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E-Book

TEXT + KRITIK 220 - Christoph Ransmayr

AutorDoren Wohlleben
Verlagedition text + kritik
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl91 Seiten
ISBN9783869167381
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Christoph Ransmayr (*1954): Kaum ein deutschsprachiger Schriftsteller dürfte die Welt so intensiv erlaufen haben. Jahrzehntelanges Reisen in die entlegensten Gegenden findet Eingang in sein vielfach ausgezeichnetes Werk. Am 18. November 2018 wird ihm in Berlin der Kleist-Preis verliehen. Gehen, eine mögliche Spielform des Erzählens, ist für ihn die 'Fortbewegungsart, die dem Denken, dem Sprechen und schließlich auch dem Schreiben' am meisten entspricht. Ransmayr wandert auf Sicht: mit Richtungs- und Perspektivenwechsel und der Bereitschaft stillzustehen, wenn sich Fremdes im vermeintlich Vertrauten auftut. Wanderlinien werden zu Schriftzügen, reale Weltregionen zu mythischen Landschaften, geografische Kartografien zu literarischen Kalligrafien. Jeder Weg, jede Erzählung führt zugleich in die Weite anderer Kulturen und in das Innerste des Menschen. Die Beiträge des Heftes kundschaften diese interkulturellen, existenziellen Erzählräume aus: in literaturkritischen Podiumsdiskussionen, literarischen Porträts, fiktiven Dialogen, literaturwissenschaftlichen Aufsätzen und essayistischen Glossaren. Sie widmen sich Ransmayrs kunstvoller Sprache, die zwischen literarischer Reportage, Lyrik, Epik und Dramatik changiert und einen unverwechselbaren Ton anschlägt: den Ton des mündlichen Erzählers. Ergänzt wird der Band durch den erstmaligen Buchabdruck von Christoph Ransmayrs 'Ballade von der glücklichen Rückkehr'.

Doren Wohlleben lehrt seit 2014 am Germanistischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte und -theorie vom 18.-21. Jahrhundert, Mythentheorie und Antikenrezeption, Kulturtheorie der Moderne u. a. Zuletzt erschien: 'Enigmatik - Das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur in Mythos, Philosophie und Literatur' (2014).

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Leseprobe

Christoph Ransmayr

Ballade von der Glücklichen Rückkehr


Genug! Genug. Eines Tages ist es genug.

Kauern wir unter wehenden Eisfahnen?

Liegen wir erschöpft unter dem Kreuz des Südens

in einer mondlosen Tropennacht? Es ist genug.

So weit sind wir gegangen

so hoch sind wir hinaufgestiegen, immer höher

bis uns der nächste Schritt ins Blaue geführt hätte

in die Wolken, nur noch ins Leere.

Über Packeis, Gletscherspalten, Geröll

und die Dünensicheln des Großen Sandmeers

sind wir gezogen, getaumelt, bis hierher

bis an den Rand unserer Kraft.

Aber eines Tages, aber jetzt

ist es genug.

So lange haben wir bloß geträumt:

von den Eiskronen der Pole

von den Quellflüssen des Amazonas, Niger und Nil.

Von den flimmernden Seen der Luftspiegelungen

in den Wüsten Takla Makan, Gobi und Tanezrouft.

Geträumt von Gipfeln: Nanga Parbat, Shisha Pangma

Dhaulagiri und Chogori und Makalu

und schließlich sogar davon, daß unter unseren Füßen

der höchste aller Berge läge: Sagarmatha! Chomolungma.

Der, den die einen mit heiligen Namen tauften

und andere aus der Ferne bewarfen

mit dem Namen des Landvermessers George Everest.

Er, der allerhöchste unter unseren Füßen!

