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Symbolischer Interaktionismus

Aufsätze zu einer Wissenschaft der Interpretation

AutorHerbert Blumer
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl187 Seiten
ISBN9783518735879
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR


<p>Herbert Blumer (1900&ndash;1987) war ein Sch&uuml;ler von George Herbert Mead. Er lehrte Soziologie an der University of Chicago und der University of California, Berkeley.</p>

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7Einleitung:
Blumers Rebellion 2.0.
Eine Wissenschaft der Interpretation


Der vorliegende Band versammelt sechs Aufsätze Herbert Blumers, von denen vier erstmalig in deutscher Übersetzung und zwei nach langer Zeit erstmalig wieder im Druck erscheinen. Der mit deutlichem Abstand längste und auch bekannteste dieser Aufsätze ist »Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus«, der den meisten Studierenden der Soziologie – Lehrenden und Forschenden – zumindest wegen der darin formulierten berühmten »drei Prämissen« geläufig ist: Menschen handeln in Bezug auf Dinge auf Grundlage der Bedeutungen, die sie ihnen zuschreiben; Bedeutungen entstehen aus der sozialen Interaktion; und diese Bedeutungen verändern sich im Prozess der Handhabung dieser Dinge (vgl. S. 64-69 in diesem Band). Ebenso auf Deutsch bereits erschienen war Blumers Beitrag »Soziale Probleme als kollektives Verhalten«, in dem er der nachfolgenden Soziologie sozialer Probleme den Weg bereitet: Malcolm Spectors und John Kitsuses Einführung in die Konstruktion sozialer Probleme (2001 [1977]) nimmt Blumers Linien auf und entwickelt aus ihnen ein Programm.

In erster Linie tritt Blumer in seinen Schriften, den hier ausgewählten und darüber hinaus, als Kritiker auf, der sich gegen zu seiner Zeit dominante und bis heute wichtige Strömungen in der Soziologie wendet: gegen die sozialphilosophisierende Beschäftigung mit allgemeinen Konzepten, gegen die methodologische Apriorisierung von beliebig anwendbaren Methoden und gegen den sozialwissenschaftlichen Zerstörungsreflex gegenüber alltäglich gebräuchlichen Begriffen. Vor allem die ersten beiden sind Opfer scharfer Kritik in »Wissenschaft ohne Begrifffe«, »Soziologische Analyse und die Variable« und im »Methodologischen Standort«; gegen Letztere stellt Blumer sich vor allem in seinen Schriften zur Macht, »Gruppenspannung und Interessengruppen« und »Sozialstruktur und Machtkonflikte«. In ihnen verteidigt Blumer die Reflexion gegen die Methode, die intime Bekanntschaft gegen die wissenschaftliche Distanz und die Bedeutungskonstruktionen des 8Alltags gegen ihre sozialwissenschaftliche Geringschätzung. Vor allem aber vertritt er den Vorrang der Forschung vor der Wissenschaft: Beschäftigung mit der Sache statt Beschäftigung mit der Methode oder der Kategorisierung. Blumers Texte stellen sich gegen die Algorithmisierung der Soziologie, die sich hinter ihren Ansätzen verschanzt, um sich nicht um die Phänomene kümmern zu müssen. Sie stellen sich damit gegen eine Soziologie, in der Forschung zugunsten der Algorithmen verloren geht, und gegen die seltsame stilistische Form putativer »Forschungsbeiträge«, aus denen wenig über die Welt zu erfahren ist, weil sie sich zentral um ihre eigenen Ordentlichkeiten drehen. Blumers Schriften »methodologisch« zu nennen ist nachvollziehbar, aber es übertüncht die Tatsache, dass sich seine Rebellion gerade gegen das richtet, was vielerorts unter »Methode« verstanden wird: feste Vorgaben, rigide Programme, detaillierte Vorschriften zu Vorgehensweisen.

