Neben der frühzeitig einsetzenden Verwendung der KHM im Bereich der Schule, haben sich schon bald diverse didaktische und methodische Überlegungen entwickelt. Diese wurden, entsprechend der jeweiligen Epoche, immer wieder neu hinterfragt, häufig verändert, verworfen, um manchmal doch wieder aufgegriffen zu werden.
Mittlerweile existiert eine Vielzahl von Konzepten, die allesamt immer wieder versuchen, kognitive, emotionale, künstlerische sowie soziale Erschließungsformen zu integrieren. Dabei decken sie auch inhaltlich sämtliche Ansätze ab, die Märchen bieten.
Ein Lehrer sollte sich dieser enormen Vielfältigkeit bewusst sein, um jene Konzepte und Ansätze herauszufiltern, die sich für seine eigenen inhaltlichen, methodischen und didaktischen Ziele sowie Vorstellungen eignen. Allerdings muss in diesem Zusammenhang noch einmal betont werden, dass ein Lehrer seinen Schülern keinesfalls vorgefertigte Interpretationen liefern darf. Vielmehr sollte er ihnen die Möglichkeit bieten, sich dem Text subjektiv zu nähern und sich individuell mit ihm auseinander zu setzen.[66].
Bedingt durch ihre Entwicklung in historischen, literarischen und gesellschaftlichen Kontexten, wird den Märchen ein exemplarischer Charakter zugeschrieben. Der Deutschdidaktiker Günter Lange konkretisiert diesen, in dem er davon ausgeht, dass das Märchen in verschiedenen Aspekten exemplarische Züge aufweist, die er als Modellfälle bezeichnet.[67] Fast alle diese Modellfälle sind im bisherigen Verlauf der Arbeit, zumindest in Ansätzen, erwähnt worden. Sie sollen im Folgenden aber aus Gründen der Vollständigkeit und Verständlichkeit noch einmal in Kürze aufgeführt werden.
So ist das Märchen zuallererst ein Modellfall für das mündliche Erzählen. Diese Form der Weitergabe von Erzählungen hat einen hohen emotionalen Wert, der Kindern heutzutage meistens nur noch in der Schule vermittelt wird, da zu Hause kaum noch Geschichten erzählt werden.
Zudem kann das Märchen als literarischer Modellfall bezeichnet werden, der gleichzeitig Wirkung und Funktion von Literatur verdeutlicht. Innerhalb des speziellen Rahmens der Struktur, der Figuren und der Darstellung des Märchens erfassen Schüler deren unterhaltenden Charakter: Sie leiden und fühlen mit den Helden.
In Märchen können Schüler zudem ihre eigenen Wünsche und Ängste wiederfinden. Die Auseinandersetzung mit ihnen kann im Umgang mit den Märchen erfolgen, ohne dass die Kinder dabei Sanktionen befürchten müssen. Schließlich wird nicht über sie, sondern über die Märchenfiguren, deren Verhalten und Erfahrungen reflektiert. In diesem Zusammenhang werden Märchen als entwicklungs und tiefenpsychologisches Modell betrachtet.
Märchen sind ein Phänomen, das es überall auf der Welt gibt, weswegen es auch einen Modellfall für interkulturelle Erziehung darstellt: Die Schüler begreifen, das sie überall auf der Welt seit Jahrhunderten verbreitet werden und zusätzlich deutlich machen, dass die Menschen früher allesamt eher ein magischmystisches Weltbild hatten – egal ob sie bspw. in Asien oder in Europa gelebt haben. Die Märchen stehen somit also auch als Modellfall für alternative Denkstrukturen zu den heute gängigen analytischen Denkverfahren.
Durch den Umgang mit Märchen kann zudem Kreativität entfaltet werden, wenn jedem Schüler ein individueller Zugang zu ihnen ermöglicht wird. Dabei sind Märchen nicht nur literarische Texte für Kinder, sondern auch für Jugendliche, da sich ihre Helden vorrangig mit den Problemen des Erwachsenenwerdens (wie z.B. dem Prozess der Ablösung vom Elternhaus) auseinandersetzen müssen.
Als letzter Punkt seien nun noch die Märchen als Modellfall für kulturelle Identität genannt. Sie stellen ein kulturelles Gut dar, das immer wieder intertextuelle Bezüge bietet, da die Märchen als einfache Form vielen literarischen Genres zugrunde liegen, die sowohl strukturelle, inhaltliche als auch motivische Elemente der Märchen enthalten können.[68]
Es ist bisher deutlich geworden, dass sowohl die inhaltliche, historische als auch die strukturelle Tragweite der Märchen eine scheinbar unendliche Palette an Möglichkeiten bietet, mit ihnen im Unterricht zu arbeiten. Um an dieser Stelle nicht in einer Flut von Vorschlägen verschiedener Märchendidaktiker unterzugehen, soll vielmehr der Frage nachgegangen werden, worauf Lehrer beim Einsatz von Märchen achten sollten und welche Bedeutung dieser sowohl für die Schüler als auch für die jeweiligen Lehrkräfte haben kann.
