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E-Book

Tiere in der Sozialen Arbeit

Mensch-Tier-Beziehungen und tiergestützte Interventionen

AutorSandra Wesenberg
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783170317178
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis28,99 EUR
Tiere als therapeutische und pädagogische Helfer einzusetzen ist heute fächerübergreifend üblich geworden. Die Forschung hat die förderlichen physiologischen, psychologischen und sozialen Effekte der Mensch-Tier-Interaktion umfassend bestätigt. Das Lehrbuch geht von diesen positiven Befunden der bio-psycho-sozialen Wirkungen von Mensch-Tier-Interaktionen aus. Im Mittelpunkt stehen einerseits Grundlagen und Formen eines gezielten Einsatzes von Tieren in verschiedenen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit. Andererseits werden persönliche Beziehungen zwischen Menschen und Haustieren mit ihren positiven wie auch negativen Facetten betrachtet und die Frage beantwortet, wie Fachkräfte der Sozialen Arbeit die Tiere ihrer Klientinnen und Klienten in der Praxis berücksichtigen können.

Prof. Dr. phil. Sandra Wesenberg ist Gastprofessorin für Klinische Psychologie mit den Schwerpunkten Beratung und Therapie an der ASH Berlin.

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Leseprobe

2          Thesen und Theorien zum Verständnis der Mensch-Tier-Beziehung und ihrer Wirkungen


 

 

 

Was Sie in diesem Kapitel lernen können


Ganz verschiedene theoretische Modellvorstellungen werden herangezogen und entwickelt, um die persönlichen Beziehungen zwischen Menschen und Tieren in ihren förderlichen Potenzialen zu verstehen und zu erklären. Lange Zeit erfolgte die Theoriebildung dabei eher ›konkurrierend‹, wobei sich gegenwärtig auch immer häufiger ›integrative‹ Konzepte entwickeln. In der folgenden Auswahl werden einige der meist bemühten Erklärungsversuche kurz vorgestellt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit (die Darstellung basiert wesentlich auf einer Überarbeitung und Ergänzung früherer Ausführungen der Autorin: Wesenberg, Nestmann 2012, Wesenberg 2015 und Nestmann, Wesenberg, Beckmann 2016).

2.1       Die Biophilie-Hypothese


»The object of the reflection can be summarized by a single word, biophilia, which I will be so bold as to define as the innate tendency to focus on life and lifelike processes.«

Edward O. Wilson 1984: Biophilia, S. 1

Einen zentralen und oft genannten Ansatz zur Erklärung der Mensch-Tier-Beziehung und ihrer Effekte stellt die Biophiliehypothese dar, die der Evolutions- und Soziobiologe Edward O. Wilson in den 1980er Jahren entwickelte. In seinem 1984 veröffentlichten Werk »Biophilia: The Human Bond with other Species« beschreibt er Biophilie als angeborene Neigung des Menschen, sich Leben und lebensähnlichen Prozessen zuzuwenden. Demnach fühlen sich Menschen von frühester Kindheit an von allem Lebendigen angezogen und erleben die Beschäftigung mit ihrer belebten Umgebung als wesentlich interessanter als die Bezugnahme zu ihrer unbelebten Umwelt.

Diese menschliche Affinität zu Leben und lebensähnlichen Prozessen hat sich nach Wilson (1993) über Millionen Jahre hinweg entwickelt, da der Mensch während seiner ganzen Evolutionsgeschichte immer eng verbunden mit anderen Lebewesen gelebt hat. Der Biophiliebegriff nach Wilson umfasst dabei alle Arten der Bezugnahme zur Natur. Biophilie schließt demnach sowohl Attraktion als auch Aversion, Wertschätzung und Ehrfurcht ebenso wie Angst und Abneigung ein. Die evolutionäre Verbundenheit von Mensch und Tier »mag auf Verwandtschaft, auf Neugierde oder auch auf Beachtung des anderen Lebens aufgrund von Furcht zurückgehen; sie kann auf Ausnutzung der anderen Lebewesen oder auf Gemeinsamkeit im Sinne von Bindung oder von Kumpanei zielen; sie kann die Qualität des Erlebens von Schönheit, des Verspürens von Empathie oder von geistiger Einheit haben« (Olbrich 2003a, S. 70).

