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E-Book

TEXT + KRITIK 223 - Ernst Toller

AutorHannah Arnold, Peter Langemeyer
Verlagedition text + kritik
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl123 Seiten
ISBN9783869168432
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Zum 80. Todestag von Ernst Toller (1893-1939) widmet sich TEXT+KRITIK der ganzen Breite seiner schriftstellerischen Produktion, die nicht nur in enger Verbindung zur Politik, sondern auch zu den modernen Massenmedien steht. Der Schriftsteller Ernst Toller ist im kollektiven Gedächtnis vor allem als Autor von Stücken wie 'Masse Mensch' und 'Hinkemann' sowie der Selbstbiografie 'Eine Jugend in Deutschland' präsent. Was er darüber hinaus an literarischen Werken gescha?en hat, ist dagegen weitgehend in Vergessenheit geraten. Untersucht werden neben den erwähnten Texten die Gedichte, die proletarischen Massenfestspiele, die Arbeiten für Rundfunk und Kino, die Reiseberichte und die Aufzeichnungen zum Spanischen Bürgerkrieg sowie die Briefe, die jüngst gesammelt ediert wurden. Außerdem enthält das Heft eine auf den neuesten Forschungsstand gebrachte Chronik zu Leben und Werk und eine kommentierte Auswahlbibliografie. Ergänzt wird die Publikation durch den Abdruck zweier Texte, die in der Toller-Philologie bisher unbekannt waren: die Erzählung 'Tagebuch eines seltsamen Mädchens' und das Szenarium 'Krieg - Frieden', sowie durch Jan Wagners Übersetzung von W. H. Audens Epitaph 'In Gedenken an Ernst Toller'.

Hannah Arnold studierte Modern Languages und English Literature in St. Andrews und Oxford; Promotion dort zu W. H. Audens Deutschlandbeziehungen. Sie arbeitet als freie Übersetzerin und als Coach. Peter Langemeyer ist Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Hochschule Østfold (Norwegen); Publikationen u. a. zur Theorie des Dramas und Theaters, zur Literatur der klassischen Moderne, zur Gegenwartsliteratur und zur Kinder- und Jugendliteratur.

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Leseprobe

Ernst Toller

Tagebuch eines seltsamen Mädchens


24. Februar: Schlanke Linie ist modern, habe ich heute in der »Eleganten« gelesen. Ich habe die Tür zugeschlossen und mich vor den Spiegel gestellt. Meine schmalen Hüften kommen mir jetzt zupass. Morgen will ich mir ein neues Kleid nähen. Vielleicht ist es bis zum Faschingsball des Schützenvereins fertig.

1. März: Mein neues Kleid ist todschick. Ich habe bleu genommen, obwohl mir meine Freundin Marie riet beige zu kaufen. Aber ich habe Marie immer in Verdacht, sie will, dass ich eine Farbe kaufe, die zu meinem Haar nicht passt. Den Stoff fürs Revers am Hals trennte ich aus meinem Winterkostüm heraus. Tante wird schön schimpfen, wenn sie sieht, wie ich das Futter verschandelt habe.

Der Schnee ist geschmolzen. Ganz warm schien die Sonne heut Mittag schon. Ich glaube, es wird Frühling. »Laue Luft, Blumenduft und der Winde Wehn.« Ach, wenn ich auch so dichten könnte. Aber Tante sagt, die Dichter sind alle Taugenichtse. Ich kann das nicht glauben. Wer so Schönes schreibt, muss doch eine gute Seele haben.

3. März: Marie war grün vor Neid. »Du hast Dir also doch bleu genommen«, sagte sie mir süsslich, »dreh Dich mal um. Ich hab ja gleich gesagt, bleu steht Dir nicht.« Ich habe mich umgedreht und bin weggegangen. Dieses schlechte Geschöpf. Dabei haben alle gemeint, ich hätte das schönste Kleid auf dem Ball. Max N., der in der Theatervorstellung den Liebhaber spielt (ach wie himmlisch er aussah –) tanzte fast jeden Tanz mit mir. Nachher brachte er mich nach Haus. Es war schon 5 Uhr morgens. »Fräulein Anna«, sagte er zu mir in der Haustür, »wenn Sie sich jetzt noch einen Bubikopf schneiden lassen, können Sies mit jeder Berlinerin aufnehmen.« Aber das würde Tante nie und nimmer zugeben.

