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Systemisches Arbeiten in Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe

AutorKatharina Lioba Kurzmann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl162 Seiten
ISBN9783640741175
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Pädagogik - Pädagogische Soziologie, Note: 2,0, Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Pädagogisches Institut), Sprache: Deutsch, Abstract: Systemisches Denken, Handeln und Arbeiten ist weiterhin auf dem Vormarsch und hat sich in vielen Anwendungsfeldern bewährt. Trotz kontroverser Diskussionen von Autoren im Rahmen anderer Disziplinen wie beispielsweise der Soziologie, die eine systemtheoretische Sicht als unangemessen, nicht 'bis zum Ende gedacht' oder einfach nur als überholt ansieht, scheint eine systemische Sichtweise im Bereich der Sozialen Arbeit Früchte zu tragen. Die Verbindung zwischen Pädagogik einerseits und Systemdenken andererseits führt möglicherweise dazu, dass das Individuum seine Wichtigkeit und Präsenz behält, die Systeme, in denen es sich bewegt - auch wenn diese sich zunächst als 'undurchsichtig' oder 'verworren' darstellen - aber nicht als ausgeschlossen, sondern vielmehr als ressourcenbringend angesehen werden. Es wird also Abstand von der herkömmlichen, 'problemzentrierten Denkweise' genommen und ein Schwerpunkt auf den Zusammenhang, die Wechselwirkungen und die Muster von problematischen Weisen des Denkens, Handelns und Fühlens des Individuums im Kontext eines komplexen Systems gelegt. Hier kann eine Sichtweise, die sich immer nur mit einem Problemsystem befasst, sehr erfolgversprechend sein, zumal sich der Fokus nicht auf Unmengen hochkomplexer einzelner Systeme, sondern auf Lösungen bestimmter Aspekte richtet. Es ist jene Idee, die den Anstoß zu dieser Arbeit gab. Die Frage, die sich nun hieraus ergibt, lässt sich etwa so formulieren: Welche Konzepte und Methoden gibt es in der Sozialen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die zu einer Lösung bestimmter Auffälligkeiten führen? Und: Ist jedes Konzept für jede Hilfeform in der Kinder- und Jugendhilfe geeignet und sinnvoll oder gibt es möglicherweise Probleme oder Grenzen in der Anwendung?

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Leseprobe

2. Kinder- und Jugendhilfe


 

Seit etwa 100 Jahren läuft der Prozess der Institutionalisierung und Verrechtlichung der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Die Wurzeln der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe finden sich in den Sozialreformen des Kaiserreichs. Dort wurde sie, noch beschränkt auf große Städte, ein eigenständiger Handlungsbereich kommunaler Sozialpolitik. Sie bildete sich also erst mit dem massiven Modernisierungsschub aus, den Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts erfahren hat. Plötzlich war es gesellschaftlich sinnvoll, den Erziehungsgedanken in die Sozialpolitik einfließen zu lassen. Denn es entstanden vor allem durch die Urbanisierung in den Großstädten Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche, die konkreten Anlass für sozialpädagogische Innovationen gaben. Familiäre und nachbarschaftliche Bindungen begannen sich aufzulösen, und vor allem die Industrieproduktion schaffte einen neuen Typus des bindungslosen jugendlichen Arbeiters. So kam es zu einer systematischen Verzahnung von öffentlichen Erziehungsmaßnahmen und Staatsgewalt. Doch aufgrund der enormen Ausdifferenzierung und Institutionalisierung der öffentlichen Jugendhilfe kam es zu einer organisatorischen Zersplitterung, deren Vereinheitlichung in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zum wegweisenden Thema in den Reformbestrebungen wurde. Bereits vor Ausbruch des Krieges wurden erste städtische Jugendämter eingerichtet, die eine Verbindung zwischen Staat und Erziehung ermöglichten und die als organisatorische Zentren der neuen Maßnahmen und Einrichtungen fungieren sollten (vgl. Sachße 1996, S.557ff).

