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Theodor Heuss

Bürger im Zeitalter der Extreme

AutorErnst Wolfgang Becker
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783170233102
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
In der spannenden Biographie des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss (1884-1963) spiegelt sich die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts auf besondere Weise. Heuss steht für eine bürgerliche Tradition deutscher Demokratiegeschichte. Als Bildungsbürger im 19. Jahrhundert verwurzelt, musste er sich als Politiker, Publizist und Redner im 'Zeitalter der Extreme' behaupten. Dabei zeigte er sich erstaunlich immun gegenüber den totalitären Ideologien seiner Zeit. So wurde Theodor Heuss nach 1945 zu einem der wichtigsten Vertreter der demokratischen Neugründung Deutschlands. Als Bundespräsident vermittelte er eine politische Kultur, die ihm im In- und Ausland hohes Ansehen verschaffte und die Bundesrepublik dauerhaft in die westliche Wertegemeinschaft integrierte.

Dr. Ernst Wolfgang Becker ist stellvertretender Geschäftsführer und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart. Er leitet die Edition 'Theodor Heuss. Stuttgarter Ausgabe'.

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Leseprobe

Prolog
Eine bürgerliche Biographie im
„Zeitalter der Extreme“


Als am 9. Dezember 1950 die FDP-Spitze in der Villa Hammerschmidt mit dem Bundespräsidenten zu einem Essen zusammentraf, sollte dieser Abend in einem Eklat münden. Die Liberalen beschwerten sich bei Theodor Heuss, dass Konrad Adenauer eigenmächtig den Gewerkschafter Theodor Blank zum Sicherheitsbeauftragen der Bundesregierung ernannt habe, nicht hingegen den hochdekorierten Oberst der Wehrmacht Eberhard Wildermuth. Der Bundespräsident jedoch machte deutlich, dass er die Entscheidung begrüße und die Person Blank für eine ideale Besetzung halte, denn schließlich, so Heuss mit kaum überhörbarer Ironie weiter, „ist es sehr entscheidend, die Arbeiterschaft zu gewinnen. Das kann Theo Blank eher als ein miles gloriosus.“ Provoziert von dieser Abwertung eines ehemaligen Wehrmachtsangehörigen fühlte sich der junge Bundestagsabgeordnete Erich Mende, selbst Weltkriegsoffizier, der sich an den weiteren Fortgang des Gesprächs erinnerte:

„Mich ritt der Teufel, als ich bemerkte: ‚Herr Bundespräsident, mit dem miles gloriosus treffen Sie nicht nur ihren Freund und Landsmann Wildermuth, sondern alle Soldaten dieses Krieges. Wir wären es vielleicht nicht geworden, wenn Sie und Ihresgleichen nicht dem Ermächtigungsgesetz Hitlers zugestimmt hätten! Damit hat es nämlich angefangen und zwischen Narvik, Stalingrad und El Alamein hat es für Millionen schrecklich geendet!‘ Ich spürte an der Betroffenheit aller, daß ich zu weit gegangen war, und fügte noch hinzu: ‚Ich bitte um Verzeihung, aber das war ich allen denen schuldig, die sich nicht mehr wehren können!‘ Es herrschte einige Augenblicke eine beklemmende Stille. Theodor Heuss atmete tief durch und begann zur allgemeinen Überraschung ausführlich zu erklären, wie es am 23. März 1933 zu dem ‚Ja‘ der Demokraten in Berlin gekommen war. Dann schloß er: ‚Sie können es nicht mehr wissen, weil Sie damals zu jung waren, ich mache Ihnen daraus keinen Vorwurf. Aber so leicht, wie es sich heute darstellt, war die Sache damals nicht. Ich wünsche Ihnen, daß Sie niemals so unter Druck und Drohungen abstimmen müssen, wie wir es damals mußten!‘ Damit war das Thema beendet, der Abend allerdings auch.“

