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E-Book

Supertramp

Als blinde Passagierin mit dem Güterzug durch das Herz Amerikas

AutorTamina-Florentine Zuch
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783959719599
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Ein Solotrip voller Abenteuer auf der Suche nach der absoluten Freiheit Sechstausend Meilen in sechs Wochen, von New York bis nach San Francisco, von der Ostküste bis zur Westküste - und das auf Güterzügen, illegal als blinder Passagier, vollkommen auf sich allein gestellt: Tamina-Florentine Zuch hat es gewagt und sich im Sommer 2017 auf die Spuren der Hobos begeben, die in den 1920er- und 1930er Jahren millionenfach mit den Zügen durch Amerika getrampt sind, um sich von einer Feldarbeit zur nächsten transportieren zu lassen. Die 27-jährige Fotografin begegnete faszinierenden Persönlichkeiten, die sich den Anforderungen einer rücksichtslosen Erfolgsgesellschaft widersetzen. Sie verbrachte Wochen unter freiem Himmel, erbettelte Geld und Essen, rauchte mit einem pensionierten Polizisten einen Joint und wurde an einem Tag beinahe von einer giftigen Schlange gebissen und von einem Redneck erschossen. Jeder Tag war ein Abenteuer und die Nächte erst recht.

Tamina-Florentine Zuch, 1990 geboren, ist Fotografin, Filmemacherin und gelegentliche Schreiberin. Ihren Abschluss in Fotojournalismus und Dokumentarfotografie machte sie 2017. Sie liebt das Reisen mit dem Zug und fühlt sich überall zu Hause. Aktuell lebt sie in Hamburg, von wo aus sie die ganze Welt bereist.

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Leseprobe

Teil II


Wenn meine Mutter einen Raum betrat, sahen sich alle nach ihr um und lächelten. Es erstaunt mich, wie unterschiedlich sich unterschiedliche Menschen an die gleiche Vergangenheit erinnern. Ich merke, wie die Erinnerungen meiner Kindheit langsam verblassen. Ich hätte meine Mutter gern kennengelernt, als sie in meinem Alter war.

Die Angst vor Spinnen, Einbrechern oder der Dunkelheit habe ich mir abgewöhnt. Ich sitze meist in Fahrtrichtung, obwohl ich die Landschaft lieber von mir wegziehen sehe. Ich stehe auf Männer und auf Frauen.

In meinem 17. Lebensjahr habe ich mir jeden Abend gewünscht, meine Brüste sollten bis zum Abschlussball noch ein wenig größer werden.

Es fällt mir schwer, Freundschaften länger als ein paar Jahre zu halten.

Die Tiere haben meinen Vater sehr glücklich gemacht, doch um sie kümmern konnte er sich nicht. Geht es meiner Mutter schlecht, entzündet sich mein Bauchnabel. Lilli, unsere Kuh, mochte mein Vater am liebsten. Ich habe eine Ansammlung von Sommersprossen über der rechten Hüfte.

Je älter ich werde, umso leichter fällt es mir, Dinge nur für mich zu tun.

Mein Vater war immer voller Hass, und wenn einmal die Liebe durchbrach, fühlte man sich überrumpelt.

Als Kind sah ich dabei zu, wie ein Einfamilienhaus abbrannte. Mich faszinierte der Anblick der Familie, deren entsetzte Gesichter von den Flammen beleuchtet wurden. Einmal weckte uns mein Vater mitten in der Nacht für eine Schneeballschlacht.

Es ist generell viel schöner, etwas Gutes herauszufinden als etwas Schlechtes. Im Journalismus ist das oft umgekehrt.

Sonntag, 04. Juni – Montag, 05. Juni, New Orleans – Los Angeles

Mein Bus hat Verspätung, und ich verpasse meinen Anschluss in Houston. Ich werde die Nacht also in der Stadt verbringen müssen, da der nächste Bus nach El Paso erst früh am Morgen geht.

