Erstes Kapitel
DAS GEHEIMNIS
Mysterien
Alle Symbole religiös-ethischen und künstlerischen Charakters haben im Grunde den gleichen Inhalt. Sie zeigen an, dass eine Einheit errungen oder erstrebt worden ist. Sie sind Denkmale der Überwindung einer innerhalb des Menschen oder zwischen Mensch und Mensch bestehenden Zweiheit oder Zwietracht. Und sie haben die Kraft, in die Einzelüberwindung zugleich die Gesamtüberwindung bildlich einzuschließen: Das Symbol verkündet, dass mit der Einheit im Kleinen auch die Einheit im Großen und Größten erzielt worden ist. So ist jedes Symbol ein Zeichen des geschlossenen Bundes, des Friedens, des Feiertags, es ist eine Verheißung und Bürgschaft des Sieges, um den alles Leben so heiß und rastlos ringt.
In jedem Symbol liegt das große Urgeheimnis des Lebens entschleiert da, und doch zugleich verschleiert, weil bildlich gefasst.
Das klingt geheimnisvoll und ist auch ein Geheimnis. In jedem Symbol liegt das große Urgeheimnis des Lebens entschleiert da, und doch zugleich verschleiert, weil bildlich gefasst. Jedes spricht von ihm, aber jedes in anderer Weise. Die Symbole nähern sich dem Geheimnis der Einheit auf verschiedenen Wegen und zeigen sie von verschiedenen Seiten. Daher ihre Mannigfaltigkeit: jedes Ding kann Symbol werden. Jedoch das Ziel und der Inhalt sind letzthin immer gleich.
Es herrscht heute eine weitverbreitete Abneigung gegen alles Verborgene, Abgeschlossene und Geheimnisvolle. Aber nur wer diese Abneigung überwindet, kann in den Kern der Symbolbildung und der Gemeinschaftsbildung eindringen. Daher richten wir unser Augenmerk zunächst auf das Mysteriöse in aller Symbolik und suchen das Streben nach Geheimhaltung und Abschließung, das allen geistigen Verbindungen eignet, zu erklären und zu rechtfertigen.
Zweierlei ist hier zu unterscheiden: Erstens das Geheimnis selber und zweitens die Mittel, die angewendet werden, um das Geheimnis teils zu verbergen, teils auszusprechen und verständlich zu übermitteln. Beides wird oft miteinander verwechselt. Auf dieser Verwechslung beruht z. B. die Gleichsetzung von religiösen Symbolen mit dogmatischen Lehren. Auf der Verwechslung von Sache und Mittel beruht die übertriebene Geheimtuerei in manchen Mysterienbünden.
Wir beginnen mit der Besprechung der Mittel, also des Äußerlichen des Mysterienwesens, und gehen erst nachher auf das Wesen des Geheimnisses selber ein.
Berufsgeheimnisse
Wenn man von dem Esoterismus antiker Philosophen, von esoterischen Lehren älterer Priesterschaften, von esoterischen Kenntnissen und Übungen der Künstler und Praktiker spricht, so wird in der Regel nicht beachtet, dass die Esoterik zwei verschiedene Dinge bezeichnet, nämlich erstens die Berufsgeheimnisse gewisser menschlicher Tätigkeitsgruppen, zweitens das große Mysteriengeheimnis, das wir suchen. Die Berufsgeheimnisse sind sehr mannigfach und gehen uns hier nur insofern an, als sie bundesbildend und symbolbildend gewirkt haben. Geheim gehaltene Werkzeuge und Verfahren haben Anlass zur Gründung fester Verbände mit symbolischen Zeichen und Handlungen gegeben. Die ältesten und symbolisch folgenreichsten sind die Werkzeuge und Verfahren des religiösen Berufes. Die praktischen Berufe und ihre Geheimnisse sind jünger, die Zünfte haben sich nach dem Vorbild der ältesten menschlichen Berufsvereinigung, der priesterlichen, gebildet. Über die Kriegerbünde und ihre Berufssymbolik sprechen wir später.
Auf der Verwechslung von Sache und Mittel beruht die übertriebene Geheimtuerei in manchen Mysterienbünden.
