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Taxi am Shabbat

Eine Reise zu den letzten Juden Osteuropas

AutorEva Gruberová, Helmut Zeller
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl271 Seiten
ISBN9783406712982
FormatPDF/ePUB
KopierschutzDRM/Wasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR

Mehr als 75 Jahre nach Beginn des Holocaust reisen zwei Journalisten an die Orte, die vor dem Zweiten Weltkrieg Zentren des osteuropäischen Judentums waren. Sie wollen wissen, wie sich jüdisches Leben nach 1945 in sieben ehemals kommunistisch beherrschten Ländern im Osten Europas entwickelt hat.
Wurden Juden wieder in ihren Rechten anerkannt, ihr Eigentum restituiert und die Täter zur Rechenschaft gezogen? Verschwand der Antisemitismus oder wurde er verdrängt? Wie spielt sich jüdisches Leben heute ab in Krakau, Prag oder Budapest? Sie sprechen mit den letzten Überlebenden, mit Rabbinern, Gemeindevertretern, jüdischen Intellektuellen, Museumsgründern, Friedhofswärtern, mit den Heimkindern in Odessa und den Bewohnern von Altersheimen, sie erzählen von den Respekt und Bewunderung einflößenden Lebenserfahrungen im Strom der Regimewechsel, der Tauwetter und Repressionen, bis hin zur Auflösung der Sowjetunion und ihren Folgen. Für die jüdischen Gemeinden wird heute viel davon abhängen, ob die Länder Osteuropas bereit sind, der jüdischen Geschichte den ihr zustehenden Platz in den nationalen Erinnerungskulturen einzuräumen. Danach sieht es allerdings nicht aus. Manche glauben zwar an eine „Renaissance des Judentums“. Aber in das Europa des noch jungen 21. Jahrhunderts ist der Hass zurückgekehrt.



<p><strong>Eva Gruberov&aacute;</strong>, geboren 1968 in Kosice, Slowakei, Journalistin und Autorin; Studium der Philosophie und Deutsch als Fremdsprache in Prag, Frankfurt am Main und M&uuml;nchen; journalistische T&auml;tigkeiten als Tschechien-Korrespondentin bei der slowakischen Tageszeitung SME, 1999-2002 Leitung des ZDF-B&uuml;ros Prag, Producerin des ZDF-S&uuml;dosteuropa-Studios in Wien; Filmautorin: Geboren im KZ (mit Martina Gawaz, ARD 2010, Gewinner der Silbermedaille beim Internationalen Filmfestival in New York 2011); Ver&ouml;ffentlichungen in der Zeit, FAZ, Die Presse, S&uuml;ddeutschen Zeitung, Referentin der KZ-Gedenkst&auml;tte Dachau, Reisef&uuml;hrer-Autorin (mit Helmut Zeller) Slowakei, CityTrip Prag und CityTrip Plus Prag (alle im Reise Know-How Verlag), Sachbuchautorin (mit Helmut Zeller) von &bdquo;Geboren im KZ. Sieben Frauen, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I&ldquo; (C.H. Beck Verlag, 2011)<br /><br /><strong>Helmut Zeller</strong>, geboren 1955 in M&uuml;nchen, Redakteur der S&uuml;ddeutschen Zeitung, 1996 - 2004 Redaktionsleiter der Erdinger S&uuml;ddeutschen Zeitung, seit 2005 Redaktionsleiter der Dachauer SZ. Ver&ouml;ffentlichungen zur Zeitgeschichte in der deutschlandweiten Ausgabe der SZ, Reisef&uuml;hrer-Autor (mit Eva Gruberov&aacute;), Sachbuchautor von &bdquo;Ich sang f&uuml;r die SS. Mein Weg vom Ghetto zum israelischen Geheimdienst&ldquo; (mit Abba Naor, C. H. Beck Verlag, 2014) und &bdquo;Geboren im KZ&ldquo; (mit Eva Gruberov&aacute;, C. H. Beck Verlag, 2011)</p>

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Leseprobe

Slowakei


«Hören Sie auf Gottes Stimme und helfen
Sie uns in unserem tiefsten Unglück»

