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E-Book

Südtirol im 20. Jahrhundert

Vom Leben und Überleben einer Minderheit

AutorRolf Steininger
VerlagStudienverlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl624 Seiten
ISBN9783706557887
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Wie in einem Brennglas findet sich in der Geschichte Südtirols die Geschichte des 20. Jahrhunderts wieder: Vergewaltigung einer Minderheit durch die Faschisten, das Zusammenspiel der Diktatoren Hitler und Mussolini, das 1939 mit der 'Option' zur 'ethnischen Säuberung' führen sollte. Nach 1945 in den Mühlen des Kalten Krieges, keine Rückkehr nach Österreich, dafür eine Autonomie, die sich als Scheinautonomie erwies. Dann Bomben, Tote, Terror und mit dem 'Paket' 1969 der zweite Versuch einer Autonomie, der heute von vielen Modellcharakter zugesprochen wird. Rolf Steininger legt mit seinem neuen Buch erstmals eine Gesamtdarstellung der Südtirolfrage vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart vor. Für wichtige Bereiche - z.B. Bombenkrieg, Gruber-De Gasperi-Abkommen, Erstes Autonomiestatut 1948, die Entwicklung bis 1969 - verwendet der Autor bislang nicht zugängliches Material aus verschiedenen Archiven. Ergänzt wird der Band durch 155 Fotos, von denen zahlreiche erstmals veröffentlicht werden, ein ausführliches Literaturverzeichnis, einen bibliographischen Essay, 44 Fragen und Thesen sowie eine detaillierte Zeittafel und ein Personenregister. Ein wichtiges Buch für alle Freunde Südtirols, das durch seinen klaren Aufbau und die verständliche Sprache auch dem Nichthistoriker einen Einstieg in die jüngste Geschichte Südtirols ermöglicht.

Über den Autor: Dr. Rolf Steininger, geboren 1942, ist Universitätsprofessor und Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Steininger gilt als einer der profundesten Kenner der Geschichte Südtirols im 20. Jh., die er in zahlreichen, in der Öffentlichkeit oft heftig diskutierten Publikationen behandelte.

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Leseprobe

I. Kapitel


November 1918 – Juli 1919:
Die Militärregierung


1. Kriegsende und Besatzung

2. Ettore Tolomei (I)

1. Kriegsende und Besatzung


Am 3. November 1918 wurde in der Villa Giusti in Abano in der Nähe von Padua der Waffenstillstand zwischen Österreich-Ungarn und Italien geschlossen. Anschließend begann die kampflose Besetzung Südtirols durch italienische Truppen, die bereits am 4. November Salurn, den Mendelpaß und Schluderns erreichten. Es war zwar Waffenstillstand, aber die Lage war alles andere als friedlich. Die k.u.k. Truppen lösten sich im Chaos auf. Erschöpft und hungernd strömten sie durch Südtirol über den Brenner nach Österreich zurück. Raub und Plünderungen waren an der Tagesordnung. Wie chaotisch die Situation damals war, wird in der Pfarrchronik von Kastelruth anschaulich beschrieben:

„Allerseelenwoche [...]. Zug auf Zug fährt gegen den Brenner, vollgepfropft mit den Soldaten. Auf den Waggonstiegen, Perrons, Wagendächern – alles voll Soldaten. Manche werden abgestreift in den Tunnels, überfahren, niemand kümmert sich. Auf der Straße – alles voll Soldaten, endlose Reihen, Tag und Nacht. Die Züge hören auf zu fahren, aber auf dem Bahngleise dafür endlose Reihen von Soldaten, müde zum Umfallen, hungrig, verdrossen, verzweifelt ziehen sie einher. Ein Bild zum Weinen. Manche schießen wild umher. Es ist lebensgefährlich.“1

In der Zeitung „Der Tiroler“ hieß es am 8. November über die Lage in Gries bei Bozen:

