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TEXT + KRITIK Sonderband - Gelesene Literatur

Populäre Lektüre im Zeichen des Medienwandels

Verlagedition text + kritik
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl283 Seiten
ISBN9783869167657
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Jüngst war sie wieder da: die 'Krise des Lesens'. Doch es gibt sie noch, die Zonen, in denen Literatur auch gegenwärtig massenhaft gelesen und enthusiastisch diskutiert wird, in denen Popularität und Konsum keine Schimpfwörter sind. Die Nachrichten aus dem Literaturbetrieb scheinen dem guten alten Kulturpessimismus recht zu geben: Der Buchmarkt schrumpft, die Verlage stehen unter Druck, der stationäre Buchhandel kämpft ums Überleben und die Zeitfenster für die tägliche Lektüre werden in der Medienkonkurrenz immer kleiner. Für welche literarischen Bereiche und Lektürepraktiken aber gilt dies eigentlich? Der Sonderband zielt auf Bereiche der Gegenwartsliteratur, in denen weiterhin dicke Bücher verschlungen werden, immer noch astronomisch hohe Erstauflagen auf den Markt kommen und der Lesehunger unersättlich zu sein scheint. Die Beiträge erkunden, welche Werke besonders häufig bemerkt, gekauft, heruntergeladen, besprochen, weiterempfohlen werden. Die differenzierte Verständigung über den aktuellen Stand der literarischen Dinge soll nicht zuletzt Auskunft darüber geben, woran man sie überhaupt erkennen kann: die tatsächlich ?gelesene Literatur?.

Carlos Spoerhase ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Schwerpunkte: Literaturgeschichte vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart; Wissenschaftsgeschichte und Methodenlehre der Geisteswissenschaften. Steffen Martus ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Schwerpunkte: Deutsche Literaturgeschichte vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart; Geschichte und Theorie der Philologie.

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Leseprobe

Bestsellererwartungen


Christian Adam

»Nach zwei Jahren spricht von diesem Buch kein Mensch mehr«
Kurzer Ruhm und langes Leben zwischen Bestsellerliste und Longsellerdasein


Die Suche nach dem Rezept, »einen zuverlässigen Bucherfolg wie einen Motor zu konstruieren«,1 ist so alt wie die industrielle Buchfertigung und der moderne Buchmarkt. Das Bild von der Konstruktion gebrauchte die deutsche Journalistin Irene Seligo in einer Besprechung zu einem der großen internationalen Bestseller des 20. Jahrhunderts: Margaret Mitchells »Vom Winde verweht«. Als Seligo ihre Rezension schrieb, waren in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits 1,5 Millionen Exemplare des Südstaaten-Romans verkauft, in England immerhin 110 0002 und sogar im von den Nationalsozialisten beherrschten Deutschland sollte das Buch zwischen 1937 und Sommer 1941 über 370 000 Mal über die Ladentheke gehen.3 Seligos Definition für »Best Seller« hat bis heute Bestand: »ein durch überwältigenden Erfolg aus dem Gedränge der Neuerscheinungen einer modernen Verlagssaison herausgehobenes Buch«.4 Mitchells Roman ist als Bestseller in vielerlei Hinsicht paradigmatisch. Die Rechte daran wurden vom deutschen Verleger auf dem internationalen Lizenzmarkt eingekauft, die Vermarktung des Buches erfolgte mit den damals modernsten Marketinginstrumenten, und auch die Journalistin Irene Seligo lieferte mit ihrem Text einen Beitrag dazu. Es folgte eine oscarprämierte Verfilmung (die in Deutschland allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Uraufführung erlebte) und Jahrzehnte später wurden mit »Scarlett« und »Reth« sogar noch Fortsetzungen aufgelegt, in denen andere Autorinnen und Autoren den Stoff der Mitchell mehr oder weniger erfolgreich fortspannen.5

Über Bestseller lässt sich stets kontrovers diskutieren. Hier treffen die Vorstellungen der einen, für die ein Buch vielleicht ein autonomes Kunstwerk ist, auf die der anderen, die darin ganz nüchtern ein Markenprodukt wie jedes andere sehen. Einen Hauch von Tragik erhält die Geschichte des Bestsellers dann, wenn die Zeit über ihn hinweg geht, nachfolgende Generationen Autor und Werk nicht einmal mehr vom Namen her kennen. Dann hat er es nicht geschafft, zum Longseller zu werden. Er beendet sein Leben wenig rühmlich als Ramsch auf dem Grabbeltisch der Buchhandlung. Welche Rolle aber spielen die Bestseller für das, was die Menschen tatsächlich und über längere Zeiträume hinweg lesen? Gibt es Vielgelesenes, das auf Bestsellerlisten nicht oder nicht mehr auftaucht, aber dennoch die Bücherwelt prägt?

