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Systemtheoretische Ansätze in der Buchwissenschaft

Idee, Stand der Diskussion, exemplarische Anwendungsbereiche

AutorFelicitas Boos
VerlagMainzer Institut für Buchwissenschaft
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl70 Seiten
ISBN9783945883310
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Felicitas Boos zeigt in ihrer Bachelorarbeit auf, welchen Nutzen und Mehrwert die Systemtheorie für die Buchwissenschaft aufweist. Hierzu stellt sie sowohl ein detailliertes Bild der aktuellen Debatte, als auch die Entstehung der Grundstrukturen der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie dar. Abschließend demonstriert die Autorin am Beispiel der Bestsellerforschung, wie die Systemtheorie auf buchwissenschaftliche Fragestellungen angewendet werden kann. Ein ausführliches Glossar rundet die Arbeit ab. Diese Arbeit ist Teil der Reihe Initialen, in deren Rahmen herausragende Abschlussarbeiten der Mainzer Buchwissenschaft veröffentlicht werden.

Felicitas Boos, geboren 1992 in Andernach, studierte Buchwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Mit ihrer Arbeit Systemtheoretische Ansätze in der Buchwissenschaft erlangte sie 2015 den Bachelor of Arts.

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Leseprobe

3 Stand der Diskussion


3.1 Grundlegende Ansätze


3.1.1 Der Verlag im Spannungsfeld zwischen Kultur und Wirtschaft


Georg Jäger prägte als erster den systemtheoretischen Ansatz in der neueren Buchwissenschaft. Neben seiner systemtheoretischen Betrachtung des wissenschaftlichen Buchhandels als »Wechselbörse der Mediencodes Geld und Wahrheit, sowie der Nebencodes Ansehen, Einfluss und Macht«[85], veröffentlichte er erstmalig seinen Aufsatz »Keine Kulturtheorie ohne Geldtheorie« 1994 in der Publikation »Empirische Literatur- und Medienforschung«. 2005 veröffentlichte er eine abgeänderte Version des Textes in dem Buch »Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung«. Durch seine Erstpublikation ermöglichte Jäger den Anschluss der modernen Systemtheorie an die theoretischen Überlegungen der russischen und polnischen Ansätze zur Systemtheorie in der Buchwissenschaft.[86]

Jägers Ansatz bezieht sich auf den Verlag im Spannungsfeld zwischen Kultur und Wirtschaft. Dabei gehen seine Überlegungen von der Grundannahme aus, dass »Kultur […] vom Geld regiert [wird]«[87]. In Anlehnung an Parsons definiert Jäger die Kultur als »System normativer Musterbildungen«[88], welches innerhalb einer vertikalen Differenzierung über den Sozialsystemen, Personen und Organisationen verankert ist. Vertreten wird die Kultur auf der Stufe des Sozialsystems durch kulturelle Treuhandsysteme. Dabei bilden den Output dieser kulturellen Treuhandsysteme Problemlösungen, die vom Sozialsystem verlangt werden. Die Gesamtheit dieser Problemlösungen wird nach Parsons als Wertverbindung definiert, die sich wiederum in ihrer Gesamtheit als Wertmuster bezeichnen lassen.[89]

Ebenso wie den Medienbegriff entlehnt Jäger den Begriff der Interpenetrationszone bei Parsons. Als Interpenetrationszone wird dabei ein »generalisierter Mechanismus der Verstärkung von Systemen«[90] verstanden. Diese wird in Bezug auf psychische Systeme durch das Lernen und in Bezug auf »Sozial- und Kultursysteme durch Institutionalisierung«[91] verkörpert. Medien verfügen als direkte Objekte über Wertmuster, die mit der Kultur zusammengenommen die Sozialsysteme ausmachen. Die vier Sozialsysteme gliedern sich dabei in Wirtschaft – mit dem Wertesystem Nutzen und dem Medium Geld –, Politik – Wertesystem Effektivität und dem Medium Macht –, die Gesellschaft – Wertesystem Solidarität, Medium Einfluss/Prestige – und den kulturellen Treuhandsystemen, die für die Erhaltung und Kontrolle der Wertstrukturen sorgen und mit dem Maß der Integrität arbeiten.[92]

