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E-Book

Tagebuch eines Babys

Was ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt

AutorDaniel N. Stern
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783492970396
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Was sieht, fühlt, erlebt ein Baby? Wie spürt es seinen Hunger? Wie nimmt es einen Sonnenfleck an der Wand, die Augen seiner Mutter, das Fließen der Zeit, den Raum seines Zimmers wahr? Wann fängt es an, »ich« zu denken? Die Entwicklung eines Kleinkinds - Szenen aus seinem Alltag von der sechsten Woche bis zum vierten Lebensjahr.

Daniel N. Stern, geboren 1934 in New York, ist Professor für Psychiatrie am Cornell University Medical Center, außerdem Professor für Psychologie an der Universität Genf. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter die erfolgreichen Bücher 'Tagebuch eines Babys' und 'Geburt einer Mutter'.

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Leseprobe

1. Ein Sonnenstrahl – 7.05 Uhr morgens

Joey ist gerade aufgewacht. Er blickt unverwandt auf den Reflex eines Sonnenstrahls an der Wand neben seinem Kinderbett.

Ein Stück Raum leuchtet dort drüben.

Ein sanfter Magnet zieht an und hält fest.

Der Raum erwärmt sich und wird lebendig.

In seinem Innern beginnen Kräfte sich langsam tanzend umeinander zu drehen.

Der Tanz kommt näher und näher.

Alles steigt auf, ihm zu begegnen.

Er kommt immer näher. Aber er kommt nie an.

Die Spannung verebbt.

Für Joey sind fast alle Begegnungen mit der Welt dramatisch und vom Gefühl bestimmt. Elemente und Wesen dieser dramatischen Zusammentreffen sind für uns Erwachsene nicht offensichtlich. Von allen Dingen im Zimmer erregt der Sonnenschein an der Wand Joeys Aufmerksamkeit am meisten und hält ihn in Bann. Die Helligkeit und Intensität faszinieren ihn. Im Alter von sechs Wochen ist seine Sehfähigkeit schon recht gut entwickelt, wenn auch zur Perfektion noch einiges fehlt. Er erkennt bereits verschiedene Farben, Formen und Intensitätsgrade. Von Geburt an hat er starke Vorlieben für bestimmte Dinge, die er ansehen möchte, für Dinge, die ihm gefallen. An erster Stelle steht dabei die Intensität einer Wahrnehmung, sie stellt in dieser Szene das wichtigste Element dar. Das Nervensystem eines Säuglings ist in der Lage, sofort die Intensität eines Lichts, eines Geräuschs, einer Berührung zu bestimmen, also der Reize, für die seine Sinne bereits ausgebildet sind. Die Intensität seines Gefühls einem Objekt gegenüber ist vermutlich sein erster Anhaltspunkt dafür, ob er darauf zugehen oder sich davon fernhalten soll. Intensität kann ihn dazu bewegen, Schutz zu suchen. Sie kann seine Aufmerksamkeit und Neugier leiten und sein inneres Erregungsniveau bestimmen. Ein schwacher Reiz (z. B. eine bei Tag brennende Lampe) besitzt für ihn nur wenig Anziehungskraft. Ist er zu intensiv (wie direkte Sonneneinstrahlung), meidet er ihn. Ist der Reiz jedoch mäßig intensiv, wie der Reflex des Sonnenlichts an der Wand, ist der Säugling wie verzaubert. Die gerade noch erträgliche Intensität erregt ihn, er reagiert sofort darauf. Die Intensität erhöht seine Lebhaftigkeit und aktiviert sein ganzes Wesen. Seine Aufmerksamkeit ist wacher. Der Sonnenstrahl ist ein »sanfter Magnet«, dessen Anziehungskraft er spürt.

In diesem Alter wird Joey auch von Flächen angezogen, die im Innern eines klar umrissenen Rahmens liegen. Die Ränder des Lichtquadrats fangen seinen Blick da ein, wo die hellen und dunklen Teile der Wand aneinanderstoßen. Man könnte sagen, das Licht zieht ihn an, aber erst die Ränder halten ihn fest.