Noch heute merkt man an der Reaktion von Heuss, wie ihm die Worte Mendes unter die Haut gingen. Mit dem Vorwurf, 1933 im Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt und damit das Parlament zugunsten der Regierung Hitler entmachtet zu haben, wurde Heuss nach 1945 immer wieder konfrontiert. Und noch kurz vor seinem Tod vertraute er 1963 einem Erinnerungsfragment an, dass er schon damals gewusst habe, „daß ich dieses ‚Ja‘ nie mehr aus meiner Lebensgeschichte auslöschen könne.“ Hatte Heuss also damals unter dem Druck der nationalsozialistischen Machthaber entgegen seinen Überzeugungen gehandelt und einem Gesetz zugestimmt, mit dem die Gewaltenteilung in Deutschland infrage gestellt wurde?

Wie verträgt sich dieser biographische „Makel“ mit der Selbsteinschätzung, die Heuss rückblickend seinem Leben gab, als er am 12. September 1959 aus dem Amt schied und der Bevölkerung über den Rundfunk selbstbewusst kundtat:

„Ich wünsche mir, daß meine Landsleute bei diesem Abschiedswort, das von dem Dank für viel Liebe begleitet ist, dies spüren, daß ich selber auch nie ‚reguliert‘ wurde, sondern nur in dem Wechsel der Sachlagen, der Aufgaben, sei es drinnen, sei es draußen, mir die innere Freiheit nie rauben ließ.“

Das ist ein starker Anspruch an die eigene Lebensführung. Erlag Heuss hier vielleicht einem Hang zur Selbststilisierung, mit dem er seiner Biographie eine beständige innere Haltung unterlegte? Hatte er sich nicht vielmehr doch in Auseinandersetzung mit seiner Zeit auch zu Zugeständnissen hinreißen lassen wie im Frühjahr 1933? War er nicht auch später als Bundespräsident Zwängen und Erwartungshaltungen ausgesetzt, denen er sich nicht immer entziehen konnte und die der Öffentlichkeit ein verzerrtes Bild von „Papa Heuss“ vermittelten? Oder anders gefragt: In wie weit war es einem Bürger, der als Publizist und Politiker öffentliche Verantwortung übernahm, in den extremen Zeitläuften des 20. Jahrhunderts überhaupt möglich, seine innere Freiheit zu bewahren?

Heuss war in eine Zeit gestellt, in der extreme Weltanschauungen aufeinander prallten, die immer wieder neue Entscheidungen von ihm abverlangte und alles andere als ein geradliniges Leben garantierte, das planmäßig auf das höchste Staatsamt der Bundesrepublik Deutschland zusteuerte. Geradezu widerständig zu seinem Zeitalter verstand er sich als Bürger, der fest in dem Wertehimmel einer bürgerlichen Welt wurzelte, die im 19. Jahrhundert ihre Blüte erreicht hatte. Dass Heuss sozial dem Bürgertum, genauer dem Bildungsbürgertum angehörte, ist offensichtlich. Seine Herkunft, die humanistische Schulbildung, das Studium, die Heirat einer Professorentochter, das Führen eines „standesgemäßen“ Haushaltes und das bildungsbürgerliche Umfeld, in dem er sich vor allem bewegte, sprechen eine klare Sprache. Zudem waren Lebensführung und Werteorientierung zutiefst bürgerlich geprägt: ein hoher Stellenwert von Selbstständigkeit und Eigenverantwortung, ein regelrechter Bildungs- und Geschichtshunger, ein ausgeprägtes Interesse für Kunst, Literatur und Wissenschaft, ein hohes Arbeits- und Leistungsethos, die Kultivierung des Briefes als Mittel der Kommunikation und Selbstverständigung und nicht zuletzt das Vertrauen darauf, in einem vernunftgeleiteten Diskurs über öffentliche Angelegenheiten entscheiden zu können – all dies zeichnete bürgerliche Kultur und Lebensweise aus. Und schließlich tritt uns in Heuss der Citoyen, der Staatsbürger entgegen, der sich aktiv in das Gemeinwohl einbrachte und nach Verantwortung im öffentlichen Raum strebte. Dahinter stand der Gedanke der Aufklärung, die Staatsgewalt eng an das Recht und an das Prinzip der Volkssouveränität zu binden. Es war das Projekt einer „bürgerlichen Demokratie“, dem Heuss noch Ende 1932 anhing, kurz vor der Selbstliquidierung der Weimarer Republik.