Genug. Eines Tages tragen unsere Ziele

entweder den Schmuck unserer Spuren

Felswände die Kerben von Eisäxten

die Schneekuppen der oberen Troposphäre

Wimpel, Gebetsfahnen

und Dünen das verwehende Gewirr unseres Auftritts

oder Wildnis, Schnee, Sand und Morast

bleiben ungeschmückt und es zwingen uns zur Umkehr:

Orkan. Hunger. Wunden. Höhenwahn. Fieber. Angst.

Die Erschöpfung oder das Heimweh.

So oder so:

Eines Tages kehren wir unseren Träumen den Rücken

und machen uns auf den Weg in die Tiefe

zurück zu den Menschen.

Wie viele sind wohl vor uns

auf diesem Weg verschwunden, ins Eis gesunken

in fauliges Wasser, in den Abgrund, den Treibsand?

Der Weg zu den Menschen, zurück ins Vertraute

verzehrt noch größere Kräfte

als die Routen ins Innere eines Traums.

Aber wir wollen doch nur dorthin

wo wir herkommen

wir wollen, sagen wir, keuchen wir, heulen wir

nichts wie weg

wir wollen nach Hause!

Du schwarzer Himmel! unter dem wir jetzt

so allein sind.

Was haben wir nicht alles auf uns genommen

seit jenem Morgen, an dem wir unser Bett

das Haus, die Liebsten verlassen haben

und auf und davon gegangen sind.

Auf und davon!

Nächte in Schneehöhlen, Polarlichter, Luftspiegelungen

haben wir gegen eiserne Tagesordnungen getauscht

saubere Bettwäsche gegen ein Biwak im Eis

von Rosen gesäumte Seepromenaden gegen Treibsand

ein candle light dinner gegen Hunger und Krämpfe

Sommerabende gegen die arktische Finsternis.

Dort die allgegenwärtigen Nachbarn

hier die Verlassenheit,

dort Milchseife, Lidschatten, Lavendel

hier Würmer und Fliegenlarven unter der Haut.

Rachen und Mund wie in Flammen

die Zunge ein verkohltes Stück Fleisch.

Dieser Durst.

Der Durst war die schlimmste aller Plagen.

Oder war es die Atemnot?

Neunundzwanzigtausend Fuß über dem Spiegel des Meeres

haben wir um Luft gehechelt.

Wie Himmelsmatrosen zur Wolkenbestattung

in unsere Schlafsäcke geschnürt

an Felsbalkone und Zinnen genagelt

haben wir im Stehen zu schlafen versucht

weil unter hängenden Eiswänden

kein Platz zum Liegen war.

Der Himmel über unserem Ziel

war von einem so dunklen, metallischen Blau

daß uns selbst um die Mittagszeit Sternbilder erschienen:

Schwan, Delphin, Drache, Andromeda.

Atemnot, Höhenwahn, alles, was dort, wo wir herkamen

unerträglich schien

haben wir ertragen

und sind Schritt für Schritt

Graten und Schneepyramiden entgegengetaumelt

die Schritt für Schritt zurückwichen vor uns.

Und wozu alle Plagen?

Auf höchste und heilige Berge sind wir gestiegen

weil sie da waren, einfach da.

Ach ja, sie standen im Weg

zwischen uns und der Ferne

ach ja, und eine unsichtbare Linie

schien durch Gletscherabbrüche und Kaskaden aus Stein

in die Höhe zu führen, weiter hinauf

ein Faden, nur für uns sichtbar

durch ein vertikales Labyrinth

ins Leere

unser Weg!

Der Ozean, die Meere haben uns verführt

weil unter einem von Wellenkämmen gefiederten Horizont

das nie Gesehene lag

ungetaufte Häfen, namenlose Gärten, unser Glück.

Was ist und was war, konnte nicht alles sein.

Und so haben wir selbst im Herzen der Wüste

blühende Städte vermutet, Oasen, weiße Paläste, Zarzura

das Paradies.

Genug!

Was es auch war, was wir hatten

es war niemals genug.