Wie kann Joey wissen, daß der leuchtende Sonnenfleck sich »dort drüben« befindet? Wie kann er wissen, daß er nicht etwa »gleich hier«, direkt neben ihm ist? In diesem Alter ist Joey immerhin in der Lage, räumliche Entfernungen und Quadranten einzuschätzen. Bald wird er den Raum insgesamt in zwei klar unterschiedene Bereiche einteilen: die nahe Welt innerhalb der Reichweite seines ausgestreckten Arms und die ferne Welt außerhalb dieses Bereichs. Es wird noch einige Monate dauern, bis Joey in der Lage sein wird, präzise nach etwas zu greifen und es zu fassen. Mit sechs Wochen lernt er jedoch bereits zwischen erreichbarem und nicht erreichbarem Raum zu unterscheiden. (Diese Fähigkeit wird ihm später dabei helfen, den wichtigen Akt des Greifens zu lernen, indem er für sich umreißt, was in seiner Reichweite liegt und was nicht. Es wäre nicht sinnvoll, wollte er nach dem Mond greifen oder auch nur nach Dingen in einem anderen Teil des Zimmers.) Für ihn ist Raum nicht kontinuierlich und nahtlos wie für einen Erwachsenen. Es ist, als bilde der Raum eine Kugel um ihn, deren Radius der Länge seiner Arme entspricht. Selbst blinde Babys greifen nach einem tönenden Objekt nur dann, wenn es in diesen Radius eintritt. Sie teilen den Raum in gleicher Weise ein wie sehende Kinder, nur daß sie hierzu statt der Augen ihre Ohren benutzen. Deshalb befindet sich der Sonnenreflex »dort drüben«, nämlich außerhalb Joeys späterer Reichweite.

Warum wird der Lichtfleck für Joey »lebendig« und läßt ihn Kräfte sehen, die sich langsam tanzend umeinanderbewegen? Diese Wirkung ergibt sich durch die Art und Weise, wie Joey den Lichtfleck mit seinen Augen und seiner Aufmerksamkeit erforscht. In diesem Alter blicken Babys häufig Dinge unverwandt an, als würde ihr Blick tatsächlich festgehalten, und sie müßten auf eine Stelle starren. Dabei scheint das Baby geistig aktiv zu sein, so wie Joey in diesem Moment, und nicht etwa in vage Tagträume versunken, wie dies bei einem Erwachsenen der Fall wäre.

Viele Eltern fühlen sich in solchen Momenten herausgefordert oder beunruhigt. Stellen Sie sich vor, Sie halten Ihre sechs Wochen alte Tochter im Arm. Ihre Gesichter sind einander zugewandt. Sie möchten spielen, aber sie starrt gebannt auf die Stelle, an der Ihre Stirn und Ihr Haaransatz zusammentreffen. Sie möchten, daß sie Ihnen in die Augen schaut, und lächeln sie an, um ihren Blick abzulenken. Aber Ihr Lächeln zeigt keinerlei Wirkung. Sie versuchen weiter, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, wie das die meisten Eltern tun. Sie schneiden Grimassen oder schaukeln das Kind hin und her in der Hoffnung, daß die Körperbewegung seinen Blick ablenken wird. Das Baby starrt jedoch weiterhin unverwandt auf Ihren Haaransatz. Viele Eltern deuten dieses Abwenden des Blicks als echte Ablehnung und geben vielleicht sogar für dieses Mal den Versuch auf, einen Blickkontakt herzustellen. Es handelt sich aber keineswegs um Ablehnung, sondern um ein völlig normales Phänomen, das man unwillkürliche Aufmerksamkeit nennt.

Gelegentlich werden Sie es auch schaffen, den Blick Ihres Babys abzulenken und einzufangen, oft gelingt dies jedoch nicht. Aber selbst wenn es nicht klappt, selbst wenn das Kind weiter den Blick fest auf Ihren Haaransatz gerichtet hält – den »Rand« zwischen Haaren und Stirn –, werden Sie oft den Eindruck gewinnen, daß es Ihre Bemühungen trotzdem in irgendeiner Form wahrnimmt, und das trifft auch zu. Das Kind betrachtet aufmerksam Ihr Gesicht, aber in der Peripherie. Der springende Punkt ist, daß es sich vollständig auf den Rahmen konzentriert, nicht jedoch auf das Bild darin.