Doch verstaubt und unzeitgemäß war Heuss als Bürger ganz und gar nicht. Wenn er auch später bisweilen den Eindruck erweckte, aus der „Mottenkiste“ des 19. Jahrhunderts zu stammen, wusste er seit seiner Jugend mit den Anforderungen der Moderne umzugehen. Als Journalist und Publizist konnte er sich auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts behaupten und entging damit den Erfahrungen der Deklassierung, die das traditionelle Bildungsbürgertum durch machen musste. Er setzte sich intensiv mit den fortschrittlichen politisch-sozialen Ideen eines Friedrich Naumann und anderer Bewegungen auseinander und war gegenüber den kulturellen Strömungen seiner Zeit durchaus aufgeschlossen.

Theodor Heuss war also eine Figur des Übergangs, wie schon Thomas Hertfelder mit Blick auf den Intellektuellen Heuss heraus gearbeitet hat. In einer Zeit des beschleunigten Wandels verkörperte er einerseits noch die Bindung an die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts, reagierte aber andererseits auf die Herausforderungen von Hochindustrialisierung, Imperialismus und neuen Weltanschauungen. Damit wirft diese Biographie auch ein Schlaglicht auf das Kaiserreich als ein Zwitterwesen aus Beharrung und Aufbruch. An diese Zeitenwende gestellt, trifft auf Heuss vielleicht das zu, was Ernst Bloch 1935 als Signum der Moderne bezeichnete: die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, der bürgerliche Überhang aus verlorenen Welten, der sich in dem antibürgerlichen „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) zu behaupten hatte.

Diese Biographie will keine einfachen Identifikationsangebote liefern, die Heuss zum Beispiel als liberalen Gründungsvater für die Bundesrepublik stilisieren. Vielmehr soll sein vielschichtiger, mitunter auch widersprüchlicher Lebensweg in den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geschildert werden. Heuss zeigte sich zwar wehrhaft gegenüber totalitären Ideologien und Versuchungen und konnte somit bürgerliche Werte über die Epochenschwelle 1945 für die Wiederbegründung der Demokratie in Deutschland hinwegretten; aber auch sein Demokratie- und Politikverständnis war zeitgebunden und bewahrte ihn nicht vor Fehleinschätzungen, die aus heutiger Perspektive befremdlich erscheinen. Nicht alle Widersprüche in diesem Leben werden sich bruchlos und zu unserer Zufriedenheit auflösen lassen.

Den Blick auf den Bürger Heuss gerichtet, können wir auch die anderen Sphären, in denen er gewirkt hat, genauer untersuchen. Heuss war eben kein Berufspolitiker, der seine gesamte Lebensplanung der Politik unterwarf, sondern vielmehr auf unterschiedlichen Feldern aktiv, was ihm auch eine gewisse Unabhängigkeit sicherte. Politik und Kultur gingen bei ihm eine seltene Symbiose ein. Am Ende dieser Biographie steht die Frage, in welcher Hinsicht Heuss für die Gegenwart noch Relevanz besitzt. Ist er, der als Bundespräsident eine außerordentliche Popularität genoss, Opfer der Verkitschung zu einer harmlosen, unzeitgemäßen Großvatergestalt geworden? Wird er nur noch zu bestimmten Anlässen aus der Vitrine herausgeholt, ist ansonsten aber weitgehend dem Vergessen anheim gefallen und taugt als zigarrenrauchender, gemütlicher „Papa Heuss“ mit seinem schwäbischen Bass allenfalls zum Zitatengeber? Wo ist uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts Heuss fremd, wo rückt er uns nahe und kann Orientierung geben? Und ist mit ihm auch das bürgerliche Projekt gestorben oder hat es heute nicht vielmehr wieder ungeahnte Aktualität bekommen? Der Blick auf das lange und farbige Leben von Theodor Heuss gibt...

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