4. März: Ich bin erst ein paar Mal am Friseurladen vorbei gegangen. Nachher stand ich eine Weile vorm Schaufenster. Das Schild »Spezialität Bubikopf schneiden« musst ich immerzu ansehen. Schliesslich ging ich hinein und sagte, ich möchte mir … die Haare ondulieren lassen.« »Ihre Haare werden immer schöner«, meinte der Friseur, »darauf können Sie stolz sein.« Ich wurde ganz rot und fragte ihn gleich, ob seine Frau mit der Bluse, die ich ihr genäht habe, zufrieden gewesen sei. Wie er mir den Knoten drehte, fragte ich so nebenbei, »Was meinen Sie, Herr Knatschke, würde mir ein Bubikopf gut stehn?« »Bei Ihrer Fasson glänzend! Wollen wirs wagen, Fräulein Anna? Immer ran an den Speck.« »Aber Herr Knatschke, ich dürfte nicht mehr nach Hause, Tante jagte mich davon.« »Och Ihre Tante«, erwiderte Herr Knatschke, »die ist auch immer so altmodern.«

5. März: Ich habe Max N. auf der Hauptstrasse getroffen. »Na, Fräulein Anna, gut geschlafen«, rief er mir zu. »Danke schön, Herr N.« habe ich gesagt, »und Sie?« »Ich … um neun Uhr stand ich schon wieder aufm Bau, zum grossen Frühstück paar Schnäpse hinter die Binde, der Kater war wie weggeblasen.« Dabei kniff er mich verstohlen in den Arm. »Was sollen denn die Leute denken«, sagte ich, »auf offener Strasse, wenn das jemand gesehen hätte.« »Wer solls denn sehen«, sagte Max. »Na, Ihre Freundin Alma!« »Die, … das war Spass, mit der bin ich längst fertig. Ich lieb nicht solche, die an jeder Blüte saugen. Die ist für jeden Kommis zu haben. Neulich kaufe ich mir eine Krawatte, steht sie im gleichen Laden ohne mich zu bemerken. Was die dem Ladenschwengel für Augen hinschmiss, pfui Deibel kann man da nur sagen.« Mir wurde ganz heiss ums Herz. Als er mir Adieu sagte, habe ich auf Wiedersehen gesagt. Er drückte mir die Hand und schaute mich tief an. Ich bin rasch davon gelaufen.

8. März: Hat das einen Krach gegeben. Ich sagte, ich muss mir meinen Unterhalt selbst verdienen und bezahle mein Essen. Ich kann machen, was ich will. Aber Tante haute mir eine runter und schrie »Du Frauenzimmer, jetzt siehst Du aus, wie eine von der Strasse.« Ich weinte bitterlich. Ich fühle mich so allein.

Verlassen, verlassen, verlassen, bin i.
Wie der Stein auf der Strassen, verlassen bin i.

Du liebes Mütterlein du, du liegst draussen im kühlen Grabe, und auf mir treten sie herum, als ob ich ein Stein wäre.

Max hat auch nichts mehr von sich hören lassen. Ich glaube er geht doch mit Alma.

9. März: Sträusslein blauer Veilchen, wie herzig du duftest. Der Frühling ist da, der Frühling ist da, möcht ich rufen immerzu.

Ich ging Futter einkaufen für das Kostüm der Frau Schlächtermeister nebenan. Es schlug gerad zwölf, da ruft jemand hinter mir, »Fräulein Anna, Fräulein Anna.« Ich dreh mich um, da ist es Max.

»Gott, sehen Sie schön aus, und einen richtigen Bubikopf haben Sie.« Ich wäre fast vergangen, aber ich habe nur geantwortet: »So«, und dann sagte ich, ich hätte keine Zeit.

10. März: Heute früh um halb acht hats geklingelt. Der Briefträger stand draussen und brachte einen Brief. Ich bekam einen mächtigen Schreck, als ich meinen Namen sah. Gut, dass Tante noch nicht auf war. Sie hätte sicher den Brief aufgerissen und mit mir rumgeschimpft. Ob ich morgen Abend in das Wäldchen gehen soll, wie ers will? Was er wohl von mir denkt? Er hätt mich auch wo anders hinbestellen können. Mittags war Marie bei mir. »Wie ein Mann siehst Du aus« sagte sie. »Doch höchstens wie ein Bubi«, wollt ich antworten, aber ich hab mirs verkniffen.

