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Tausent Grsse und Küesse

Vom Leben mit einer behinderten Tochter

AutorUlla Küchler
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl283 Seiten
ISBN9783406623592
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,49 EUR

Lena wird gleich nach ihrer Geburt adoptiert. Früh zeigen sich die ersten Zeichen einer geistigen Behinderung. Doch ihre Mutter will sie nicht wahrhaben. Jahrelang täuscht sie sich selbst. Bis Lena in die Schule kommt. Erst als ihre Mutter lernt, die Behinderung zu akzeptieren, wird das gemeinsame Leben leichter und unbeschwerter. Lena ist ein vitales Kind, das ganz aus seinen Gefühlen lebt. Doch mit der Pubertät setzen bei ihr psychotische Schübe ein, die die Familie an die äußersten Grenzen ihrer Belastbarkeit führen. Gleichzeitig wird die Bindung zwischen Mutter und Tochter immer enger. Die folgenden Jahre sind geprägt von den aufreibenden Bemühungen, einen Ort zu schaffen, an dem Lena leben kann. Und von den Schwierigkeiten ihrer Mutter, sich von der Tochter zu trennen. Dieses Buch erzählt von einem Menschen, der von einem „normalen“ Leben ausgeschlossen ist.



Ulla Küchler lebt in Berlin. Sie hat als Sprachlehrerin in Hongkong, Berlin und Peking gearbeitet.

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Leseprobe

Die ersten Jahre


Manches wird im Leben eines Menschen so selbstverständlich, dass er nicht mehr darüber nachdenkt. Für Johanna bestand eine solche Gewissheit darin, dass in ihrer Zukunft mindestens zwei Kinder vorkommen würden. Als sie keine bekam, fand sie sich vom Leben nicht gut behandelt, irgendwie beiseitegestellt wie ein Güterwagen auf ein totes Gleis. Sie empfand es als einen grausamen und ungerechten Schicksalsschlag. Das Leben schien nur halb oder unvollständig, wie eine Sonate, von der der entscheidende mittlere Satz nicht gespielt wird.

Sie kam nicht auf die Idee sich zu fragen, ob das Leben nicht Alternativen bot. Kinder konnten für ein ernst zu nehmendes Berufsleben hinderlich sein. Ohne sie war man frei zu reisen, seine Wochenenden wer weiß wo zu verbringen, abends auszugehen, wann immer man wollte, und ein vielleicht irgendwann zur Gleichgültigkeit verblasstes Leben zu zweit leichter aufzugeben, wenn es sich so ergab. Vorstellungen dieser Art existierten zwar in ihrem Kopf, aber nur wie jene Museen, von denen man weiß, dass es sie gibt, in die man aber, warum auch immer, nicht geht. Sie war schließlich aufgewachsen mit Gewissheiten wie: Kinder gehören zum Leben. Eine Frau ist erst eine Frau, wenn sie Mutter geworden ist. Ihre Mutter hatte noch das Mutterkreuz für ihre vier Kinder bekommen. Die Geschwister hatten längst eigene Kinder. Etwas musste man auf der Habenseite verbuchen. Kinderlosigkeit konnte Versagen bedeuten.

Ein wichtiger Grund, den sie erst später als solchen erkannte, war der Wunsch, in den Kindern noch einmal die eigene Kindheit wiederzufinden. Sie sehnte sich nach der Naivität und Unvoreingenommenheit, nach der Gutgläubigkeit und Arglosigkeit, aber auch der Freundlichkeit, mit der sie als Kind die Welt betrachtet hatte. Das Zuhause der Kindheit war wie ein abgeschirmtes Gehäuse, in das man flüchten konnte, wenn außerhalb etwas geschah, das man nicht ausfechten wollte.