Im Gebäude des Busbahnhofs rolle ich meine Matte und den Schlafsack aus und habe das Gefühl, dass ich hier gut werde schlafen können. Ich schreibe Scratch eine Nachricht und frage, ob er bereits in Houston sei. Anscheinend hat er ewig im Regen neben den Gleisen auf einen Zug gewartet und ist dann aus reiner Frustration auf einen Junk-Train gestiegen – einen Zug, der aus Anhängern besteht, die mit Schrott gefüllt sind und üblicherweise nur zwischen zwei Städten hin und her pendeln. Schon nach zwanzig Minuten ist Scratch erwischt worden. Er hat die Nacht im Gefängnis verbracht und hängt nun irgendwo im Nirgendwo fest, ohne zu wissen, wie er dort wegkommen soll. Ich texte ihm alle Informationen, die ich zu den Zügen in der Gegend dort habe, und wünsche ihm viel Glück.

Während der tagelangen Busfahrt kann ich kaum ein Auge zumachen. Zuerst sitze ich neben einem Studenten aus Florida, dann neben Steven, der seine Schwester besucht, die er seit sechzehn Jahren nicht gesehen hat. Er lebt allein im Wald und geht nur selten unter Menschen.

Im Bus ist es laut und stickig. Wir halten oft, und jedes Mal ändert sich die Zusammensetzung der Mitreisenden und damit die Amtonsphäre im Bus. Mal ist es laut mit Unterhaltungen und Kindergeschrei, dann wieder herrscht müdes Schweigen. Die Toiletten sind in Dauerbenutzung, der beißende Uringestank verteilt sich im gesamten Bus und vermischt sich mit dem Schweißgeruch der Passagiere. Ich darf in den Pausen nicht an meinen Rucksack, der im Gepäckfach liegt. Aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. Ich hätte mir so gern die Zähne geputzt.

Die Landschaft verändert sich mit jeder Stunde, die wie in Zeitlupe vergeht. Wüsten ziehen vorüber, auf die das Licht der Sonne gnadenlos aus einem wolkenlosen Himmer herunterstrahlt. Wir lassen Berge hinter uns und jagen Regenwolken hinterher, die über uns auseinanderbrechen und sich am Horizont zu Wirbelstürmen formatieren. Zwischen El Paso und Phoenix fällt mir der Dichter aus New Orleans ein, und ich hole den gelblichen Zettel hervor.

What should be refused

There is something beautiful in the gutter, how dirt turns in water becoming scum: the stuff civilization has thought to call only sewage waiting to be flushed. There is a fermenting gut of America scrapped from the rails and stewing in summer street water, anticipating a drain. Here is how to write responsably about the way vagabonds discover the ground: first, think of the life that forms those wandering bubbles in muck settled; next, smell some scents the world has thought to call foul; finally, wonder what might drive the dirtiest to look longingly upon a needle, to stare with blank desire at a bottle.

There is something beautiful in the gutter too often unobserved. This is why poor culture has known only to pour them from the streets. Strange stench has been understood in poorer metaphors sittig atop a stormdrain.

Jack Norcross, New Orleans, Juni 2017

Ich werde die Reise ab sofort entspannter angehen. Ich habe große Hoffnung, bei dem Hobo-Treffen vernünftigen Leuten zu begegnen, die mit mir ein paar richtig schöne Strecken mit dem Güterzug fahren werden. Bis zu dem Treffen bleiben mir noch zehn Tage, in denen ich irgendwie von Los Angeles hoch in den Norden Kaliforniens kommen muss. Das ist genügend Zeit. In Los Angeles will ich mich mit einem Bekannten treffen, dem ich meine vollen Speicherkarten übergeben werde. Auf das vertraute Gesicht freue ich mich am meisten.

Nach sechsundfünfzig Stunden komme ich in Los Angeles an. Die abendliche Luft, die mich umgibt, als ich endlich aus dem Bus steige, ist angenehm, viel weniger schwül als in New Orleans. Auch die Straßen sind sauberer, die Menschen kommen mir freundlicher vor.

Ich treffe Fabian am Strand, wir kaufen uns Burritos und essen, während wir im feinen Sand sitzen und in der Dunkelheit auf die Wellen starren. Ich kenne Fabian nicht besonders gut, aber ich freue mich sehr, ihn zu sehen.