Blumers Wissenschaft der Interpretation


Blumers Werk ist zunächst als ganz altmodische interpretative Prozesssoziologie verständlich: Die Bedeutung von Objekten liegt nicht in diesen Objekten, an denen sie einfach »entdeckt« werden müsste, sie liegt auch nicht in den Subjekten, die die Objekte mit Bedeutungen aus ihren »Ideen« tränken, sondern sie liegt im sozialen Zwischenraum, was die praktische Welt der Interaktion und die lokale Bezugnahme auf die konkrete Situation erfordert. Es gibt keine Welt ohne Situation, keine Bedeutung ohne Interpretation, kein soziales Leben ohne Interaktion. Es gibt die Objekte nicht objektiv oder abstrakt, sondern immer nur im Kontext einer Interaktion. Die »Elemente« dieses Interaktionsprozesses kommen selbst erst in sozial geteilten Interpretationsprozessen zustande. Löst man die Objekte aus ihrem Interaktions- und Situationszusammenhang und fügt sie in einen anderen ein, sind es nicht mehr dieselben. Auch im Verlauf einer sozialen Situation, über die verschiedenen Stufen der Interaktion hinweg oder aus verschiedenen Perspektiven gesehen bleiben Objekte nicht dieselben. Ohne Kontext bleibt nicht das reine Objekt übrig, sondern vielmehr gar nichts. Blumers eigentlich sehr einfache Mission bestand darin, die notwendige Verwobenheit von mitgebrachten und aufgefundenen Bedeutun9gen zu betonen und sich stetig und konsequent zu weigern, feste Bedeutungen vorauszusetzen. Symbole geraten in Situationen in einen Verweisungszusammenhang anderer Symbole, und Bedeutungen geraten in ein reziprokes Spiel miteinander, in dem keines dieser Symbole automatisch für sich beanspruchen kann, »Fundierungssymbol« zu sein. Es handelt sich also um ein Spiel, in dem die Bedeutungen nirgendwo einen festen Ausgangspunkt haben, von dem aus sie wandern, sondern die putativen »Ausgangspunkte« selbst dem Tanz der Bedeutung in der Situation unterliegen. Anders gesagt: Bedeutungen fließen nicht durch Kanäle, haben keine Quellen und Mündungen, sondern entstehen immer wieder in gegenseitiger Aufeinanderbezogenheit.

Blumers Mission innerhalb dieser basalen Soziologie ist einfach: Es geht ihm darum, die Geister hinter der Welt, die unterstellten abstrakten Antriebe hinter dem Vorhang der konkreten menschlichen Interaktion auszutreiben. Er war gnadenlos in seiner Ablehnung aller Versuche, unsichtbare Ordnungszentren auffinden zu wollen, aller Versuche, denen Handlung nur als Epiphänomen erschien: »Er hat immer und immer wiederholt, dass menschliches Verhalten nicht von außen von Einstellungen, Strukturen und kulturellen Mustern determiniert ist. Auch soziale Veränderungen geschehen nicht aufgrund des Einflusses von ›Kräften‹, die von außen oder innen auf soziale Strukturen wirken« (Shibutani 1988, S. 29). Howard Becker bemerkt dazu:

[M]an kann einen Reiz oder eine kulturelle Norm nicht wirklich sehen, aber man kann sich Dinge sagen hören wie: »Nun ja, ich weiß, ich sollte tun, was der Chef sagt, aber …«. Das zeigte uns, dass diese Dinge, die man Normen nennen könnte, zwar von anderen manchmal angerufen werden, dass sie aber nicht so bestimmend sind, wie Kulturtheoretiker sich das vorgestellt haben, schon gar keine Objekte, die automatische Reaktionen hervorrufen, wie die Behavioristen das glaubten. Das war sehr ernüchternd. (Becker 1988, S. 16)

Das ist gleichbedeutend mit dem Ziel, nirgendwo »Bedeutungsanker« zu verorten: Keine reifizierten Größen erlauben es uns, sich an ihnen festzuhalten, nicht Objekte, nicht Personen (siehe etwa Blumer, S. 63 in diesem Band, und Blumer 1937), nicht Einstellungen (Blumer 1958), Ideen, Theorien oder Konzepte. »Der ›Stoff‹ [orig. »stuff« – das »Zeug«] der menschlichen Gesellschaft« besteht 10aus »dem Komplex laufender sozialer Handlungen« (Blumer 1980, S. 412), und dieses »Zeug« ist niemals als Folge oder Ergebnis einer »realeren« Mechanik »hinter« ihnen ableitbar. »Blumer lehnte alle mechanistischen Erklärungen ab […]. Er war gegen alle Erklärungen, die Verhaltensmuster als Reaktionen auf Stimulation oder andere Kräfte behandelten« (Shibutani 1988, S. 29). In seinen fünf Schaffensjahrzehnten kämpfte er gegen die verbreitete Tendenz, die soziale Welt in festen Objekten einfrieren oder die Abstrakta, die Sozialwissenschaftler postulieren, als feste Objekte behandeln zu wollen. Diese Konzepte seien Abstraktionen, mit denen in bestimmten Situationen Argumentationen aufgebaut werden können – nicht mehr.