Das Ringen um die Definitionsmacht,
wer Täter und wer Opfer ist

Verwahrloster jüdischer Friedhof im westslowakischen Komárno

Die Frage scheint die junge Frau an der Pforte des Martinský Friedhofs in Bratislava nicht zu überraschen. «Tiso? Parzelle Nummer zwölf, dort, wo so viele Blumen liegen.» Dann denkt sie kurz nach, springt auf und sperrt die Pforte zu: «Warten Sie, ich komme mit.» Ein Friedhofsangestellter in grüner Arbeitsjacke und Gummistiefeln drückt seine halbgerauchte Zigarette aus und schließt sich uns an. Er wisse genau, wo es ist, erzählt er unterwegs. «Ich musste damals die Knochen aus dem Sarg holen.» Im März 2007 wurde der einstige Präsident des klerikalfaschistischen Slowakischen Staates, Jozef Tiso, unter großer medialer Aufmerksamkeit exhumiert. Der Grund dafür waren Gerüchte, die sich im Land seit Jahrzehnten schon hielten. Das Grab sei leer, kommunistische Geheimdienstagenten hätten Tisos sterbliche Überreste Ende der vierziger Jahre heimlich ausgegraben und an einem unbekannten Ort verbrannt. 60 Jahre nach Tisos Hinrichtung beantragten die Ultranationalisten der «Andrej-Hlinka-Gesellschaft» die Graböffnung. Unser redseliger Begleiter erinnert sich genau. Drei Priester haben die Exhumierung beaufsichtigt. Neben Knochen lagen im Sarg eine Brille und ein schmutziger Priesterkragen. Das Ergebnis der DNA-Analyse eines Wiener Instituts konnte man später in allen slowakischen Zeitungen nachlesen: Im Grab ruhe «mit hoher Wahrscheinlichkeit» Jozef Tiso. Ein paar Tage nach der Veröffentlichung der brisanten Nachricht trafen sich am Martinský Friedhof etwa 500 ältere sowie junge Männer mit glattrasierten Köpfen und in schwarzen Uniformen. Andächtig lauschten sie den Worten des Pfarrers Štefan Herényi, der über Tiso, der moralisch und politisch für die Deportation von fast 60.000 Juden in die deutschen Vernichtungslager verantwortlich war, die Worte sprach: «Er war weder ein Mörder noch ein Verbrecher. Er war ein Mann, der sein Leben geopfert hat.»

Ein Grab in Bratislava


Ein warmer Junitag, elf Uhr vormittags. Ein leichter Wind streicht durch die Bäume, auf dem riesigen Martinský Friedhof ist es wohltuend still. Wir verlassen den Hauptweg und biegen nach links ab. Auf einer Nebenstraße parkt ein Auto. Ein Mann in weißem T-Shirt und in blauer Shorts lehnt an der Fahrertür, der andere steht neben ihm und telefoniert. Sie grüßen freundlich, der Mann in Shorts zieht aus der Hosentasche eine Visitenkarte. «Wir haben ein eigenes Beerdigungsinstitut. Sollten Sie uns irgendwann brauchen … Na, Sie wissen schon …» Wir erklären, dass wir nicht aus Bratislava sind und eigentlich nur Tisos Grab sehen wollen. Ein strahlendes Lächeln zieht in seinem Gesicht auf. «Sie suchen Herrn Präsidenten? Wir sind große Fans von ihm, schauen Sie her!», ruft er und klopft mit seinem Zeigefinger an die Fahrertür. Auf einem Aufkleber ist Tisos rundes Gesicht zu sehen, auch am Heck klebt ein Miniportrait des ehemaligen slowakischen Präsidenten. Der Mann zwinkert uns verschwörerisch zu und hebt den Daumen hoch: «Er war der beste!» Die Situation ist grotesk, nicht nur deshalb, weil wir auf dem Weg zum Grab eines verurteilten Kriegsverbrechers ausgerechnet zwei seiner Bewunderer begegnen. Die beiden sind Roma. Ahnungslos verehren sie einen Mann, unter dessen Präsidentschaft auf öffentlichen Plätzen Schilder mit der Aufschrift «Juden, Zigeunern und Hunden ist der Zutritt verboten» hingen. Junge Roma wurden in Arbeitslager deportiert und nach der Niederschlagung des Nationalaufstandes im Herbst 1944 Opfer von Massenerschießungen durch deutsche SS-Männer und ihre slowakischen Helfer. Bis heute ist der Roma-Genozid in der Slowakei ein kaum erforschtes Thema. Mehr als siebzig Jahre nach Kriegsende ist der Alltag der etwa 400.000 slowakischen Roma von Diskriminierung geprägt.

Der elegante Obelisk, eine Spende der Ultranationalisten, ist schon aus der Ferne sichtbar. «Dr. Jozef Tiso, Priester und Präsident. Opferte sein Leben für Glaube und Nation», steht auf dem schwarzen Granit. Auf dem Grab liegen Kränze mit Schleifen in den slowakischen Nationalfarben. Tisos sterbliche Überreste wurden 2008 ins westslowakische Nitra überführt und liegen auf der Burg begraben. Im März 2016 fanden Parlamentswahlen statt, die rechtsextreme «Volkspartei Unsere Slowakei» um Marián Kotleba erhielt auf Anhieb acht Prozent. Zum ersten Mal seit Kriegsende sitzen im Parlament Abgeordnete, die offen dem slowakischen Staat der Kriegsjahre huldigen und den Holocaust eine Lüge nennen. In dem fünfeinhalb Millionen Einwohner zählenden Land führte ihr unerwarteter Erfolg zu einem politischen Erdbeben. Politiker etablierter Parteien, die sich vor der Wahl einen Wettkampf in der Hetze gegen Flüchtlinge lieferten, schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Neun Tage nach der Parlamentswahl, am 77. Jahrestag der Entstehung des slowakischen Staates, pilgerten Tisos Anhänger wieder einmal zu seinem symbolischen Grab. Mit dabei waren diesmal auch drei Abgeordnete der «Volkspartei». Unter dem wohlwollenden Blick eines Priesters, der die Deportationen von slowakischen Juden in Frage stellte, verbeugten sie sich ehrfürchtig vor ihrem Idol. Die provisorische Tafel, die jemand an dem Grabmal befestigt hatte, war in der Nacht davor entfernt worden. Darauf stand: «Mörder, Kollaborateur, Faschist.» 2017 hielten sich die «Volkspartei»-Abgeordneten gar nicht mehr zurück: «Gebe Gott, dass wir auch heute so einen Präsidenten bekommen», sagte eine «Volkspartei»-Abgeordnete.