Zusätzlich zum Medienbegriff und der Interpenetration nach Parsons entnimmt Jäger den Organisationsbegriff bei Luhmann. Demnach bilden »Organisationen […] soziale Systeme, die aus Entscheidungen bestehen und Entscheidungen wechselseitig miteinander verknüpfen«[93]. Dabei operieren sie mit einer rekursiven Verknüpfung von Entscheidungen, wodurch sie zu operational geschlossenen Systemen werden. Durch die Anwendung von Entscheidungen auf andere Entscheidungen, also einer Verknüpfung eines »Selektionstransfers eines anderen Mediums aus einem anderen Subsystem in einem Entscheidungsprozess«, ist die Organisation in der Lage die Konvertierung eines Kommunikationsmediums vorzunehmen. Konvertieren versteht Jäger dabei als »Verfügung über Einflussmöglichkeiten« eines Mediums zur Übertragung auf die Einflussmöglichkeiten eines anderen Mediums. Dadurch erzeugt die Organisation eine Doppel- oder sogar Mehrfachcodierung von Medien.[94]

Der Input einer Organisation besteht aus der Selektion immer mindestens zweier Systeme. Der Output wird durch eine Medienkonfiguration gebildet. Durch die neu entstandenen Mediencodes entstehen neue Selektionsmuster, die wiederum anschlussfähig für andere Systeme werden. Dadurch können Medien von unterschiedlichen Systemen gleichzeitig genutzt werden, während die Organisation die dabei neu entstandenen Medienverbindungen steuert. Die innerhalb der Organisation anfallende Arbeit wird in Teilaufgaben gegliedert und arbeitsteilig bewältigt. Dabei entstehen zwangsläufig unterschiedliche Erwartungen an die dafür zuständigen Stellen, was zu einer »Ausdifferenzierung von Rollen« führt. Die dadurch entstehenden Wertmuster, die vom jeweiligen Medium übermittelt werden, beeinflussen die Rollen. Entsprechend stellt nach Parsons das Rollenverhalten die »Internalisierung des subsystemspezifischen Wertmusters«[95] dar.

Diese theoretische Fundierung überführt Jäger anschließend auf Buchverlage. Er zieht hierbei den Schluss, dass Buchverlage als Organisationen zu betrachten sind, die »das Medium des ,kulturellen Treuhandsystems‘, Wertverbindungen (commitments), in das Medium des Wirtschaftssystems, Geld, konvertieren«. Das Resultat aus der Realisierung der Medienkonvertierung ist eine Doppelcodierung des Buches. Der Wert des Buches wird in Bezug auf die Kultur durch Kritik und im Falle der Wirtschaft durch den Markt bestimmt. Jäger siedelt den Buchverlag weiterhin in der Interpenetrationszone zwischen den Subsystemen Kultur und Wirtschaft an und schreibt der durch den Buchverlag verkörperten Organisation eine Stabilisierung des »wechselseitigen Transfer[s] systemspezifischer Selektionen«[96] zu.

