Ziel dieser Arbeit ist die Untersuchung möglicher Einflüsse von unbewußten visuellen Wahrnehmungen auf die soziale Einstellungsbildung. Dieses Kapitel beschäftigt sich in erster Linie mit der Frage, ob unbewußte Wahrnehmungsprozesse existieren und wie sie sich nachweisen lassen. Darüber hinaus ist natürlich von besonderem Interesse, wie nichtbewußte Wahrnehmungsphänomene zu erklären sind, d.h. welche grundlegenden und bekannten psychologischen Mechanismen für diese Erscheinungen verantwortlich zu machen sind. Wie bereits in Abschnitt 1.1 bemerkt, geht die verbreitete Verwendung des Begriffs des Unbewußten in der kognitiven Psychologie heutiger Zeit keineswegs mit einheitlichen Vorstellungen oder Definitionen zu diesem Phänomen einher. Das folgende Kapitel soll einen Einblick in die unterschiedlichen Standpunkte in diesem Forschungsbereich geben.
In dieser Arbeit soll auf die Darstellung sogenannter impliziter Gedächtnisprozesse verzichtet werden, obwohl sicher einige Berührungs- und Schnittpunkte vorhanden wären. Eine halbwegs verständliche Bezugnahme zu dieser umfangreichen Teildisziplin ist in diesem engen Rahmen aber leider nicht möglich. Die Monographie von Graf und Masson (1993) gibt eine gute Einsicht in den Bereich der impliziten Gedächtnisforschung.
Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellten Sigmund Freud und William James unabhängig voneinander die Existenz unbewußter Informationsverarbeitungsprozesse fest (Perrig et al., 1993). Freud kam nach Beobachtungen an psychisch Kranken zu dem Schluß, daß unbewußte seelische Prozesse unsere Erinnerungen oder unsere bewußten Handlungen beeinflussen. Das Unterbewußte Freuds stellt eine Instanz dar, welche sich aus verdrängten Erinnerungen und Vorstellungen aus der Kindheit zusammensetzt. Die Annahmen von William James zur unbewußten Informationsverarbeitung unterscheiden sich von denen Freuds. James geht von zwei unterscheidbaren Gedächtnisprozessen aus. Er postuliert ein primäres (bewußtes) und ein sekundäres (unbewußtes) Gedächtnis. Auf das primäre System haben wir unmittelbaren Zugriff; hier können Daten mühelos abgerufen werden. Das sekundäre System hingegen erlaubt uns den Zugriff auf die dort abgelegten Daten nicht oder nur unter erschwerten und mühevollen Bedingungen (Perrig et al., 1993).
Perrig et al. (1993) erkennen drei Hauptströmungen, die sich mit der Erforschung unbewußter Prozesse auseinandergesetzt haben:
1.) Studien, die durch Freud oder James initiiert oder beeinflußt wurden, dienten dem Nachweis nicht bewußter Vorgänge, die unser Verhalten beeinflussen sollen. Als Indikator für unbewußte Wahrnehmung galt das Raten oberhalb des Zufallsniveaus.
2.) Die Behavioristen der dreißiger Jahre versuchten sich an dem Nachweis, daß das Bewußtsein und damit auch notwendigerweise unbewußte Prozesse überflüssige Konzepte seien. Sie beschäftigten sich hauptsächlich mit unbewußtem Lernen. Mit der kognitiven Wende verloren sich diese Ansätze.
3.) Nun treten kognitionspsychologische Studien in den Vordergrund. Unbewußtes Denken und Handeln werden zum Gegenstand der Forschung. In unterschiedlichen Paradigmen hält die Forschungslust am Unbewußten bis heute an.
Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts wollen wir zwei der frühen Untersuchungen und eine ihrer Folgeuntersuchungen aus dem Bereich unbewußter Prozesse vorstellen. In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels werden dann weitere Studien, welche in den letzten 50 Jahren unternommen wurden, beschrieben.
Zu den frühesten Studien über unbewußte Wahrnehmungsprozesse gehört die in Abschnitt 1.1 ausführlich beschriebene Arbeit von Pierce und Jastrow (1884, nach Kihlstrom et al., 1992a). Die Ergebnisse dieser Studie blieben aber vor allem in heutiger Zeit nicht unkritisiert. Merikle und Reingold (1992) weisen darauf hin, daß die subjektive Beurteilung, ob geraten wurde oder nicht, nicht ausreicht, um tatsächlich empirisch sicherzustellen, ob echtes Raten ohne jede Beteiligung bewußter Prozesse vorliegt. Die subjektive Einschätzung des eigenen Rateverhaltens ist also nicht exhausiv und somit kein zulässiger Indikator für unbewußte Prozesse. Kihlstrom et al. (1992a) bemerken noch zusätzlich, daß Antworttendenzen der Probanden, nämlich die Absicht unbewußte Prozesse nachzuweisen, die Ergebnisse beeinflußt haben können, da es sich um einen Selbstversuch von Pierce und Jastrow handelte.