Zunächst einmal müssen Lehrer wissen, welches Märchen im Unterricht verwendet werden soll. Das ist deswegen bedeutsam, weil nicht nur weitere didaktische und methodische Überlegungen davon abhängen, sondern zudem Schüler sofort merken, ob das jeweilige Märchen dem Lehrer gefällt oder nicht. Daher sollte niemals eine Erzählung gewählt werden, die man selbst nicht mag. Außerdem sollte immer eine Erzählung ausgesucht werden, die den (meisten) Schülern gefallen wird, d.h. eine, die altersgemäß ist und inhaltlich sowie strukturell weder über noch unterfordert.
Anschließend muss überlegt werden, wie viel Zeit dem ausgewählten Märchen im Unterricht eingeräumt wird. Abhängig ist diese Entscheidung davon, welche konkreten Ziele der Lehrer mit seiner entsprechenden Unterrichtseinheit verfolgt. Grundsätzlich sollte aber bedacht werden, dass der Umgang mit Märchen viel Aufmerksamkeit und Konzentration verlangt, weswegen ihm reichlich Zeit eingeräumt werden sollte. Denn nur so kann jedem Schüler die Möglichkeit gegeben werden, sich individuell mit dem Text zu beschäftigen und auseinander zusetzen. Konkrete Handlungsanweisungen können den Schülern dabei eine Hilfe sein.[69] Zudem wäre es möglich, Märchen nicht nur im Deutschunterricht zu behandeln, sondern vielmehr ein fächerübergreifendes Projekt zu starten[70], was vor allem dem vorrangigen Klassenlehrerunterricht in der Grundschule entgegen kommen dürfte.
Unabhängig von dem Umfang einer Märcheneinheit sollte ein Lehrer aber generell wissen, wie er in seinem Unterricht vorgehen möchte und worauf er hinaus will. Er kann somit den Schülern einen sicheren und überschaubaren Rahmen bieten, der vor allem dazu dient, Anregungen zu geben. Dafür muss sich die Lehrkraft bereits im Vorfeld mit dem Märchen auseinandergesetzt haben. Dazu gehört eine Analyse des Textes ebenso wie methodische und didaktische Überlegungen. Beides sollte aber nie starr verfolgt werden, sondern vielmehr Raum für ganz neue Ideen und Ansätze offen lassen. Denn nur so kann der Umgang mit Märchen ein konstruktiver sein.
Im Grunde dürfte dieses Verfahren nicht schwer fallen, laden Märchen doch geradezu dazu ein, mit ihnen zu experimentieren und zu spielen. Nichts anderes ist schließlich auch ursprünglich mit ihnen passiert: Von einem Erzähler zum Nächsten wurden sie (meistens unbeabsichtigt) immer wieder verändert und variiert.[71] Und das allein durch die Tatsache, dass jeder der Übermittler zunächst das Märchen gehört, es subjektiv wahrgenommen, und schließlich wiederum auf seine eigene Art und Weise verändert weitergegeben hat, ohne dabei aber den Kern der Erzählung zu zerstören.
Die Beschreibung dieses Ablaufes macht deutlich, dass jeder Rezipient einer Erzählung, diese nicht einfach aufnimmt und wortwörtlich weitergibt, sondern zunächst individuell verarbeitet. Jenes Phänomen fällt unter den Bereich der kognitivistischen Lernpsychologie und kann generell das Lernen als eine konstruktive Tätigkeit, bei der nicht einfach eine bloße Übernahme von Wissen stattfindet, verdeutlichen. Dennoch sollte auch immer darauf geachtet werden, dass bei der Rezeption von Texten nicht nur individuelle Interpretationen geschlussfolgert werden dürfen, denn das wäre eine zu eingeschränkte Sichtweise.[72] Sie würde die Tatsache vernachlässigen, dass jeder literarische Text immer auch in Bezug auf seinen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext verstanden werden muss.
Nimmt man sich viel Zeit für Märchen, kann man Schülern die wertvolle Erfahrung bieten, sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. So können sie den gesamten exemplarischen Charakter der Märchen kennen lernen. Dabei werden sie die Welt der Märchen zunächst sinnlich und emotional aufnehmen, um sie anschließend nach und nach zu reflektieren sowie kritisch zu hinterfragen und in Ansätzen sogar auf die eigene Lebenswelt zu übertragen. Das erfordert einerseits genügend Zeit und andererseits eine große Methodenvielfalt im Unterricht: „Hören, ein Sich Einfühlen, Sprechen, Lesen, Malen, Spielen, später auch klärende Diskurse tragen dazu bei, solche über Erzählungen vermittelte Welten für sich durchschaubar zu machen und über sie nachzudenken.“[73]
Vielen Schülern fällt es schwer, direkt nach dem ersten Hören oder Lesen über Märchen zu sprechen,...