Als entscheidend für die genaue Bestimmung der Verortung des Verlages in der Interpenetrationszone sieht Jäger das Verlagsprogramm an. Diesem kommt seiner Meinung nach die Bestimmung einer Außen- und Innenperspektive eines Verlags zu. Nach außen hin verleiht das Verlagsprogramm dem Verlag ein Gesicht und begründet das kulturpolitische Selbstverständnis des Verlags. Nach innen hin bietet es ein Relationsschema, wonach im Verlag das Gleichgewicht zwischen Kultur und Wirtschaft vereinbart und für Mitarbeiter des Verlags nachvollzogen werden kann.[97]

Diese Verortung des Buchverlages als Interpenetrationszone zwischen Wirtschaft und Kultur zeigt nach Jäger auf, dass die systemtheoretische Analyse einen wichtigen Beitrag für die Buchwissenschaft leisten kann. Denn dadurch wird es möglich den Verlag als Ganzes zu betrachten und somit ein, wie Jäger betont, von Biografien einzelner Verlegerpersönlichkeit unabhängiges Abbild zu zeigen.[98] Die Systemtheorie kann also den Verlag in seiner gesellschaftlichen Rolle und seinen Beitrag zur Kommunikation innerhalb der Gesellschaft darstellen.

Jägers Übertragung buchwissenschaftlicher Themenfelder in die Systemtheorie trug dazu bei, dass in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts am Institut für Buchwissenschaft in München weitere Arbeiten mit systemtheoretischer Ausrichtung publiziert wurden. Dabei sind vor allem Gabriele Scheidt mit ihrer Arbeit zum Kolportagebuchhandel, Frank Holl mit der Arbeit »Rezensionen. Produktion und Distribution wissenschaftlicher Literatur« und Bernd R. Gruschka mit der Arbeit »Der gelenkte Buchmarkt« über den Verlag Kurt Desch zu nennen.[99]

3.1.2 Kulturgeschichtliche Medien- und Kommunikationsrevolutionen


Obwohl Michael Gieseckes Monographie »Der Buchdruck in der frühen Neuzeit« bereits 1991 – also vor Jägers ersten systemtheoretischen Ansätzen – erschien, wird sein Ansatz in vielen einführenden Aufsätzen in Bezug auf die Systemtheorie in der Buchwissenschaft nicht erwähnt.[100] Dies mag vor allem daran liegen, dass Gieseckes Herangehensweise im Nachgang scharf u. a. auf Grund der Verzahnung der Systemtheorie mit Begrifflichkeiten der Datenverarbeitung kritisiert wurde.[101] Die ca. 700 Seiten umfassende Monographie an dieser Stelle detailliert vorzustellen, würde zu weit führen, deswegen sollen – der Vollständigkeit halber – kurz die wichtigsten Grundthesen hinter dem Werk vorgestellt werden, woran ein kurzer Überblick über die daran angeschlossene Diskussion abgebildet wird.

Den Ausgangspunkt für das Werk bildet die These, dass durch die Einführung neuer Medien in den letzten 20 Jahren ein kultureller Wandel ausgelöst wird.[102] Um diese These zu untermauern, betrachtet Giesecke die seiner Meinung nach letzte bekannte Medienrevolution: die Einführung des Buchdrucks.[103] Denn die Einführung der Schrift in »oralen Kulturen«[104] bewirkte nach Giesecke keinesfalls eine umfassende kommunikative Revolution. Das Vorherrschen der oralen Verständigung wurde durch die Einführung der Schrift nicht geschmälert und stellte daher keine Veränderung der Informationsverarbeitung innerhalb dieser oralen Kulturen dar. Vielmehr stand sie nur einer kleineren Gruppe zur Verfügung, die über die Fähigkeit verfügte das Zeichensystem zu entschlüsseln.[105] Am Beispiel der Antike zeigt sich, dass vielmehr eine Kooperation oraler und »skriptographischer«[106] Medien innerhalb einer Gesellschaft entstand, worin durchaus die höchste Entwicklung der Oralität gesehen werden kann.[107] Ab dem 13. Jhd. verschob sich allerdings das Gleichgewicht zwischen Oralität und Skriptographie und der Durchbruch des Buchdruckes führte zur Mediengewichtung, wie sie in unserer heutigen Gesellschaft noch vorherrscht.[108] Giesecke fasst diese Erkenntnisse in Systemen zusammen und nimmt demnach eine Entwicklung vom...

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