stellen wollen. Die Ausarbeitung unserer Thesen ist mit sämtlichen Fußnoten in unseren jeweiligen Monographien zu finden. Das Gebiet, auf dem wir einen Großteil unserer wissenschaftlichen Forschung betreiben, ist bekannt als Weltsystemanalyse oder makrohistorische Soziologie. Makrohistorische Soziologen untersuchen die Ursprünge des Kapitalismus und der modernen Gesellschaft, aber auch die Entwicklung alter Kulturen und Reiche. Durch die Erkenntnis gesellschaftlicher Langzeitstrukturen stellen sie fest, dass sich die Geschichte durch vielfältige Widersprüche und Konflikte entwickelt, die über längere Zeiträume unbeständige Konfigurationen sich überlagernder Strukturen ausbilden. Darin bestand zwischen uns hinreichende Übereinstimmung, um gemeinsam das erste und das letzte Kapitel zu verfassen, von denen dieses Buch eingerahmt wird. Wir haben aber auch unsere eigenen Theorien und Fachgebiete, und die daraus sich ergebenden Auffassungen kommen in den einzelnen Kapiteln zum Ausdruck. Dieses schmale Buch ist kein Manifest, das mit einer Stimme spricht. Es ist eine gleichberechtigte Diskussion, die auf der Grundlage unseres Wissens um die Vergangenheit und Gegenwart menschlicher Gesellschaften geführt wird. Es ist also eine Aufforderung, offen und ernsthaft danach zu fragen, was die nächste große Wende in der Weltgeschichte sein könnte.

Prophezeien wir letztlich eine Art Sozialismus? Die wohlüberlegte Antwort - anstelle einer oberflächlichen Polemik, die ideologisch begründet wäre -, muss zweiteilig sein. Erstens geht es nicht um Prophezeiungen, weil wir an den Regeln wissenschaftlicher Analyse festhalten. Das bedeutet an dieser Stelle, mit hinreichender Genauigkeit zu zeigen, warum sich etwas verändern kann und wie wir von einer historischen Situation zur anderen gelangen. Wird die Endstation ein Sozialismus sein? Unsere Denkwege reichen bis in die mittelfristige Zukunft der nächsten Jahrzehnte. Randall Collins fragt: Worauf deutet die drohende Auflösung der Mittelschichten hin, deren Funktion in der profitorientierten Marktorganisation wegrationalisiert wird? Die Folge könnte eine sozialistische Neuordnung von Produktion und Distribution sein - eine politische Ökonomie, die bewusst und kollektiv auf sinnvolle Beschäftigung für die Mehrheit der Bevölkerung angelegt wäre. Die strukturelle Ausweitung der Probleme des modernen Kapitalismus würde demnach den Sozialismus zum wahrscheinlichsten Kandidaten für seine Nachfolge machen. Doch die Lehren des 20. Jahrhunderts mit der Erfahrung kommunistischer und sozialdemokratischer Staaten sind nicht vergessen. Der Sozialismus hatte seine eigenen Probleme, vor allem durch die übermäßige Zentralisierung - mit den dadurch geschaffenen Möglichkeiten politischer Despotie - und durch das Abflauen der wirtschaftlichen Dynamik. Wenn die Krise des Kapitalismus im sozialistischen Sinne gelöst würde, dürften die Probleme, die der Sozialismus aufwirft, wieder ins Zentrum treten. Einen Vorgriff in die noch fernere Zukunft wagend, erklärt Collins, dass auch ein solcher Sozialismus nicht ewig bestehen würde und die Welt hin- und hergerissen sein wird zwischen kapitalistischen und sozialistischen Formen, die jeweils an ihren eigenen Mängeln zugrunde gehen.

In unterschiedlich optimistischen Projektionen sehen Craig Calhoun und Michael Mann die Möglichkeit eines Bunds von Nationalstaaten, die sich angesichts ökologischer und nuklearer Katastrophen zusammenraufen. Das kann, wie sie glauben, die weitere Lebenskraft des Kapitalismus in einer moderateren, sozialdemokratischen Version von Globalisierung sichern. Was auch immer nach dem Kapitalismus kommt, wird, wie Georgi Derluguian meint, nicht dem kommunistischen Modell gleichen. Die historischen Voraussetzungen der 'Festung Sozialismus' im Sowjetstil sind glücklicherweise passé, zusammen mit den geopolitischen und ideologischen Konfrontationen des letzten Jahrhunderts. Immanuel Wallerstein hält es aber im Kern für unmöglich zu sagen, was den Kapitalismus ersetzen könnte. Die Alternativen seien ein nichtkapitalistisches System, das aber fortfährt, die hierarchischen und polarisierenden Züge des Kapitalismus zu tragen, oder ein relativ demokratisches und egalitäres. Möglicherweise würden aus dem Übergang mehrere Weltsysteme hervorgehen. Auch Calhoun meint, dass sich zur Bewältigung der äußeren Gefährdungen wie auch der inneren Risiken des Kapitalismus eher locker verbundene Systeme herausbilden könnten. Das widerspricht der verbreiteten Annahme, die Welt sei unwiderruflich global geworden. Aber auf welche Theorie, um es noch einmal zu sagen, kann diese ideologische Behauptung sich stützen?