Joey starrt auf die Grenze zwischen dem leuchtenden Viereck und der umgebenden Wand. Daß er nur diesen einen Punkt ansieht, bedeutet allerdings nicht, daß seine Aufmerksamkeit ebenfalls ausschließlich auf diese Stelle gerichtet wäre. Obgleich wir uns dessen meist nicht bewußt sind, können wir spielend unseren visuellen Fixierpunkt (das, was unsere Augen ansehen) vom Fokus unserer Aufmerksamkeit (dem, worauf unser Geist seine Aufmerksamkeit richtet) trennen. Denken Sie nur daran, was beim Autofahren abläuft. Sie blicken unverwandt auf die Straße vor Ihnen, aber Ihre Aufmerksamkeit kann von der einen zur anderen Seite wandern (zu Objekten am Rand Ihres Blickfeldes), aber auch in die Ferne oder in die Vergangenheit. Oder, besser noch, suchen Sie sich einen Punkt auf einem weißen Blatt Papier und blicken Sie unverwandt darauf. Wenn dieser Punkt nach einer Weile beginnt, langweilig zu werden, wird der Fokus Ihrer Aufmerksamkeit außerhalb des Fixierpunktes und um diesen herum zu wandern beginnen, ohne daß Ihre Augen sich bewegen. Während Ihre Aufmerksamkeit über diesen neuen Gebieten schwebt, scheinen sie sich zu verändern oder sogar zu verschwinden. Farben können sich verschieben: Was durch und durch weiß erschien, bekommt jetzt einen Stich ins Grüne oder Rötliche. Und diese beiden Farben können abwechselnd erscheinen. Auch Licht und Schatten können sich an diesen Stellen verändern, wie das allmähliche Spiel von Licht und Schatten auf einem Hügel, über den Wolken hinwegtreiben. Das ebene Blatt kann in unmittelbarer Umgebung des Fixierpunktes scheinbar seine Form verändern, es kann sich wellen, schmelzen oder Ausbuchtungen bekommen. Derartige optische Täuschungen kommen zustande, wenn unsere fokale Aufmerksamkeit und unser visueller Fixierpunkt auseinanderdriften und sich gegenseitig ausspielen.

Auch Joey wird es bald langweilig werden, immer auf dieselbe Stelle am Rand des Lichtkegels zu schauen. Sein Blick bleibt vermutlich fokal auf diesen einen Punkt gerichtet, während der Fokus seiner Aufmerksamkeit sich anschickt, von diesem Punkt wegzuwandern. Er beginnt mit ihr das Innere des Lichtflecks zu erkunden, das am Rande seines Sehfeldes auftaucht. Sobald er dies jedoch tut, unterliegt er den gleichen optischen Täuschungen wie es bei uns Erwachsenen der Fall wäre. Der Sonnenstrahl wird für ihn »lebendig«, er beginnt sich zu bewegen und sich in Farbe und Gestalt zu verändern. Joey weiß nicht, daß dies nur Streiche sind, die ihm die Sinne spielen und die durch die Spannung zwischen Sehen und Aufmerksamkeit in seinem Geist entstehen. Für ihn ist der lebendig gewordene Sonnenstrahl ein Spiel von Kräften. Er sieht etwas tanzen. Er nimmt eine dynamische Beziehung mit dem Sonnenstrahl auf, und jeder wirkt auf den anderen. Bei Joey laufen alle Wahrnehmungen nach diesem Prinzip ab. Für ihn gibt es ›draußen‹ keine »toten«, unbelebten Dinge, es sind nur immer andere Kräfte am Werk. Läßt Joey sich auf sie ein, wird der Sonnenstrahl lebendig und beginnt langsam im Kreise zu tanzen.

Der Lichtfleck scheint immer wärmer zu werden und immer näher zu kommen infolge des Farbenspiels. In diesem Alter sind Kinder bereits in der Lage, Farben zu sehen. Der Sonnenstrahl wirkt gelblich auf der weißen Wand. Diese schimmert bläulich, wo der Sonnenstrahl sie nicht trifft. »Warme«, intensive...

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