1


Die Bezeichnung »Bestseller« ist eng mit dem Auftauchen von Bestsellerlisten verknüpft. Die ersten veröffentlichten Aufstellungen dieser Art erschienen in den beiden namensgleichen,6 aber getrennt für den englischen und amerikanischen Markt erscheinenden Branchenzeitschriften »The Bookman« schon in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Von der Februarausgabe 1894 an veröffentlichte der in Großbritannien erscheinende »Bookman« unter der Überschrift »Monthly Report of the Wholesale Book Trade« eine quantitative Beschreibung des Auf und Ab auf dem Buchmarkt. Beigefügt fand sich eine Aufstellung mit den »populärsten Büchern des Augenblicks«, darunter gleich zu Beginn Werke von Arthur Conan Doyle und Robert Louis Stevenson.7 Auch in der Folgezeit wurden immer wieder Autoren und Titel genannt, die es mittlerweile längst vom Best- zum Longseller gebracht haben, so im Jahr darauf Bücher von Jane Austen, Mark Twain oder Rudyard Kipling.8 Der amerikanische »Bookman« brachte unter der Überschrift »The Book Mart« Bestsellerlisten heraus, die unserem heutigen Verständnis von einem solchen Verzeichnis noch viel näherkommen. Auch hier wurden Ranglisten der jeweils sechs bestverkauften Bücher innerhalb der großen Städte der USA abgedruckt. Die Redaktion bürgte dabei für die Authentizität der Rangfolge, die jeweils von den »führenden Buchhändlern vor Ort« ermittelt worden sei. Für das Jahr 1897 fand sich ganz weit vorn »Quo Vadis« von Henry K. Sienkiewicz und »The Seven Seas« von Rudyard Kipling.9 Im Deutschland der Weimarer Republik veröffentlichte erstmals die Zeitschrift »Die Literarische Welt« in unregelmäßiger Folge Listen mit den bestverkauften Büchern. Dabei müsste der Bestseller eigentlich treffender Betterseller heißen,10 es handelt sich immer um Titel, die im Vergleich zu anderen besser gehen. Selten sind dabei absolute Zahlen verfügbar.

Bei Bestsellerliste denken wir im deutschsprachigen Raum zuerst an die »Spiegel«-Bestsellerliste, die seit 1961 wöchentlich erscheint. Heute werden die Verkaufsdaten unmittelbar in den Warenwirtschaftssystemen der buchhändlerischen Verkaufsstellen ermittelt und nicht mehr durch Abfragen bei einzelnen Buchhandlungen. Eingeführt hatte dieses Prinzip zunächst das Magazin »Focus«.11 Derzeit werden für die »Spiegel«-Listen die Daten von rund 4200 Verkaufsstellen erhoben, vom klassischen Sortimentsbuchhandel, von Bahnhofsbuchhandlungen und Kaufhäusern sowie Online-Shops.12 Für die Masse der Bücher fast noch wichtiger sind die Amazon-Verkaufsränge. Es gibt wohl keinen Autor, keine Autorin eines Publikumsverlags, die nach dem Erscheinen eines neuen eigenen Buches nicht zumindest einmal den Amazon-Verkaufsrang desselben überprüft hat. Bei den Amazon-Rankings sollen die ersten zehn Plätze rund 650 verkauften Exemplaren pro Tag entsprechen,13 was auf groben Schätzungen basiert. Aber es handelt sich eben auch bei den Amazon-Platzierungen nicht um absolute Verkaufszahlen, sondern es wird lediglich ausgesagt, wie gut sich ein Titel im Verhältnis zu anderen abgesetzt hat.14 Bei alldem darf man nicht aus den Augen verlieren, dass Rankings und Listen vor allem eines sind: Verkaufsinstrumente des Buchhandels. Amazon und andere werden die Algorithmen und letzten Geheimnisse dahinter wohl kaum offenlegen.15 Genauso wenig wie Verlage ihre tatsächlichen Verkaufszahlen hinausposaunen. Ein Problem, dass die Bestsellerforschung, so sie denn auf konkrete Zahlen angewiesen ist, vor Herausforderungen stellt. Insbesondere aus dem sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Bereich ist die Forschung immer wieder um einschlägige Studien bereichert worden,16 die verstärkt auf empirische Daten gesetzt haben. Betrachtet man das Phänomen in einem zeitlichen Längsschnitt, kommt man nicht ohne eher qualitative Betrachtungen aus, die sich auf Schätzungen stützen und für deren Argumentation Größenordnungen letztlich wichtiger sind als ganz exakte Zahlen.17