„Was Gries seit dem Allerseelentage durch die zurückflutende Soldateska gelitten hat, ist gar nicht zu sagen. Das waren nicht mehr Soldaten, sondern eine wilde Horde, welche einer Lawine gleich alles vernichtete und verwüstete. Die hohen Herren Stabsoffiziere der k.u.k. Heereskorpskommandos hatten sich und ihre Damen bereits am Freitag, den 1. November, mit dem Wiener Schnellzug in Sicherheit gebracht, und nun konnten die herrenlosen Truppen in Gries rauben und plündern, wie sie wollten [...]. Straßen und Wege waren voll von Fuhrwerken! [...] Wie es in den Straßen aussieht, ist unbeschreiblich. Dies ist ein Ende, ein Ende mit Schrecken!“2

Das Kommando der 11. österreichisch-ungarischen Armee ersuchte den italienischen Generalstabschef Armando Diaz, die Eisenbahnlinien Trient-Brenner und Franzensfeste-Bruneck zu besetzen, um so einen geordneten Durchzug der k.u.k. Truppen zu ermöglichen, was dann auch geschah. Andere italienische Truppenverbände drangen über das Stilfser Joch in den Vinschgau ein und besetzten am 5. November Meran. Von der Mendel kommend erreichte eine Kavalleriepatrouille am 6. November Bozen, am nächsten Tag schließlich besetzten Truppen der 7. Armee die Stadt. Aus Südtiroler Sicht stellte sich das folgendermaßen dar:

„Heute, Donnerstag, vormittags, sind italienische Truppen in der Stärke von einigen Bataillonen Infanterie sowie etwas Kavallerie in Bozen eingerückt. Sie besetzten vor allem die Wachtposten und den Bahnhof, um den geregelten Abtransport der österreichisch-ungarischen Truppenteile nach Norden zu sichern, sowie die Reichsstraße, um dafür Sorge zu tragen, daß das auf dem Heimmarsch befindliche österreichische und ungarische Militär auf der Marschstraße bleibt und etwa zu Plünderungen geneigte Individuen von Ausschreitungen gegen die Bevölkerung abgehalten werden, so daß unsere Gegend Hoffnung hat, vor Furchtbarem verschont zu werden, welches gar viele Häuser an der Heeresstraße, insbesondere im Eisacktal betroffen hat [...]. Die unhaltbaren Zustände, welche sich allerorts durch den regellosen, in vollständiger Auflösung erfolgten Rückzug der eigenen Truppen, insbesondere in Bozen herausgestellt haben, bildeten eine ungeheure Gefahr für Leben und Eigentum der Bevölkerung. Die Heeresleitung, insofern sie überhaupt noch vorhanden war, sah sich der Lage völlig machtlos gegenüber [...]. Daher wandte sich unsere Heeresleitung mit dem dringenden Ersuchen an die italienische Heeresleitung, den Anmarsch zu beschleunigen, den Ordnungsdienst in Bozen zu übernehmen und nach Beseitigung der derzeitigen Unordnung den Truppenabmarsch, der sonst unmöglich gewesen wäre, möglichst rasch durchzuführen. Diese Aufgaben haben die italienischen Truppen heute bereits übernommen. Der Stadtmagistrat forderte die ganze Bevölkerung auf, sich dem Unabwendbaren mit Ernst und Ruhe zu fügen und den Anordnungen aller Behörden unbedingt Folge zu leisten.“3

Der italienische General Enrico Caviglia erklärte nach der Besetzung Bozens, daß die italienischen Truppen in der Stadt ausschließlich den Sicherheitsdienst übernehmen würden und daß sie sich „nur als Gäste im fremden Hause ansehen [...], daß die nationalen Gefühle der Bevölkerung durchaus geschont werden sollen und daß diesbezüglich die vollkommene Freiheit der Bevölkerung in jeder Weise gewährleistet ist“.4

Von Bozen drangen die Truppen dann durch das Eisacktal Richtung Brenner vor. Der Vorstoß erfolgte sehr langsam, da bayerische Truppen in Nordtirol eingerückt waren. 1500 von ihnen erreichten am 8. November Franzensfeste; am folgenden Tag waren sie in Brixen. Daraufhin beschloß General Guglielmo Pecori-Giraldi, auf schnellstem Wege zum Brenner vorzustoßen; er befürchtete, daß sich Teile der in Auflösung befindlichen österreichisch-ungarischen Verbände den deutschen Truppen anschließen könnten. Die bayerischen Truppen zogen aber wieder ab, und die Italiener konnten am 10. November den Brennerpaß besetzen. In Südtirol selbst waren sie in kürzester Zeit bis in die entlegensten Täler und die höchstgelegenen Dörfer und Weiler vorgestoßen.

