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Terrorlisten

Die schwarzen Löcher des Völkerrechts

AutorVictor Kocher
VerlagPromedia Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783853718131
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Der Schweizer Journalist Victor Kocher geht den Auswüchsen einer Kontrollgesellschaft nach, die unter dem Deckmantel des Anti-Terrorkampfes unschuldigen Menschen ihre Bürgerrechte entzieht. Wessen Name einmal auf eine sogenannte Terrorliste gesetzt wird, der verliert mit einem Schlag seine persönliche Freiheit. Zuerst führte die UNO diesen fragwürdigen Mechanismus zur Verhinderung potenzieller Terroranschläge ein. Unter Umgehung jeder gerichtlichen Prozedur hielt sie die Behörden aller Länder dazu an, vorbeugend gegen Menschen und Gruppierungen vorzugehen, die als mögliche Täter in Frage kämen, noch bevor diese irgendein Delikt begangen hatten. Ein Ausschuss des UNO-Sicherheitsrats setzte die Verdächtigen auf eine Terrorliste, ohne auch nur eine Begründung dafür angeben zu müssen. Gegen Sanktionen dieser Art kann sich niemand zur Wehr setzen.

Victor Kocher, geboren 1952 in Baden/Schweiz, war Mitarbeiter der 'Neuen Zürcher Zeitung'. Er widmete sich 28 Jahre lang zunächst als Redakteur, dann als Korrespondent dem Nahen Osten und der islamischen Welt. Zurzeit arbeitet er in Genf, um als diplomatischer Korrespondent die Welt der internationalen Organisationen, die Welt-Gouvernanz und die islamischen Staaten zu beobachten. Von ihm ist zuletzt erschienen: 'Der neue Nahe Osten. Die arabische Welt im Friedensprozess' (1996). Am 17. März 2011, kurz nach Drucklegung dieses Buches, verstarb Victor Kocher völlig überraschend bei einem Spaziergang in seiner Schweizer Heimat.

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Leseprobe

Wenn die Grundrechte vor Furcht erzittern


Schwarze Listen und Schwarze Peter


Terrorismus zielt auf die Grundfesten der Bürgergesellschaft. Der Terrorist setzt seine eigenen, egoistischen Ziele höher als die Werte der reinen Menschlichkeit: Er ist bereit, möglichst viele möglichst Unschuldige umzubringen, um seine schuldigen Begehren rücksichtslos gegen die Menschheit durchzusetzen. So ungefähr lautet der Konsens einer moralisch eingefärbten Beurteilung der Gewalttäter jenseits der Grenzen des Zulässigen, der Ausgegrenzten und kategorisch Auszugrenzenden. Und da wir sie unbedingt an ihrem Tun hindern müssen, soll uns (fast) jedes Mittel dazu recht sein.

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben es unter dem unerhörten Schock des September-Terrorismus fertiggebracht, weltweit wirksame Präventivmaßnahmen gegen die Kaida-Terroristen und ihre Taliban-Gönner einzurichten. Der Mechanismus zielt leidlich gut ab auf die Finanzen und die Bewegungsfreiheit der Militanten; Ende 2010 waren 485 Personen oder Einrichtungen von entsprechenden Uno-Sanktionen betroffen. Doch er ist behaftet mit einer Willkür der Anwendung, die der Willkür der Terroristen in der Auswahl ihrer Ziele ähnlich ist. Der Uno-Sicherheitsrat bezeichnet auf seiner Sanktionenliste, stellvertretend für die ganze Staatengemeinschaft, die Feinde der Menschheit. Und es obliegt den Behörden der Uno-Mitgliedsstaaten, diese Leute zu verfolgen. Das hat seine Richtigkeit, solange es sich um echte Terroristen handelt. Doch wer sich unversehens auf einer Liste mit den großen Übeltätern findet, von der eigenen Unschuld jedoch überzeugt sein darf, der wird sich vor Gericht gegen die Zwangsmaßnahmen wehren. Viele Uno-Mitglieder haben das Völkerrecht und die Verfügungen der Uno in ihre Gesetze aufgenommen, mithin kann man die Behörden wegen ihrer Umsetzung der Bestimmungen lokal einklagen. Dies geschieht auch vor dem Gerichtshof der Europäischen Union.