Ein weiteres interessantes Phänomen wird von Poetzl (1917, nach Perrig et al. 1993) berichtet: Er beobachtete, daß z. B. bei Patienten mit Läsionen im visuellen Kortex unbewußt wahrgenommene Reize nach einiger Zeit wieder im Gedächtnis auftauchten (Erst sehr viel später wurde dieser Effekt, der als blindes Sehen bezeichnet wird, eingehend von Weiskrantz, Warrington, Sanders und Marshall (1974) untersucht). Dieses - von ihm mehrfach beobachtete - Phänomen nannte er law of exclusion. Er versuchte, diese Erscheinungen auch bei normalen Versuchspersonen experimentell nachzuweisen. Hierzu wurde 24 Probanden ein Farbfoto der Tempelruinen von Theben für 10 ms dargeboten. Im Anschluß an die Darbietung wurden die Versuchspersonen befragt, was sie gesehen haben. Außerdem wurden sie aufgefordert, alle Träume der folgenden Nächte aufzuzeichnen. Hierbei zeigte sich nun, daß in den Träumen Bildfragmente auftauchten, welche in der Befragung nach der Darbietung nicht genannt worden waren. Diese Erscheinung wurde später als Poetzl-Effekt bezeichnet. Poetzl erklärte diesen Effekt mit der begrenzten Kapazität unserer Wahrnehmung und der nahezu unbegrenzten Fähigkeiten zur Assimilation und assoziativen Speicherung, welche sich aber dem Bewußtsein entziehen. Von der Wahrnehmung werden aktiv solche Objekte ausgeschlossen, welche für die Psyche des Rezipienten eine Bedrohung darstellen. Dieses Konzept läßt sich auch als perzeptuelle Abwehr (s.u.) oder psychogene Blindheit auffassen (Perrig et al., 1993).
Der Poetzl-Effekt wurde mehrfach repliziert. In Folgeuntersuchungen ging es in erster Linie um die Frage, ob der Effekt subjekt- oder stimulusdeterminiert ist. Subjektdeterminiertheit meint in diesem Zusammenhang, daß selektive Informationsverarbeitungsprozesse des Wahrnehmenden den Effekt verursachen (perzeptuelle Abwehr). Von Stimulusdeterminiertheit spricht man, wenn der Reiz im physikalischen Sinne zu schnell oder zu kurz dargeboten wurde, um bis in das Bewußtsein vorzudringen (Perrig et al. 1993). Laut Dixon (1981) läßt sich aus den vorliegenden Untersuchungen schließen, daß der Effekt subjektabhängig ist und nicht durch die Art der Stimulusdarbietung determiniert wird.
In einer Studie von Shevrin und Fisher (1967) wurden Probanden kurz vor dem Schlafengehen Bilderrätsel oder ein Leerbild für 6 ms präsentiert. Die Versuchspersonen wurden dann direkt nach REM- und nach Non-REM-Phasen geweckt und aufgefordert, eventuelle Trauminhalte zu berichten und anschließend frei zu assoziieren. Es zeigte sich zwar kein Effekt bei den Trauminhalten, aber dafür unterschieden sich die Assoziationen nach den verschiedenen Schlafphasen. Nach den REM-Phasen erfolgten signifikant mehr phonetische Assoziationen zum gesamten Bilderrätsel; nach Non-REM-Phasen zeigten sich dagegen mehr prozeßhaft konzeptuelle Assoziationen zu einzelnen Bestandteilen des dargestellten Bilderrätsels. Die Autoren sehen in den Ergebnissen ihrer Arbeit eine Bestätigung des Poetzl-Effekts, da eine weitere Verarbeitung nicht bewußt wahrnehmbarer Informationen im Schlaf nachgewiesen wurde. Perrig et al. (1993) bemerken zum Poetzl-Effekt, daß zwar einzelne Arbeiten aus diesem Bereich sicherlich zu kritisieren sind, daß viele Ergebnisse „in ihrer Stimmigkeit aber beeindruckend und in hohem Maße suggestiv“ (S.184) ausfallen.
Der Forschungsgegenstand des unbewußten Konditionierens läßt sich in mehrere Gruppen unterteilen. Es sollen im Folgenden einige exemplarische Untersuchungsbeispiele aus den Bereichen klassischer und instrumenteller Konditionierung sowie des Begriffslernens gegeben werden. Eine gesonderte Behandlung erfahren die Untersuchungen zur Subception-Hypothese. Sie werden am Ende des Abschnitts vorgestellt.
Eine ausführliche Darstellung zu diesem Thema des unbewußten Lernens findet sich bei Koeppler (1972) oder als etwas aktuellere Übersicht bei Perrig et al. (1993).
Unbewußte klassische Konditionierung
Die von den Behavioristen vertretene Auffassung, daß die Konditionierung von autonomen Reaktionen als Beweis für unbewußtes Lernen tauge, basiert auf einer Gleichstellung der Begriffe bewußt mit willkürlich und absichtlich sowie unbewußt mit unwillkürlich und absichtslos. Diese Gleichstellung ist aber nicht unproblematisch, da es in einigen Experimenten gelang, unwillkürliche Reaktionen unter willkürliche Kontrolle zu bringen. Unwillkürliche motorische Reaktionen sind durchaus bewußt erfahrbar und beschreibbar. Außerdem scheint nicht jede Reaktion auf bewußt erfahrene Reize tatsächlich auch willkürlicher...