Den Begriff der Trichotillomanie (TTM) prägte 1889 der französische Dermatologe Hallopeau, indem er die griechischen Wörter trich (Haar), tillo (die Bewegung des Herausziehens) und mania (Vorliebe für bestimmte Objekte) zu einem neuen Begriff zusammensetzte. Er beschrieb damit das Verhalten eines jungen Mannes, welcher sich büschelweise Haare an allen behaarten Stellen seines Körpers ausriss (zitiert nach Dielmann, 1969). Auslöser sei dabei ein Juckreiz, der bei diesen Patienten zu einer Psychose mit Zwangsvorstellungen führe, die sie zum Ausreißen zwängen. Zu den von Hallopeau beschriebenen charakteristischen Merkmalen zählten:
a) Hautjucken am ganzen Körper,
b) eine Art wahnsinniger Druck, der den Patienten dazu bringe sich die Haare mit dem Zweck der Erleichterung auszureißen,
c) kein krankhaftes Erscheinungsbild von Haut und Haaren sowie
d) eine Chronifizierung der Erkrankung (zitiert nach Christenson & Mackenzie, 1994a).
Galewsky (1928; zitiert nach Asam & Träger, 1973) beschreibt die Erkrankung als anormalen Trieb anscheinend gesunder Individuen, sich mit Gewalt die Haare ihres Körpers auszureißen. Besonders Kopfhaare, Augenbrauen, Wimpern, Bart und in seltenen Fällen auch Schamhaare, seien davon betroffen. Je nach der pathologischen Einstellung des Patienten erfolge dieses wahllos oder ähnlich wie bei der Alopecia areata fleckenweise. Für den Dermatologen Schwarzkopf (1931) stellt die Trichotillomanie (TTM) ähnlich dem Daumenlutschen eine motorische Entspannungs-reaktion dar, wobei vor allem Impulse im Ermüdungszustand zum Auszupfen der Haare führen (zitiert nach Otto & Rambach, 1964). Homburger (1926) betrachtet das Haareausreißen wie auch das Daumenlutschen als mögliche frühkindliche Normal-erscheinungen. Er ordnet das Verhalten den schlechten Gewohnheiten zu, durch die u.a. starke Affekte abreagiert würden.
Galewsky (1932; zitiert nach Bartsch, 1956) glaubt, dass es sich bei Trichotillomanie (TTM) um eine Art Zwangsvorstellung handelt, welche die Kranken zwinge sich die Haare auszurupfen. Bartsch (1956) betrachtet das Symptom des Haareausreißens als stereotype Verhaltensweise bzw. als einen Leerlaufmechanismus im Sinne einer motorischen Antriebsstörung, wobei er zwischen dranghaftem Verhal-ten bei cerebral geschädigten Menschen und triebhaftem Verhalten bei Personen mit neurotischen Störungen unterscheidet.
Dührssen (1976) spricht von einem gestörten Körpergefühl und der Unterdrückung oraler, aggressiver und zärtlichkeitsfordernder Impulse. Dührssen (1976, S. 183): „...hinter dem Haareausreißen steht eine auffällige Koppelung von verdrängten Wutimpulsen oder Aggressionsbereitschaften einerseits und sehr inten-siven Zärtlichkeitsbedürfnissen andererseits. Mit dem Körperempfinden, das sich das Kind beim Haareausreißen selber zufügt, schafft es sich einen kurzen Augenblick der Bestätigung seiner eigenen Existenz“.
Für Stutte (1960; zitiert nach Dielmann, 1969) wird die Trichotillomanie (TTM) durch ein seelisches Trauma ausgelöst. Sie stellt eine Ersatzbefriedigung aggressiver und regressiver Art dar und ist Ausdruck frühkindlicher Frustrationen durch mangelnde Zuwendung und Konflikte im sozialen Umfeld. Harbauer, Lempp, Nissen & Strunck (1971; zitiert nach Asam & Träger, 1973) verweisen insbesondere auf die depressive Grundstimmung der Kinder mit TTM. Sie sehen in dem Symptom einen Zusammenhang zwischen affektiver Frustration und mangelhaft entwickeltem Körperschema. Asam & Träger (1973) kommen zu der Auffassung, dass als Ursache der TTM eine frühe Störung der Mutter- Kind- Beziehung anzunehmen ist. Kind (1983) betrachtet das Ausreißen der Haare als Symbol sexueller Verführungskräfte mit dem Wunsch in die präödipale, von hetero- sexuell- inzestuösen Wünschen freie Zeit zurückzukehren.
Oranje, Peere- Wynia & De Raeymaker (1986) resümieren, dass eine im Erwachsenenalter auftretende Trichotillomanie von der im Kindesalter bezüglich Schweregrad und Verlauf unterschieden werden müsse. Aussagen über Prävalenzen in beiden zu unterscheidenden Gruppen gibt es bis heute nur sehr wenige.