Spätestens hier zeichnen sich kaum zu bewältigende Schwierigkeiten ab: Der zu Unrecht sanktionierte Verdächtige verlangt erstens präzise Anklagepunkte und zweitens Schuldbeweise, damit er den fundierten Beweis seiner Unschuld vor Gericht antreten kann. Doch die nationalen Behörden verfügen gar nicht über das belastende Material, zumal es das Sanktionskomitee der Uno ist, das den Eintrag auf die Schwarze Liste behandelt hat. Der „Listing“-Prozess stützt sich auf Geheimdienstmaterial einzelner Mitglieder des Sicherheitsrates, die diese Geheimunterlagen größtenteils nicht einmal mit den anderen Staaten im Rat teilen. Nach einem jahrelangen, überaus zähen Ringen einigte man sich auf die „Narrative Summaries“, allgemeine Zusammenfassungen der Schlüsse aus den geheimen Unterlagen für die einzelnen Fälle. Eine solche Zusammenfassung brachte beispielsweise die EU-Kommission vor dem EU-Gerichtshof gegen Yassin Kadi ein. Die Richter wiesen diese Begründung als völlig unzureichend für eine substanzielle und gründliche Beurteilung der Schuld des Klägers zurück. Damit war klar, was Besonnene schon zu Beginn der „Targeted Sanctions“ des Sicherheitsrates anmahnten: Diese Zwangsmaßnahmen lassen sich nicht gerichtsfähig begründen, sie rauben deshalb den betroffenen Personen und Einrichtungen ihre Grundrechte auf Verteidigung und auf wirksames gerichtliches Gehör. Sie sind ein Verstoß gegen die Menschenrechte und mithin gegen die Uno-Charta, die auch den Handlungsspielraum des Sicherheitsrates bestimmt.

Die Gerichtsverfahren brachten die Einsicht, dass die rechtliche Überprüfung des Listeneintrags auf der gleichen Ebene stattfinden muss wie der Entscheid zum Eintrag, nämlich in der Uno. Das ergibt sich schon allein daraus, dass der Sicherheitsrat sich einer nationalen Gerichtsbarkeit in keiner Weise unterstellt, also auch ihre Urteile nicht umzusetzen gedenkt. Doch ein Tribunal zur Beaufsichtigung des Sicherheitsrates gibt es nicht – und soll es nach Ansicht vieler Uno-Mitgliedsstaaten auch nicht geben. Deshalb wird aus den Schwarzen Listen der Schwarze Peter: Die Uno schiebt die gerichtliche Verantwortung an die Umsetzer der Sanktionen ab, also an die Mitgliedsstaaten. Diese können schließlich nicht umhin, wieder den Uno-Sicherheitsrat zur Rechenschaft zu ziehen. Wer unterdessen zu Unrecht auf der Liste steht, der hat auf lange, lange Jahre das Nachsehen. Yassin Abdallah al-Kadi hat schon reihenweise Prozesse gegen die ausführenden Behörden der Sanktionen gewonnen, aber er steht völlig unverändert als Nummer QI.Q.22.01 auf der 1267er Liste.

Nur wenige Politiker und Diplomaten im Umkreis des Sicherheitsrates vertreten die Auffassung, man müsste die gezielten Sanktionen abschaffen. Umgekehrt glauben viele daran, dass weltweit eine breite Zustimmung zum Gebrauch dieses politischen Zwangsinstruments vorherrscht und dass es das Werkzeug der Zukunft ist. Der Terrorismus gilt allgemein als große Bedrohung des Weltfriedens und der Sicherheit, so groß, dass man ihm mit außerordentlichen Maßnahmen beikommen muss. Wenn diese im Widerspruch zu gewissen Personenrechten stehen, so ist man bereit, das für diesen Sonderbereich zu tolerieren: Gegen eine außerordentliche Gefahr sind außerordentliche Mittel am Platz.

Doch die riesigen Rauchwolken über Manhattan haben sich schon vor geraumer Zeit verzogen, auch die blutigen Bombenanschläge von Madrid und London sind nun schon mehrere Jahre her. Der Ausnahmezustand der Terrorbekämpfung herrscht jedoch noch immer vor.