Es gibt solche Dinge wie soziale Rollen, Statuspositionen, Rangordnungen, bürokratische Organisationen, Beziehungen zwischen Institutionen, differentielle Autoritätsarrangements, soziale Codes, Normen, Werte und so weiter. Und sie sind sehr wichtig. Aber ihre Wichtigkeit liegt nicht in einer angeblichen Determination von Handlung oder in einer angeblichen Existenz als Teile irgendwelcher eigenoperationaler sozialer Systeme. Sie sind vielmehr nur wichtig, insofern sie in den Prozess der Interpretation und Definition eintreten, aus denen gemeinsame Handlung geformt wird. (Blumer 1966a, S. 547)

Blumers Soziologie ist eine nachdrückliche Aufforderung, der Versuchung zu widerstehen, diesen zum Zwecke der Ordnung erfundenen konzeptionellen Abstraktionen eine leitende Rolle zukommen zu lassen und ihre dienende Rolle mit dieser Leitfunktion zu überschreiben. In John Loflands zeitloser Formulierung: »Abstraktionen sind Abscheulichkeiten vor der Welt« (Lofland 1976).

Blumer betrieb so die Orientierung der Soziologie weg von Abstrakta, von mechanischen Kausalzusammenhängen und »biederer Faktorensoziologie« (ein Begriff, den von Trotha prägte; von Trotha 1997) und hin zur »bodenständigen Erforschung des Gruppenlebens« (Plummer 2000, S. 200), die herausstellt, wie »Gesellschaft« nur in alltagspraktischen Aushandlungen gemacht wird. Das ist die eigentlich basal-soziologische Feststellung: Was auch immer in der sozialen Welt abläuft, hängt in Interpretationsprozessen und kommt in Situationen auf, und eine Wissenschaft, die diese Situationen nicht beachtet und stattdessen von diesen Situationen zu abstrahieren versucht, ist daher von vornherein auf Sand gebaut. Für 11die Forschung als Erforschung, als Entdecken der Welt bedeutet das, nicht die Wissenschaft der Methode, mit der das geschieht, in den Vordergrund zu stellen. Wenn wir uns auf Forschung konzentrieren, insistiert Blumer, dann besteht der Dreh- und Angelpunkt vielmehr aus

der...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Autor / zum Buch2
Impressum4
Inhalt5
Einleitung: Blumers Rebellion 2.0. Eine Wissenschaft der Interpretation7
Blumers Wissenschaft der Interpretation8
Rebellion gegen die Sozialtheorie13
Der »Totengräber«:Blumers Rebellion gegen die Methodologie16
Rebellion 2.019
Literatur24
1. Soziologische Analyse und die Variable27
Defizite der gegenwärtigen Variablenanalyse27
Grenzen der Variablenanalyse32
2. Wissenschaft ohne Begriffe42
3. Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus63
Die Grundsätze des symbolischen Interaktionismus64
Die Beschaffenheit der menschlichen Gesellschaftoder des menschlichen Zusammenlebens69
Die Beschaffenheit sozialer Interaktion70
Die Beschaffenheit von Objekten75
Der Mensch als ein handelnder Organismus77
Die Beschaffenheit menschlichen Handelns80
Die Verkettung von Handlungen83
Zusammenfassende Bemerkungen88
Methodologische Grundsätze derempirischen Wissenschaft89
Exploration114
Inspektion117
Methodologische Orientierung123
Zusammenfassung140
4. Soziale Probleme als kollektives Verhalten141
Das Auftauchen sozialer Probleme146
Die Legitimation sozialer Probleme148
Mobilisierung des Handelns150
Ausarbeitung eines offiziellen Handlungsplans151
Die Ausführung des offiziellen Plans152
5. Gruppenspannung und Interessengruppen155
Ökonomische Machtblöckeals natürliche Elemente unserer Gesellschaft155
Dynamische Organisationen in einer mobilen Welt159
Die Natur der Gruppenspannung162
Kontinuierliche praktikable Anpassungen163
Anpassungsprobleme164
Konflikte und das öffentliche Interesse166
Vorschläge zur Verminderung von Spannungen167
Schluss172
6. Sozialstruktur und Machtkonflikte173
Einleitung173
Machtanalyse176
Beziehungenzwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebernals Machtbeziehungen181
Textnachweise186

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