Es waren nur Bruchstücke, die ihr von ihrer Kindheit im Gedächtnis geblieben waren, aber gerade davon, dass das Vorher und Nachher im Dunkeln lag, bekamen sie ihre Intensität: Waldspaziergänge am Sonntagvormittag mit dem Vorgeschmack der Rouladen, Versteckspiele oder Fußball mit den Nachbarskindern in der Dämmerung vor dem Haus, wenn Nebelschwaden, vermischt mit dem Rauch von Herbstfeuern, über den Feldern lagen; Weihnachten, wenn die Vorfreude ungeheuerliche Dimensionen erreichte; die jährliche Sommerreise nach Österreich ins immer gleiche verwinkelte Haus am See mit den vielen Vettern und Cousinen, Tanten und Onkeln aus der Wiener Verwandtschaft; die Vertrautheit mit den Geschwistern.

Stimmungen, Übergänge, Gerüche, Schattierungen, Farben in ungewöhnlichen Mischungsverhältnissen.

Sie wollte mit ihren eigenen Kindern jene Tage der Erwartung, der Vorfreude wieder heraufbeschwören, ihre Fragen, ihre Neugierde erleben, die aufgeregten Erzählungen von all dem, was sie erlebt hatten, hören, ein wildes Durcheinander, das sich nur für kurze Momente in Stille verwandeln ließ. Sie wollte mit ihnen musizieren, so wie sie und ihre Geschwister es mit ihrem Vater getan hatten, und mit ihnen wandern, Pilze suchen, auf die Berge steigen.

 

 

Die Entscheidung, ein Kind zu adoptieren, stand eines Tages einfach im Raum. Die Zeit war reif, alles verstand sich für Johanna und Andreas wie von selbst. Es waren keine langen theoretischen Überlegungen vorausgegangen, auch wenig Zweifel, ob sie sich etwas in ihr Leben holten, das unvereinbar damit sein würde, ein Kuckucksei sozusagen, aus dem etwas Bedrohliches schlüpfen könnte. Sie gehörten auch nicht zu den Menschen, die bis in alle Einzelheiten hinein die Tragweite und die Folgen ihres Tuns vorher ausloten wollten.

Geschichten hatten sie viele gehört, in jeder Richtung, aus der Perspektive der adoptierten Kinder wie aus der Perspektive der Adoptiveltern. Alles war möglich wie im richtigen Leben, wo die Kinder nicht so gerieten, wie die Eltern es sich erhofften, und die Eltern nicht so waren, wie die Kinder es am liebsten hätten.

Sie wussten nur, dass die Adoption von Neugeborenen nicht ganz leicht sein würde. Und dass deshalb viele Kinder über bestimmte Organisationen aus dem Ausland vermittelt wurden. Sie hatten immer etwas leicht Gruseliges, diese Geschichten von Schmuggel und Gefahr, von fast geplatzten und in letzter Sekunde noch gelungenen Deals, von Kämpfen mit ausländischen Behörden, deren Vertreter das Beste für sich herausschlagen wollten. Auch hatte die Tatsache, dass es sich um Kinder aus armen oder kriegszerstörten Ländern handelte, etwas Zweifelhaftes, weil man von ihrer elenden Situation profitierte. Immerhin ließ sich das Gute, das man für sich selber tat, mit Gutem begründen: Den Kindern wurde, wie man glaubte, eine bessere Zukunft geboten.

Ihr Wunsch, ein Neugeborenes, ein Baby von wenigen Wochen zu adoptieren, war nicht weniger egoistisch. Sie wollten ein Kind, das von Anfang an nur mit ihnen und durch sie das Leben entdeckte, ein noch unbeschädigtes Wesen, dessen Zukunft in ihrer Hand lag.

Sie bewarben sich bei einer evangelisch kirchlichen Institution.

Die für sie zuständige Vermittlerin hatte schneeweißes, kurz geschnittenes Haar, das den Eindruck von Sportlichkeit und Fairness vermittelte. Ihr Verhalten aber entsprach diesem Eindruck nicht. Sie verhielt sich gleichgültig, abweisend, wortkarg, kam ihnen menschlich, gefühlsmäßig nicht entgegen. Sie fragte sie, warum sie ein Kind adoptieren wollten, und verstummte danach für eine lange Zeit. Sie ließ sie zappeln, sich verheddern, verlegen werden, nach Antworten, Beschreibungen, Gründen suchen und betrachtete sie aufmerksam, wie man Käfer betrachtet, die, auf dem Rücken liegend, verzweifelt versuchen, wieder auf die Beine zu kommen. Dann wurden sie entlassen, ohne ein Gefühl der Hoffnung, doch mit vielen Bögen Papier, die sie zu Hause ausfüllen mussten.