Im 20. Jahrhundert hatten Denker und politische Führer aller Couleur unrecht mit ihrer ideologischen Überzeugung, dass es nur einen einzigen Weg in die Zukunft gebe, wie ihn leidenschaftliche Befürworter von Kapitalismus, Kommunismus oder Faschismus dann auch vertraten und durchsetzen wollten. Keiner von uns hängt der utopischen Auffassung an, der menschliche Wille könne Berge versetzen. Es lässt sich aber zeigen, dass der Aufbau unserer Gesellschaften eine Reihe verschiedener Formen annehmen kann. Das Ergebnis hängt wesentlich vom politischen Willen und von den Visionen ab, die sich im Zuge von großen, die grundlegenden Momente der Geschichte ausmachenden Krisen durchsetzen. Momente dieser Art bedeuteten in der Vergangenheit oft politische Zusammenbrüche und Revolutionen. Wir haben aber allesamt starke Zweifel daran, dass die Revolutionen der Vergangenheit, die innerhalb einzelner Staaten und mit oft erheblicher Gewalt stattfanden, ein Modell für die künftige Politik der kapitalistischen Krise auf globaler Ebene sind. Das lässt uns hoffen, dass sich die Dinge in Zukunft besser bewältigen lassen.

Der Kapitalismus ist kein materieller Ort, der sich wie ein Königspalast oder ein Finanzzentrum von einer revolutionären Menge oder von idealistischen Demonstranten besetzen lässt. Er ist auch kein bloßes Regelwerk 'solider' Grundsätze, die nach den Vorgaben der Wirtschaftsleitartikel angewandt und korrigiert werden können. Es ist die alte Illusion vieler Liberaler und Marxisten, dass Kapitalismus nichts anderes als Lohnarbeit in einer Marktwirtschaft ist. Das war die Grundüberzeugung des 20. Jahrhunderts - auf allen Seiten. Wir haben es nun mit ihren verheerenden Folgen zu tun. Märkte und Lohnarbeit hat es lange vor dem Kapitalismus gegeben, und die gesellschaftliche Koordination durch Märkte wird ihn mit Sicherheit überleben. Der Kapitalismus ist, wie wir behaupten, nur eine bestimmte historische Konfiguration von Märkten und staatlichen Strukturen, in der das oberste Ziel und der Maßstab des Erfolgs der private Gewinn mit fast allen Mitteln ist. Eine andere, befriedigendere Organisation der Märkte und der Gesellschaft könnte aber möglich werden.

Gründe für diese Behauptung sind in diesem Buch und in unseren zahlreichen früheren Schriften zu finden. Begnügen wir uns vorerst mit einer historischen Fabel. Die Menschen haben seit jeher vom Fliegen geträumt, nicht weniger wie von sozialer Gerechtigkeit. Jahrtausendelang blieb es ein Traum. Dann kam die Zeit der Heißluftballons und Zeppeline. Ein Jahrhundert lang experimentierten die Menschen mit diesen Apparaturen. Die Ergebnisse waren, wie wir wissen, mäßig oder schlicht katastrophal. Doch gab es nun Ingenieure, Wissenschaftler und die soziale Grundlage, auf der ihre Erfindungskraft unterstützt und gefördert wurde. Der Durchbruch kam mit neuartigen Maschinen und Aluminiumflügeln. Heute können wir alle fliegen. Die Mehrheit zwängt sich für gewöhnlich in die preisgünstigen Sitzreihen, während nur Wagemutige das Hochgefühl, selbst zu fliegen, mit kleinen Maschinen oder Gleitschirmen erleben. Mit der Fliegerei kamen auch die Schrecken von Bombenangriffen und kreisenden Drohnen. Die Technik denkt, aber der Mensch lenkt. Alte Träume können wahr werden, nur kann uns das vor schwierige Entscheidungen stellen. Optimismus ist jedoch eine notwendige historische Bedingung, um emotionale Kräfte in einer Welt freizusetzen, die vor der Wahl zwischen gegensätzlichen Alternativen steht. Durchbrüche könnten möglich werden, wenn in das Nachdenken und Diskutieren über Alternativen genügend Unterstützung und öffentliche Aufmerksamkeit eingeht.

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