Denn dort, weit draußen und über den Wolken

ja selbst in der Finsternis der pazifischen Tiefsee

irgendwo dort unten, dort oben

mußte etwas zu finden sein

das zumindest entfernt

den Malereien unserer Tagträume glich.

Und so gingen und stiegen und drifteten wir

trudelten, schwammen wir weiter

von einem Pol zum andern, über Ozeane

und die weißen Ketten des Himalaya und Karakorum hinweg

und den Äquator entlang

und bogen so unsere Wege zum Kreis.

Und eines Tages, unter wehenden Eisfahnen

das Kreuz des Südens hoch über uns

war es genug und wir kehrten glücklich

oder gezwungen von irgendeiner Not

unseren Träumen den Rücken und sagten

genug, wir wollen nach Hause.

Seltsam, wie fern

am Rande der Erschöpfung, am Ziel

alles Vertraute erscheinen kann.

Unerreichbar das Bett, die Wohnung, die Liebsten.

Der Gipfel des Chomolungma, der Everest unter unseren Füßen

Zarzura, die weiße Stadt, zum Greifen nah!

Aber unser Bett: unerreichbar.

Unsere Zuversicht, unsere Kräfte, Wasser und Brot

selbst die Luft in den Lungen – alles erschöpft, alles zur Neige

nur Weite, Tiefe, Verlassenheit

davon gibt es auch jetzt noch und immer genug.

Ein Königreich für ein Bett!

Nichts wie weg, heulen wir, weg von hier

nichts wie zurück.

Wer sein Ziel erreicht hat, wer in der Ferne

ganz oben, ganz unten angekommen ist, wir nämlich

der muß erkennen

daß noch nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter ihm liegt

daß die Flucht zurück ins Vertraute

länger und schmerzhafter werden kann

als der Weg ins Ungewisse jemals war.

Genug! Zurück! Weiter!

Alles sind wir bereit zu ertragen, alles

um endlich dort anzukommen

von wo wir aufgebrochen sind vor einer Ewigkeit.

Aber wie langsam und widerwillig

uns nun das Vertraute entgegenkommt

unerträglich langsam

so wie damals der Südgipfel des Everest

oder die dunklen Buchten von Nowaja Semlja.

Entgegen? Es schwindet mit unseren Kräften

scheint schon verloren.

Jetzt, wo wir endlich nach Hause wollen, hinab in die Tiefe

weicht das Nächste und Liebste vor uns zurück.

Träumen wir?

Zwischen Brechern, Graten, verschneiten Felszinnen

von Daunen und Federkissen? Von unserem Bett?

Vielleicht, träumen wir, vielleicht, eines Tages

unter wehenden Eisfahnen?

in einer mondlosen Tropennacht?

werden wir ankommen.

Türen werden sich öffnen, keine Abgründe

Arme, keine Spalten im Eis.

Wir werden umarmen und umarmt werden.

Rotweinkaraffen, Gärten, gedeckte Tische, alles

wird leuchten in den Farben unseres Heimwehs

alles so, wie es war.

Und in der Nacht nach unserer Rückkehr

werden wir schlafen, zum erstenmal seit Monaten

seit einer Ewigkeit schlafen, ohne zu träumen

überwältigt vom Glück, wieder zu sein

wo wir vor langer Zeit waren.

Schlafen werden wir

bis ein Geräusch uns weckt, ein Wort und noch eines

klingende Namen, Nanga Parbat, Cho Oyu, Gasherbrum

Stimmen aus einer Tiefe, in die kein Lot mehr hinabreicht, kein
Seil Makalu, Amazonas, Takla Makan, Annapurna, der Südpol!

Ein Stimmengewirr, ein Chor

und sein Refrain: Auf und davon! Auf und davon!

Schiffsschrauben, Triebwerke, die Kufen eines Hundegespanns

das Knirschen von Schritten im Schnee und im Sand

auf und davon, flüstert, braust es in unseren Ohren

auf und davon, wer bleibt, ist...

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