Was nun die quantitativen Grundlagen angeht, so hatte sich bereits ein Standardwerk der Bestsellerforschung des Kniffs bedient, die Anzahl der Auflagen eines Werkes heranzuziehen, wo absolute Zahlen nicht verfügbar waren. Hans Ferdinand Schulz ging dabei für die 1950er Jahre von einer Höhe der Durschnittsauflage von 5000 Exemplaren aus (wenn denn nicht konkret das 1. bis x. Tausend im Impressum genannt war). Wohl wissend, dass bei Erfolgstiteln eine einzelne Druckauflage auch deutlich mehr Exemplare umfassen konnte.18

Vor Zahlen, die Verlage in Verlagsanzeigen verwenden oder in Bücher eindrucken, sei gewarnt. Einen der schönsten darauf basierenden »Interpretationsfehler« entnehme ich einer Grundlagenstudie zum Thema: der Bibliografie und Analyse der deutschen Bestseller zwischen 1915 und 1940 von Donald Ray Richards. Darin hat es ein gewisser Alfred Hein auf Platz zwei der bestverkauften Bücher in diesem Zeitraum gebracht: Nach Thomas Mann mit den »Buddenbrooks« (zu diesem Zeitpunkt 1,3 Millionen) und noch vor Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues«.19 Richards stützte sich bei dieser nach wie vor wichtigen Studie auf bibliografische Daten. Alfred Hein hatte unter dem Titel »Kurts Maler – Ein Lieblingsroman des deutschen Volkes« eine Parodie auf die mega-erfolgreichen Schmonzetten von Hedwig Courths-Mahler geschrieben.20 Und in nicht weniger parodistischer Absicht kamen Autor und Verlag wohl überein, auf der Titelei das 1. bis 999. Tausend der Auflage zu vermerken. Mit bis in die Studie von Richards hinein durchschlagendem Erfolg. »Die Werke von Hedwig Courths-Mahler sind alle in hunderttausenden von Exemplaren im deutschen Volke verbreitet«, »die Werke von Alfred Hein (…) sind über das 1. Tausend noch nicht hinweggekommen«,21 lesen wir im Anhang des Bändchens von Hein. Was mit Sicherheit auch für »Kurts Maler« galt, aber Richards hatte allein die im Bibliothekskatalog aufscheinenden 999 000 Stück in seine Auswertung einfließen lassen – ohne eine genauere Prüfung.

2


Bestseller stehen also vor allem für den kurz- bis mittelfristigen Erfolg. Der Bestsellermarkt wird dabei wie andere Kulturmärkte auch als »Superstarmarkt«22 bezeichnet. Das bedeutet, dass das einmal erfolgreiche Buch, welches eine bestimmte Schwelle der öffentlichen Wahrnehmung überschritten hat, noch mehr Erfolg anzieht. Oder anders ausgedrückt, es handelt sich um einen »Winner-takes-all-Markt«23. In einem weiteren Sinne könnte der Bestsellermarkt auch als »sozialer Markt«24 beschrieben werden, bei dem das Käuferverhalten stark von sozialen Einflüssen abhängt. Demnach schließen wir uns mit unserer Kaufentscheidung für einen bestimmten aktuellen Bestseller einem Trend an, weil uns das sozialen Mehrwert verspricht, etwa beim Party-Smalltalk.

Den Longseller müssen wir von diesen dynamischen Verkaufsverläufen absetzen. Die Buchbranche gebraucht diesen Begriff (wie auch den des Bestsellers) heute häufig...

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