Er ist ruhig und zugewandt, ein guter Zuhörer. Ich bemerke meinen unstillbaren Redebedarf und entschuldige mich dafür. Ich bin froh, endlich an der Westküste zu sein, und lächle ihn an. Er sieht besorgt aus. Dann schlägt er vor, ich könnte bei dem Musikproduzenten übernachten, bei dem auch er untergekommen ist.

Ich zögere, lasse mich aber schließlich überreden. Der Produzent lebt mit seiner Freundin in einem schönen Holzhaus in den Beverly Hills. Wir unterhalten uns noch eine Weile mit den Gastgebern und gehen früh zu Bett. Ich merke, wie schwer mir die Konversation fällt, wie fremd ich mich in der geordneten Welt dieser Menschen fühle und wie froh ich bin, als ich allein auf dem Sofa des dunklen Wohnzimmers liege.

Eine Wanduhr tickt. Sie stört mich mehr als der Lärm der Straße.

Dienstag, 06. Juni, Los Angeles

Fabian macht uns Frühstück, und sein Uber lässt mich auf dem Weg zum Flughafen am Strand raus. Er ist nur für eine Woche zum Arbeiten hier gewesen und fliegt nun zurück nach Deutschland.

Ich werde versuchen, bis nach San Francisco zu trampen. Ich habe keine Eile, fülle in einem Supermarkt meine Vorräte auf und kaufe mir einen neuen Wasserkanister. Dann gehe ich weiter durch den Sand, den endlosen Strand entlang.

Es ist windig und kühl, der Himmel von grauen Wolken bedeckt. Ein Mann auf einem Mountainbike holt mich ein und fährt eine Weile neben mir her. Larry hat ein freundliches Gesicht. Mit seinen starken Armen und seiner wettergegerbten Haut sieht er aus wie ein Seemann. Er ist gerade aus Hawaii zurückgekehrt, wo er zwei Jahre auf der Straße schlief. Diese Art zu leben scheint dort besser zu funktionieren als in den restlichen Staaten – das Wetter und die Mentalität machen alles weniger dramatisch.

In Los Angeles will man die Obdachlosen von der Straße haben. Nach nur zwei Monaten bot man Larry deshalb eine Wohnung an, die allerdings auf der anderen Seite der Berge lag, wo die Luft schwer ist von den Abgasen der Stadt. Larry kommt oft hierher, an den Strand, und fährt mit seinem Mountainbike die Promenade entlang. In einem Gebüsch am Straßenrand hat er Zelt und Schlafsack versteckt, oftmals kehrt er tagelang nicht in seine Wohnung zurück.

Wir machen eine Pause und sehen den Surfern bei ihrem Kampf mit den Wellen zu, dazwischen eine tote Seekuh, die an der Oberfläche treibt und vom Meer umspült wird. Es ist schon später Nachmittag, als ich Larry erkläre, dass ich mich langsam um meine Weiterfahrt bemühen muss. Er will mir eine gute Stelle zum Trampen zeigen, wird aber nach einer halben Stunde ungeduldig. Nachdem ich seinen Vorschlag ablehne, mit ihm am Strand zu übernachten oder mit in seine Wohnung zu kommen, schlägt er vor, mit dem Linienbus aus der Stadt herauszufahren und es dort zu versuchen.

Im Bus kommen wir mit einem anderen Obdachlosen ins Gespräch, der uns von Verschwörungstheorien überzeugen will.

»Sie schicken Boten zu uns, aber nur wenige werden eingeweiht. Kennt ihr Karlheinz Stockhausen? Er ist einer von ihnen. Ein Alien. Wenn ihr seine Musik hört, versteht ihr, was ich meine. Nicht von dieser Welt …«

Larry bleibt höflich und interessiert. Neben mir sitzt ein älterer Herr, der unserer Unterhaltung lauscht, bis er es nicht mehr aushält und sich einmischt. Er fragt mich, was ich hier mache, wie ich zu diesen...

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