Der Artikel 4 des Vertrages von Villa Giusti bot den Italienern auch die Möglichkeit, Nordtirol zu besetzen; auf alliierter Seite wollte man die Voraussetzungen für eine mögliche Invasion Deutschlands von Süden her schaffen; in diesem Fall hätte das Land als Aufmarschgebiet gedient. Und so besetzten italienische Truppen am 23. November auch Innsbruck und weitere Gebiete Nordtirols. In ganz Tirol standen 80.000 bis 100.000 italienische Besatzungssoldaten.

Die Südtiroler Bevölkerung reagierte auf die Okkupation im ersten Moment mit lähmendem Entsetzen, ungläubigem Staunen und Zurückhaltung. Über das Eintreffen der Italiener heißt es in der Chronik von Kastelruth:

„14. November: Die ersten Italiener kommen. Vormittags Quartiermache, etwas scheu, aber ruhig. Nachmittags eine ganze Kompanie Soldaten. Die Offiziere scheinen etwas verärgert, weil kein Empfang stattfand. Die Bevölkerung aber ist müde, müde, vollständig interesselos. Es wird Reis, Suppe unentgeltlich verteilt an arme Kinder, welche jedoch von manchen trotz der Lebensmittelnot nicht angenommen wird.“5

Auf das, was man jetzt erlebte, war man nicht vorbereitet gewesen. Über Nacht war die Welt mit der bewährten Ordnung, die sich in den Begriffen „Gott-Kaiser-Vaterland“ ausgedrückt hatte, zusammengebrochen. Von November 1918 bis zum 31. Juli 1919 unterstand Südtirol einer Militärregierung unter General Guglielmo Pecori-Giraldi. Pecori-Giraldi war 1856 in Florenz geboren, hatte an den Kolonialkriegen in Eritrea (1903) und Libyen (1911) teilgenommen und war 1915 zum Oberkommandierenden der 1. italienischen Armee ernannt worden.

Die Zeit der Militärregierung wird von den italienischen Historikern, die sich mit Südtirol beschäftigen – Sergio Benvenuti, Mario Toscano, Luciano Dallago, Paolo Alatri oder Antonio Zieger -, nur kurz behandelt und sehr positiv dargestellt. Alle betonen das tolerante und gemäßigte Vorgehen von Pecori-Giraldi. Ausführlicher beschäftigt sich Umberto Corsini mit diesem Zeitraum. Für ihn war

„in Wahrheit die ganze Tätigkeit der Militärregierung von gewissenhaftem Respekt für Freiheit und Mäßigung inspiriert worden. Man kann nicht auf diese Zeit der außerordentlichen Verwaltung zurückblicken, [...] ohne die Leute aufrichtig zu bewundern, die damals im liberalen und demokratischen Italien die Macht innehatten. [...]. In der gesamten Tätigkeit des Militärgouverneurs [...] erschien der Geist der Mäßigung, des Respekts für die lokalen Traditionen, für den Charakter der Völker, für ihre Geschichte und des aufrichtigen Verständnisses für die deutschsprachige Minderheit, das man als exemplarisch bezeichnen kann.“6

Für ihn war die Arbeit Pecori-Giraldis von „Unparteilichkeit, Gerechtigkeit und von genauestem Verständnis der Probleme“ geprägt.7

In einem abschließendem Rechenschaftsbericht beschrieb Pecori-Giraldi seine Tätigkeit selbst so: „Diese Duldsamkeit [...] verwirrte natürlich auch die Ansichten unserer größten Gegner [...], und sie sind nun schweren Herzens gezwungen zu bestätigen, daß wir sie nicht...

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