Jozef Tiso mit Adolf Hitler in Berlin, Oktober 1941.

Die mehrheitlich katholische Slowakei tat sich schon immer schwer mit Kritik an dem Priesterpräsidenten. Für nationalgesinnte Slowaken ist Jozef Tiso ein Held und der von ihm geführte Staat das glückliche Ende eines jahrhundertelangen Kampfes um die Unabhängigkeit. Um das zu verstehen, muss man einen Blick in die Geschichte werfen: Seit dem frühen 11. Jahrhundert gehörte das Gebiet der heutigen Slowakei zum ungarischen Königreich. Nach der Niederlage des ungarischen Heers gegen die Türken bei Mohács 1526 fiel das Land gemeinsam mit Böhmen und Mähren an die Habsburger. Von 1867 an gehörte es zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Auf ihren Ruinen wurde 1918 die Tschechoslowakische Republik gegründet. Der gemeinsame Staat der Tschechen und Slowaken bestand bis 1939 und dann erneut von 1945 bis zu seiner friedlichen Teilung 1992. Zwischen 1939 und 1945 hatten die Slowaken ihren eigenen Staat. Auf der Karte Europas erschien er am 14. März 1939, einen Tag vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag. Der Slowakische Staat war souverän, musste sich aber in seiner Außen-, Militär- und Wirtschaftspolitik seiner «Schutzmacht» Deutschland unterordnen. Im Oktober 1939 wählten slowakische Landtagsabgeordnete Jozef Tiso zum Präsidenten. Während viele ethnische Slowaken den eigenständigen Staat begrüßten und als Befreiung von der Prager Bevormundung verstanden, begann für die slowakischen Juden ein Albtraum. Einer Volkszählung zufolge hatte die damalige Slowakei 2.650.000 Einwohner, 89.000 von ihnen waren Juden. Im September 1941 verabschiedeten slowakische Abgeordnete einen «Judenkodex», der neben den Nürnberger Rassegesetzen zu den schärfsten antijüdischen Gesetzen in Europa zählte. Für Ruhe im Land sorgte die Hlinka-Garde, eine nach dem Vorbild von SS und SA aufgebaute paramilitärische Organisation der Regierungspartei. Der erste Deportationszug mit tausend Juden verließ die Slowakei am 25. März 1942. Sein Ziel waren die deutschen Vernichtungslager im besetzten Polen. Am 15. Mai verabschiedete der slowakische Landtag nachträglich das Verfassungsgesetz über die Deportationen. Tiso unterschrieb es. Zu diesem Zeitpunkt waren die Deportationen schon im vollen Gange. Zwischen März und Oktober 1942 wurden 57.628 Juden, etwa zwei Drittel der gesamten jüdischen Bevölkerung, nach Auschwitz, Lublin-Majdanek und Sobibor verschleppt. Verschont blieben nur Konvertiten und solche, die eine sogenannte Präsidentenausnahme besaßen, «wirtschaftlich wichtige» Juden und Zwangsarbeiter in den slowakischen Arbeitslagern. Den Deportierten wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt, ihr Eigentum wurde konfisziert. Für jeden Einzelnen musste die...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Zum Buch271
Über die Autorin271
Impressum4
Inhalt5
Vorwort6
Tschechien – «Ich hatte keine Ahnung, dass es irgendwo eine Synagoge gibt». Der lange Weg von «zionistischen Provokateuren» zu respektierten jüdischen Gemeindemitgliedern9
Slowakei – «Hören Sie auf Gottes Stimme und helfen Sie uns in unserem tiefsten Unglück». Das Ringen um die Definitionsmacht, wer Täter und wer Opfer ist49
Ungarn – «Ich bin die Renaissance des Judentums». Leben in einem Land zwischen Selbstbewusstsein und Bedrohung81
Polen – «Wir erinnern uns, aber wir schauen in die Zukunft». Wie man eine polnische und eine jüdische Identität haben kann115
Weißrussland – «In jedem Weißrussen steckt im Grunde ein Jude». Die Kunst, in Frieden zu leben und unsichtbar zu bleiben153
Litauen – «Die hübschesten Mädchen sind schon weg». Die Erinnerung verdrängen, bis es nicht mehr weh tut189
Ukraine – «Ich will die Kinder nicht nur für Odessa, sondern für die Welt retten». Die Nachwirkungen des Schreckens in einem zerrissenen Land223
Bibliographie263
Bildnachweis268
Karte269

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