Johanna kam sich beschämt vor, als hätte sie eine unpassende Bemerkung gemacht, sich den Teller zu voll genommen oder jemanden, ohne es zu wollen, gekränkt.

Es kam zu einem zweiten Gespräch, aus dem die Vermittlungsdame sie wieder ohne Hoffnung auf eine Zusage entließ. Doch in diesem Gespräch reagierte sie zuweilen persönlich, stimmte zu, fragte nach, gab eigene Meinungen kund. Einige Zeit später wurde ihre Wohnung begutachtet, das Gehalt geprüft, wurden Bürgen befragt. Und dann kam ein Brief, in dem man ihnen mitteilte, dass sie als zukünftige Eltern anerkannt und für gut befunden waren, ein Kind aufzuziehen.

Vielleicht war ausschlaggebend, dass Johanna zugestimmt hatte, in der ersten Zeit nicht berufstätig zu sein, dass sie bereit waren, ein zweites Kind zu adoptieren, dass sie eine akademische Ausbildung hatten, dass sie wie freundliche, verträgliche Menschen wirkten, dass sie verheiratet waren, dass sie auf Familienleben Wert legten und selbst aus großen Familien kamen.

Noch etwas später erfuhren sie, dass ein ganz bestimmtes Kind für sie vorgesehen war und dass es ein Mädchen sein würde. Sie konnten sich vorbereiten. Sie konnten versuchen, sich das Kind vorzustellen.

Johanna sah ihre Tochter vor sich, ihren Gang, wie sie lachte, was sie sich zum Geburtstag wünschte. Sie sah, wie sie heranwuchs, welche Reisen sie machten, wählte Berufe für sie aus, die ihr selbst gefielen – Richterin, Journalistin, Musikerin in einem festen Ensemble.

 

 

Dann wurde ihr Kind geboren. Kurze Zeit, bevor sie es sehen sollten, kam ein Anruf von ihrer evangelisch kirchlichen Institution. Sie wurden zu der für sie zuständigen Dame bestellt. Diesmal war sie ängstlich, nervös, gestikulierte aufgeregt, eilte vor ihnen durch die langen Flure, hatte einen harten Klang in der Stimme: Komplikationen seien eingetreten. Das Baby habe man zur Untersuchung gebracht.

Johanna und Andreas wurden gebeten zu warten und gingen spazieren. Es war ein Spaziergang mit bleischweren Beinen in einem Park. Obwohl es mitten im Sommer war, würde Johanna ihn in herbstlicher Erinnerung behalten: fallende Blätter, ein Geruch von modriger Erde. Die immer gleichen Wege, Kreise, Ellipsen, auf denen sie den Park durchwanderten, wiederholten sich in ihren Gedanken. War das Baby blind, war es taub, hatte es irgendwelche Anomalien? Hatte es einen Herzklappenfehler? Eine Schuppenflechte, einen Tumor?

Johanna wies alles weit von sich. Hatten sie nicht gesagt, sie wollten kein Risikokind? Hatten sie nicht deutlich gesagt, dass sie sich das nicht zutrauten? Dass sie noch einige Dinge in ihrem Leben vorhatten? Vielleicht noch einmal einen längeren Aufenthalt im fernöstlichen Ausland? Dass Johanna nach einiger Zeit wieder berufstätig sein wollte wie viele Mütter mit Kindern?

Ihr Mann war bemüht, sich vorsichtig in seinen und ihren Gefühlen vorzutasten, als versuche er, in einem dunklen Zimmer mit ausgebreiteten Armen herauszufinden, welche Möbel im Wege standen. Vielleicht fehlt ihr nur ein Finger oder sie hat einen zu viel? Blindheit kann eine Chance sein. Und er erzählte von der Besonderheit einer blinden Patientin seines Vaters, die er in seiner Kindheit oft geführt und als wunderbare Frau in Erinnerung hatte.

Johanna spürte...

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