Die Geheimnisse des religiösen Berufes bestehen vornehmlich in Krafthandlungen, Kraftgegenständen und Kraftworten. Bei den meisten Völkern, die wir kennen, haben einst die Priester, oder wer ihre Stelle einnahm, mit Eifersucht diese Geräte und Verfahren ihres Berufes vor den Laien oder den Fremden geheim gehalten und in ihnen ihre wertvollsten Besitztümer verehrt. Handlungen, Gegenstände, Worte, die eine besondere Kraft auszuströmen schienen, schufen also eine enge Vereinigung zwischen gewissen Menschen und sicherten ihnen einen Vorrang vor den übrigen. Um ein paar Beispiele zu nennen, so war der heilige Gottesname, dem man geheime Kräfte zuschrieb (Tetragrammaton), bei den Juden einst den Eingeweihten vorbehalten und wurde von den Rabbinen nur an ihre Lieblingsschüler mitgeteilt. So hatten die Priester in Indien und anderwärts ihre besonderen Gebete, Gesänge und heilige Überlieferungen, die streng geheim gehalten und nur an den priesterlichen Nachwuchs weitervererbt wurden. Deshalb sind in vielen Religionen auch gewisse Räume, heilige Gemächer, Abteilungen des Gotteshauses für die Laien unbetretbar. So haben die Priester oder religiösen Brüderschaften ihre eigenen Abzeichen, Kleider usw., denen eine besondere Macht innewohnt und die von den Unberufenen nicht getragen werden dürfen. Bildet der religiöse Beruf die herrschende Klasse, so bestraft er die Übertreter oder verflucht sie wenigstens, er hat dann nicht nötig, das Verbotene zu verbergen. Seine Geheimnisse sind dann bekannt, aber nur der Berechtigte und Zugehörige darf sie ausüben. Im anderen Fall findet die Ausübung im Geheimen statt, die Kleider werden nur bei den zeugenlosen Zusammenkünften getragen oder die Abzeichen etwa unter dem gewöhnlichen Kleid verborgen. Und die heiligen Worte werden nur leise geflüstert. Man sprach zum Beispiel Zaubersprüche immer nur mit gedämpfter Stimme. Heilige und allerheiligste Dinge vertragen den lauten Ton nicht. Der Grund ist natürlich der, dass Unberufene es nicht hören sollen.
Dabei ist zu beachten, dass zu den Unberufenen nicht bloß etwaige lauschende Menschen gehören, sondern auch böse Geister und feindliche Götter, vor denen man noch weit mehr auf der Hut sein musste. Der Mensch fühlte sich früher niemals allein, je mehr er sich von der Menge absonderte, umso beängstigender drangen Naturgeister, Totenseelen und andere Gebilde auf ihn ein. Sie neideten ihm sein Wissen und wollten ihn in ihre Gewalt bringen. Hatte er sich mit anderen Auserwählten zur Pflege eines einzigen Geistes verbunden, so wurde dieser Bund ständig umlauert von feindlichen Dämonen. Auf ihre Abwehr und Unschädlichmachung zielten viele Riten und Zeichen, an sie und ihre lästige Nähe dachte man beständig, vor ihnen musste man die segensvollen Bundesfeiern verborgen halten. Daher findet sich in den meisten Mysterienbünden die Vorschrift, leise zu sprechen. Daher auch finden Zauberbeschwörungen — die auch eine Art von Bundesfeiern sind — stets an abgelegenen Orten statt, wo man vor Lauschern und unerwünschtem Geistervolk sicher ist. Nur dann kann, wie uns die Zauberbücher versichern, die Beschwörung gelingen, das heißt die Verbindung mit dem zu beschwörenden Geist hergestellt und seine Willigkeit errungen werden. Nur wenige Vertraute dürfen mit zugegen sein, jeder Fremde und Ungeweihte bricht den Zauber und stört den günstigen Verlauf. Wir wissen, ein wie großer Wert auch bei heutigen Ritualen noch auf die Deckung gelegt wird. Ungeeignete Personen werden ferngehalten, alles geht möglichst leise vonstatten.
Jeder Mysterienkult fürchtet, dass verkappte Schädlinge sich einschleichen.
Man kann hier noch Folgendes hinzufügen. Geheime Verbindungen pflegen sich nicht an die bekannten, durch den öffentlichen Priesterkult verehrten Götter und Geister zu wenden, sondern an neue und besondere Mächte. Daher sind sie ihrer nicht so ganz sicher, man will sie erst gewinnen, will sie aus bösen Gewalten erst in gute und helfende umwandeln. Man kennt sie noch nicht. So haben die Zauberer immer die Furcht gehabt, ob die erscheinenden Geister nun auch die gerufenen und gemeinten sind, oder ob sich falsche in ihre Gestalt verkleidet haben, und auch vor den richtig zitierten mussten sie sich in Acht nehmen. Jeder Mysterienkult fürchtet, dass verkappte Schädlinge sich einschleichen. Also trifft man Vorsichtsmaßregeln gegen die etwaigen gefährlichen Begleiterscheinungen des Verkehrs mit den unbekannten, nicht von der amtlichen Religionsbehörde abgestempelten und empfohlenen Geistesmächten. Jeder echte Bund ist ein Wagnis, ein Schritt in das Ungewisse. Er fordert daher trotz allen Vertrauens auch ein gewisses Misstrauen, das sich außer in der Wahl sicherer Orte und der Vermeidung von Lärm auch in der Anwendung von Schutz- und Reinigungsvorkehrungen äußert, die wir im zweiten Kapitel kennen lernen werden.
Die Geheimhaltung religiös-magischer Mittel ist uralt. Wir finden allenthalben geschlossene Kulte, die sich aus der Vorzeit vererbt haben, so in Altgriechenland manche Thiasoi und Familienkulte, aus denen später die Mysterienvereine, zum Beispiel die Eleusinien hervorgegangen sein sollen. Sie verfügten über heilige Worte, Zeichen und Handlungen, die den Außenstehenden nicht verraten werden durften und die ein besonders inniges Verhältnis mit bestimmten Bundesgottheiten schufen. In der Kenntnis und Ausübung dieses Kultes bestand der Vorzug der Mitglieder. Durch den Kult waren sie Berufene, waren Freunde...