 

Anfang der 1960er Jahre kam es zu einem neuen Schub von gesellschaftlicher Individualisierung, die zur weiteren Vergesellschaftung von Erziehung führte. Dies spiegelt sich in den Strukturen und in der Systematik des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) wider. Dieser dort begonnene Prozess ist bis heute nicht zum Abschluss gekommen — es scheint vielmehr so, als ob die Bedeutung öffentlicher Erziehung immer mehr wächst. Mit Blick auf das KJHG zeigt sich, dass öffentliche Erziehung heute allerdings nicht mehr den repressiven Charakter der vorangegangenen Jahre trägt, sondern das Augenmerk verstärkt auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen und erzieherische Hilfen zur Stützung und Ergänzung von Familien gerichtet wird (vgl. Sachße 1996, S.557ff).

 

Der Prozess der Ausweitung der öffentlichen Jugendhilfe lässt sich vor allem auf die Destabilisierung der Familie zurückführen. Kleinere Familien, weniger Geschwister, kaum mehr Kontakt zu Nachbarn, weniger Einbindung etc. — eben all jene Phänomene, die Ullrich Beck als „Zweite Moderne" beschreibt, in der die Individualisierung so weit fortgeschritten ist, dass sich die traditionellen Bindungen verflüchtigen und so einerseits individuelle Möglichkeiten offenstehen, die andererseits jedoch Wahl- und Entscheidungszwänge hervorbringen, die oftmals zu einer Überforderung führen (vgl. Beck 1986). So entwickelte sich die öffentliche Jugendhilfe zu einer Institution, die die gesamte Bevölkerung in der Familienerziehung ergänzt und unterstützt. Öffentliche Erziehung ist heute unumgänglich, wenn man die Entwicklungen der Frauenerwerbstätigkeit, des Arbeitsmarktes oder die vorhin beschriebenen Phänomene der Zweiten Moderne nicht außer Acht lassen möchte. Es ist allerdings eben nicht mehr der kontrollierende Eingriff in die Familie, sondern die Verfügbarkeit der Jugendhilfe, auf die es ankommt und die in unserer Gesellschaft so wichtig geworden ist. Dass hierzu allerdings in höchst problematischen Fällen ein Eingriff in die Familie nötig ist, um beispielsweise das Kindeswohl zu gewährleisten, steht außer Frage. All diese Tendenzen führen dazu, dass die öffentliche Jugendhilfe immer größeren Anforderungen gewachsen sein muss (vgl. Sachße 1996, S.557ff).

 

Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Zahlen des Statistischen Bundesamts vor Augen führt. Hiernach haben 2008 insgesamt mehr als eine halbe Million Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Hilfen zur Erziehung in Anspruch genommen. Von den familienunterstützenden Hilfen wurde die Erziehungsberatung mit 307.494 neu begonnen Hilfen am häufigsten genutzt. Das entspricht etwa einem Drittel der gesamten neu begonnen Hilfen zur Erziehung und verdeutlicht den Bedarf von Unterstützung bei der Erziehung. Das Alter, in dem die Hilfen am meisten in Anspruch genommen werden, liegt zwischen 6 und 12 Jahren (insgesamt 126.780 Kinder) (vgl. Statistisches Bundesamt 2010, S.6). Dadurch erscheint es besonders angebracht, die pädagogische und systemische Arbeit mit Kindern und (jungen) Jugendlichen zu beleuchten. Dies wird einen großen Teil dieser Arbeit darstellen und soll im besten Fall eine Hilfestellung bei der Arbeit der Pädagogen und Sozialarbeiter in Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe sein.

 

Eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung auf bestimmte „Problemkontexte" ist die Folge. Durch die unterschiedlichen Formen der Hilfeeinrichtungen, ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, ein pädagogisches Handlungskonzept aufzuzeigen, welches in jeder Hilfeform angewendet werden kann, vor allem, da die methodische Arbeitauch stark in Abhängigkeit vom institutionellen Kontext variiert. Aufgrund dessen, und mit Blick auf die fast unüberschaubare Menge an spezifischen Hilfeformen, sollen im Folgenden zunächst die rechtlichen Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe und anschließend die Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe, gegliedert nach Intensität des Eingriffs in die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen, dargestellt werden. Dies soll den Überblick erleichtern und eine Grundlage schaffen, störungsspezifische Methoden und Konzepte der systemischen Arbeit mit bestimmten Hilfeformen in Verbindung zu bringen und auf ihre Möglichkeiten und Grenzen hin zu diskutieren.