11. März: In zehn Minuten geh ich ins Wäldchen. Es ist so warm draussen wie im Mai. Ich setz mir keinen Hut auf.

12. März morgens: Die Brust sprengts mir, ich kann nicht schreiben. Verzeih mirs, liebes Tagebuch.

Nachmittags: Wie er mich küsste zum Abschied, wollt ich ihn gar nicht los lassen. Er hat mich gefragt, ob ich zu ihm ziehen wolle. Noch 4 Stunden bis wir uns wiedersehen …. Die Minuten kleben als hätten sie Leim an den Füssen.

Abends 6 Uhr:

13. März: Mein Gott, mein Gott, ist es immer so furchtbar, ich hätte schreien mögen, aber ich habe an mich gehalten. Als ich schluchzte, hat er mich gestreichelt und gesagt, es geht schon vorüber. Nach einer Viertelstunde war er ganz ärgerlich, stand auf, und wir gingen schweigend nach Hause. Heut ist der dreizehnte. Ich hab immer gewusst, dass die Zahl dreizehn mir Unglück bringt. Es war nach zwölf.

15. März: Wie soll das enden? Ich bin so unglücklich, wenn ich mir nur Rat wüsste, aber an wen mich wenden. Marie, die würde schön tun, und morgen wüsste es die ganze Strasse und Tante, die schlüg mich halbtot. Ich komme mir so verdorben vor. Ich bin zu ihm in die Wohnung gegangen. Er hat mich ausgezogen. Ich hatte schreckliche Angst …. Gegen Morgen sprang er auf, stellte sich vors Fenster und pfiff. Ich hab die ganze Nacht geweint. Die Romane lügen alle. Nichts ist schön dabei. Ob ich wohl ein Kind bekommen werde? Und wenn Sie in der Nachbarschaft auf mich mit Fingern zeigen, ich wünsch es mir doch.

18. März: Schon der dritte Tag, an dem ich nichts mehr gehört habe. Nein, nein, ich glaub nicht, dass er wie die andern ist. Erst die Blume brechen, dann husch davon.

19. März morgens: Ein Brief von Max, ich soll mittags, fünf Minuten nach zwölf in der Nähe vom Bauplatz sein, er müsse unbedingt mit mir sprechen. Was mag er nur haben? Hat uns jemand beobachtet?

Um halb zwei: Ich fasse nichts. Max hat gesagt, ich soll mal zum Arzt gehen, da stimmt was nicht. »Glaubst Du, dass ich ein Kind bekomme«, habe ich gefragt. Max hat laut gelacht und gesagt: »Im Gegenteil, wenn Du Dich heute trauen liessest, könntest Du mit gutem Gewissen einen echten Myrthenkranz aufsetzen.« Er wollte sich ausschütten vor Lachen und dann hat er gepfiffen, »Wir winden Dir den Jungfernkranz« und mich furchtbar abgeküsst.

20. März: Ich schäm mich zum Arzt zu gehn, ich tus nicht.

21. März: Eben traf ich Max. »Warst Du schon beim Doctor« hat er gefragt. Als ich das verneinte, sagte er »Na, denn nicht, liebe Tante« zog seinen Hut und ging davon.

22. März: Der Doctor hat mich untersucht, hat den Kopf geschüttelt, hat mich was gefragt, was ich nicht verstand und dann hat er gesagt: »Kommen Sie morgen wieder.«

23. März: Heute haben zwei Aerzte mich untersucht. Der Doctor sagte, ich soll mich nicht wundern, das sei ein Kollege von ihm. Sie haben mich beide untersucht und haben miteinander in einer Sprache gesprochen, die ich nicht verstand. Ich hab mich so geniert. Am Schluss hat der Doctor gesagt: »Weiss Ihre Tante, dass Sie hier sind?« »Nein, und sie solls auch nicht wissen«, hab ich geantwortet. »Also hören Sie«, hat er gemeint, »ich kann Ihnen nicht helfen. Die Dinge liegen nicht gut für Sie.« »Bekomme ich ein Kind?« hab ich gefragt, da hat er eben so laut gelacht wie Max, und der fremde Doctor hat auch gelacht. »Ich gebe Ihnen einen Rat, liebes Kind. Sie müssen unter irgend einem Vorwand nach Berlin fahren. Dort werde ich Ihnen eine Adresse geben für einen Arzt, zu dem müssen Sie gehen.« Da hab ich zu weinen angefangen. »Bitte, bitte, lieber Herr Doctor, hab ich den Krebs, meine Mutter ist auch an Krebs gestorben.« »Beruhigen Sie sich nur, Sie sind gesund, wie ein Fisch im Wasser.« Was hat das nur zu bedeuten? Ich fahre nicht nach Berlin, nein, nein. Noch einmal sich auf...

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