Mithin schleicht sich die damals völlig unzulässige Frage ein: Wie bedrohlich ist der Terrorismus überhaupt? Ist die Gefahr wirklich derart groß, dass sie das Opfer aufwiegt, das wir an den so lange bewährten Grundrechten erbracht haben? Offenbar sind heute selbst die Aktivisten im Sicherheitsrat ihrer selbst nicht mehr so sicher; sie haben schon angefangen, mit Reformschritten ein Surrogat rechtlicher Garantien gegen die Sanktionen zu erfinden. Doch auch die Einrichtung einer Ombudsperson vom Sommer 2010 wurde von den Richtern des EU-Gerichts postwendend als ungenügend verworfen. Der leitende Experte des Uno-Monitoring Teams im Sanktionskomitee, Richard Barrett, und der EU-Koordinator für Terrorbekämpfung, Gilles de Kerchove, sagen im Grunde das Gleiche: Die Mittel einer präventiven Terrorbekämpfung einerseits und die ordentlichen Gerichtsprozeduren einer strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechern andererseits sind wie Wasser und Öl: Sie lassen sich nicht vermischen.

Wie groß ist die Gefahr, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen? Natürlich kann man sich sehr lange darüber sorgen, was alles hätte geschehen können und was künftig alles denkbar wäre, etwa im Bereich der „schmutzigen Bomben“. Doch rein rückblickend und in Zahlen gefasst, kommt man zum Schluss, dass der Terrorismus immer noch der Krieg der Mittellosen ist, zwar viel Lärm verursacht, aber verhältnismäßig wenige Opfer fordert. Der Politologe John Mueller von der Rochester University berechnete, dass „im Durchschnitt jährlich viel mehr Amerikaner an Blitzschlag, bei Unfällen mit Wildtieren oder an Erdnüsschen-Allergien sterben als durch Terroranschläge“. Die statistische Häufigkeit, im Laufe eines Menschenlebens weltweit durch Terrorismus umzukommen, setzt er ungefähr derjenigen von Opfern bei Meteoriteneinschlägen gleich. Daher sein scharfer Schluss: Was die wahren Schäden des Terrors verursacht, sind nicht die Anschläge selbst, sondern die Folgekosten der behördlichen Reaktionen und Sicherheitsvorkehrungen. Mueller führt Usama Bin Ladens berüchtigte Überschlagsrechnung an, wonach die Operation von 9/11 rund eine halbe Million Dollar gekostet hat, die Folgekosten für die USA sich jedoch auf gut 500 Milliarden Dollar beliefen. Und dabei hatte der Chefterrorist wohl noch gar nicht an die tief greifende Umwälzung des zivilen Flugverkehrs gedacht, mit den Myriaden von neuen Sicherheitsbeamten, all den Body-Scannern, Röntgenkanälen, Leibesvisitationen und vor allem endlosen Warteschlangen.

Hier soll nicht gesagt werden, die Bekämpfung des Terrorismus sei unnötig, sondern im Gegenteil. Der Kampf soll jedoch ganz gezielt geführt werden, nicht mit einer Strategie der verbrannten Erde im ganzen islamischen Umfeld der Terroristen. Der statistische Vergleich ordnet die Terrorsorge unter den anderen, mindestens so grundlegenden Anliegen einer Regierung ein: Nahrungsmittelsicherheit, Energieversorgung, Volksgesundheit, Sicherheit im Straßenverkehr, um nur wenige zu nennen. Und es wird klar ersichtlich, dass der ungeheure Aufwand für die Terrorbekämpfung einem willentlichen politischen Entschluss entspringt, nicht einfach einer schicksalhaften Notwendigkeit. Die radikale Wende zu George W. Bushs weltweitem Krieg gegen den Terror war nur möglich, weil beim Terrorismus, besonders bei den Mega-Attentaten der Kaida, der Beweis einer Schädlichkeit strategischen Ausmaßes nicht erbracht werden musste. Man konnte ihn in guten Treuen voraussetzen. Deshalb gab es auch keinen nennenswerten Widerstand gegen die Einschränkung der Freiheiten und gegen die Beugung der Grundrechte. Die Stimmung im Spätherbst 2001 war durch eine weltweite Mobilisierung bestimmt. Und wer unbequeme Fragen stellte, wurde rasch zum Verräter gestempelt. Dass die Amerikaner die treibende Kraft der Kaida- und Taliban-Sanktionen waren, bezeugen zahlreiche Insider. Mithin kann man zehn Jahre später feststellen, dass die überaus heftige Reaktion auf den Terror nicht eine weltweite natürliche Reaktion war, sondern es war ein gutes Stück der politische Entscheid der amerikanischen Regierung, der der ganzen Welt diese Hysterie mit all ihren Folgeschäden im Völkerrecht aufgedrängt hat. War es richtig, den Schutz der Personenrechte über Bord zu werfen, um ein paar Hundert neu erkannte,...

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