Mit der Aufnahme der Trichotillomanie in die dritte revidierte Form des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM- III- R), wurde diese erstmals offiziell als psychische Störung anerkannt. Zusammen mit der Intermittierenden- Explosiblen Störung, der Kleptomanie, dem Pathologischen Spielen und der Pyromanie wurde die Trichotillomanie der Kategorie „Störungen der Impulskontrolle, nicht andernorts klassifiziert“ zugeordnet. Das Hauptmerkmal von Störungen der Impulskontrolle ist dabei das Versagen dem Impuls, Trieb oder der Versuchung zu widerstehen eine Handlung auszuführen, die für die Person selbst oder für andere schädlich ist. Dabei fühlen die Betroffenen oft eine zunehmende Spannung oder Erregung bevor die Handlung durchgeführt wird. Die Handlung selbst ist mit Vergnügen, Befriedigung oder Entspannung verbunden. Nach der Handlung können Reue, Selbstvorwürfe oder Schuldgefühle auftreten. Die Diagnosekriterien des aktuellen DSM- IV (American Psychiatric Association, 1994) sind in Tabelle 1 aufgeführt.
Tabelle 1: Diagnosekriterien nach DSM- IV für Trichotillomanie (312.39)
Im ICD- 10 (World Health Organization, 1992) wird die Trichotillomanie (F 63.3) in der Gruppe der „Abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F 63.0)“ aufgeführt. Dabei handelt es sich um isoliert auftretende auffällige Verhaltensweisen, die nicht als Symptom einer anderen diagnostizierten psychischen Störung anzusehen sind (z.B. als Symptom einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung oder manischen Episode). Die Handlungen wiederholen sich dabei ohne vernünftige Motivation. Zur Definition der Trichotillomanie heißt es im ICD- 10 (Tabelle 2):
Tabelle 2: Diagnosekriterien nach ICD- 10 (Kap. V) für Trichotillomanie (F 63.3)
Das Haareausreißen geschieht normalerweise nicht im Beisein von anderen, abgesehen von den direkten Angehörigen. Dabei gehen die Betroffenen in ihrem Verhalten systematisch auf die Suche nach besonders grobfasrigen, dicken, langen, krummen oder grauen Haaren. Hauptmotivation ist dabei das Streben nach Symmetrie der Haare (Christenson, Mackenzie & Mitchell, 1991a). Das unterschiedlich schnelle, stufenweise Nachwachsen der Haare ist nicht nur besonderes Merkmal bei TTM, sondern führt auch dazu, dass sich das Reißverhalten in dem Bestreben nach Symmetrie selbst verstärkt.
Ca. 48% der Betroffenen zeigen nach dem Ausreißen orale Befriedigungsweisen. So wird sich mit dem Haar über die Lippen gestrichen, dieses als Zahnseide benutzt oder aufgegessen (Christenson & Mackenzie, 1994a). Für viele stellt nur die Haarwurzel den eigentlichen Anreiz dar, welche nach dem Ausreißen genussvoll zerbissen wird (Christenson & Mansueto, 1999). In einigen Fällen wird das Haar auch gegessen (Trichophagie) was zu ernsthaften Komplikationen führen kann, wenn sich der unverdauliche Haarball im Magen oder Dickdarm festsetzt (O´Sullivan, Keuthen, Jenike & Gumley, 1996). Zudem wird von den Autoren ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung eines Carpaltunnel- Syndroms genannt.
Die Betroffenen verleugnen und vertuschen den selbstzugefügten Haarausfall. Einige haben den Drang zum Ausreißen von Haaren bei anderen. Es kommt vor, dass Haustieren, Puppen und anderen behaarten Gegenständen Haare ausgerissen werden. Nägelkauen, Kratzen, Nagen und Hautabschürfungen können mit Trichotillomanie einhergehen (American Psychiatric Association, 1994).
Eine Biopsie der betroffenen Körperstellen kann kurze und abgebrochene Haare aufzeigen. Oft ist das Haar wie Flaum sehr dünn und spärlich und in der Pigmentierung verändert. Bei einer histologischen Untersuchung werden im selben Areal sowohl normale als auch zerstörte Follikel gefunden. Betroffene Follikel können leer sein oder stark pigmentierte Keratinpfropfen enthalten. Das Fehlen von Entzündungen unterscheidet den Haarausfall durch Trichotillomanie von der Alopecia areata (American Psychiatric Association, 1994).
Sichtbare Merkmale sind sowohl Stellen mit totaler Haarlosigkeit, als auch Stellen bei denen die Haardichte deutlich reduziert ist. Häufiger fehlen Augenbrauen und Wimpern...