 

2.1 Rechtliche Grundlagen


 

Die rechtlichen Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe finden sich, neben ihren Verankerungen in Grundgesetz (GG) und im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), hauptsächlich im Sozialgesetzbuch (SGB). Dort sind vor allem die Bestimmungen des 8. Teils des SGB (SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)) relevant, die im Folgenden dargestellt werden und als Grundlage für das weitere Vorgehen dienen sollen. Des Weiteren bleibt anzumerken, dass nicht jeder Paragraph angesprochen werden soll, sondern nur jene, die m.E. nötig sind, um den Grundcharakter der Kinder- und Jugendhilfe zu erfassen.

 

Zu Beginn das Grundgesetz. Art. 1 GG und damit die Spitze des Grundgesetztes bildet das Gesetz zur Menschenwürde, den Menschenrechten und der Rechtsverbindlichkeit des Grundrechts. Art. 1 zeigt also als oberstes Staatsziel die Gewährleistung der Menschenwürde des einzelnen an und lässt sich in Verbindung mit Art. 2 („Persönliche Freiheitsrechte") und 3 („Gleichheit vor dem Gesetz") (GG) als Grundlage für alle anderen Gesetze fassen, die für die Kinder- und Jugendhilfe von Bedeutung sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt innerhalb des GG ist der in Art. 20 definierte soziale Rechtsstaat. Von hier sind alle positiven Gesetze abzuleiten, die für die Sozialpädagogik und die Sozialarbeit entscheidend sind (vgl. Buchkremer 1995, S.231ff). Der jedoch in der Praxis der Kinder- und jugendhilfe wohl am häufigsten gebrauchte ist Art. 6 („Ehe - Familie - Kinder"). Hier ist das natürliche Recht der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder verankert (Abs. 2). Allerdings wird schon hier deutlich, dass es sich nicht nur um das Recht der Eltern handelt, sondern es wird weiter betont, dass es genauso auch ihre Pflicht ist. D.h. allerdings auch, dass, wenn die Eltern ihre Pflicht nicht erfüllen, die staatliche Gemeinschaft dafür Sorge tragen muss, dass das Kind oder der Jugendliche trotzdem so leben kann, wie es seine Rechte vorsehen. Das staatliche Wächteramt greift also dann ein, „wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen" (Art.6, Abs.2 GG). Dieser Artikel steht in Verbindung mit dem Gesetz des BGB zu gerichtlichen Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls (§1666 BGB und §1666 a), das die Verhältnismäßigkeit und den Vorrang öffentlicher Hilfen regelt. Er spielt vor allem bei solchen Interventionen der Kinder- und Jugendhilfe eine Rolle, die schwerwiegend in die

 

Lebenswelt der Familie eingreifen. Dies sind natürlich alle Fälle, in denen Kinder und Jugendliche von Seiten des Jugendamtes oder dem Jugendgericht den Eltern bzw. dem Familienleben entzogen werden. Stationäre Hilfeeinrichtungen werden nun benötigt. Hier kommt es zu einer Verknüpfung mit dem SGB. Mithilfe des Sozialgesetzbuches sollen soziale Gerechtigkeit und Sicherheit verwirklicht werden. Des Weiteren dient es dazu, soziale und erzieherische Hilfen zu gestalten. Buchkremer fasst den Sinn des SGB folgendermaßen zusammen: „Das Sozialrecht soll dazu beitragen, daß[2] jeder Mensch entsprechend den Rechts- und Verfassungsprinzipien seine Grundrechte verwirklichen kann" (1995, S.233). Er spielt damit vor allem auf §1 SGB Abs. 1 an, in dem die Aufgaben des Sozialrechts festgehalten sind. Das Sozialgesetzbuch umfasst insgesamt zehn Bände — der achte ist, wie bereits angesprochen, das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) und soll nun erläutert werden. Das KJHG löste 1990 das aus dem Jahr 1923 stammende Jugendwohlfahrtsgesetz ab. Es stellt die Grundlage für den gesamten Bereich der Kinder- und Jugendarbeit und umfasst auch „Entwicklungs-, Erziehungs- und Förderbereiche und geht somit weit über den Rahmen dessen hinaus, was sich unter dem Titel...

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