Stephen Kellert (1993) entwickelte die Biophiliehypothese weiter und unterscheidet insgesamt neun verschiedene Perspektiven der Biophilie: utilitaristisch, naturalistisch, ökologisch-wissenschaftlich, ästhetisch, symbolisch, humanistisch, moralistisch, dominierend und negativistisch. Jede dieser Perspektiven bedeutet eine spezifische Form der Bezugnahme zu anderen Lebewesen und lebensähnlichen Prozessen, die mit einer je eigenen Wahrnehmung und Bewertung von Natur einhergeht. Nach Kellert beinhaltet jede Perspektive dabei bestimmte Vorteile, die dem Menschen während seiner Evolution das Überleben ermöglicht bzw. erleichtert haben. In den verschiedenen Perspektiven sind die vielfältigen emotionalen Facetten, die Biophilie beinhalten kann, in unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden. Die humanistische Perspektive betont beispielsweise das Gefühl einer tiefen Verbundenheit mit der Natur. Die Einnahme dieser Perspektive kann demnach zu einer erhöhten Fürsorge oder einer engen Bindung an einzelne andere Lebewesen führen. Demgegenüber ist eine negativistische Perspektive durch Gefühle wie Angst, Aversion oder Abneigung gegenüber bestimmten Elementen der Natur gekennzeichnet. Eine gelungene Zusammenfassung der Perspektiven und Wirkungen der Biophilie nach Kellert findet sich im »Handbuch der Tiergestützten Intervention« von Monika Vernooij und Silke Schneider (2008) ( Tab. 1).

Tab. 1: Perspektiven von Biophilie nach Kellert (1993)

Dabei bestimmen mehrere Perspektiven gemeinsam bzw. parallel die individuelle Form der Bezugnahme zur Natur oder zu einzelnen Lebensbereichen.

Nach Kellert (1993) umfasst der Nutzen der Tiere für den Menschen ganz eindeutig nicht nur ihren instrumentellen Wert, sondern auch die Erfüllung vielfältiger emotionaler und kognitiver Bedürfnisse. Die Erhaltung der natürlichen Vielfalt des Lebens erscheint entsprechend umso wichtiger, als dass sie nach Kellert die beste Möglichkeit für den Menschen bedeutet, ein erfülltes und zufriedenstellendes Leben zu führen. Menschen brauchen demnach den Kontakt zu anderen Lebewesen, um sich gesund zu entwickeln.

Die von Wilson begründete Annahme einer dem Menschen inhärenten Affinität zu allem Lebendigen wird von vielen Autor_innen als theoretische Grundlage zur Begründung der Mensch-Tier-Beziehung herangezogen (und als Basis der in den folgenden Kapiteln aufgeführten theoretischen Konzepte verstanden). Die in der Biophilie-Hypothese postulierte, evolutionär geprägte Verbundenheit zwischen Mensch und Tier gilt nach Olbrich (2009a) als ›Schlüssel‹ einer geistig und emotional gesunden Entwicklung und bildet eine zentrale Grundlage für soziale Interaktion zwischen Menschen und Tieren.

2.2       Das Konzept der ›Du-Evidenz‹


»Die Frage nach der Möglichkeit sozialer Beziehungen zwischen Mensch und Tier ist also grundsätzlich dahingehend zu beantworten: soziale Beziehungen zwischen Mensch und Tier sind generell möglich; die praktische Voraussetzung für ihr Wirksamwerden ist, daß die Partner einander gegenseitig als Du evident seien.«

Theodor Geiger 1931: Das Tier als geselliges Subjekt, S. 301

Ein grundlegendes Element der besonderen Beziehung zwischen Mensch und Tier wird mit dem Begriff der Du-Evidenz charakterisiert. Du-Evidenz meint dabei die Fähigkeit, ein anderes Lebewesen »als ein mir vertrautes Lebewesen, als ein Du perzipieren zu können« (Olbrich 2009b, S. 257), es in seinen Eigenarten bewusst wahrzunehmen und als Gefährten anzuerkennen. Das Vorhandensein von Du-Evidenz gilt inzwischen in der (deutschsprachigen) Literatur als wesentliche Grundlage gelingender persönlicher Beziehungen zwischen Menschen und Tieren sowie ihrer innewohnenden Wirkpotentiale (u. a. Lorenz 1963; Greiffenhagen 1993; Vernooij, Schneider 2008; Vernooij 2009).

Das Konzept der Du-Evidenz ist dabei bereits vor vielen Jahrzehnten – und lange vor den anderen Erklärungsmodellen der Mensch-Tier-Beziehung – entwickelt worden. Theodor Geiger beschreibt bereits 1927/1931 in seinem Artikel »Das Tier als geselliges Subjekt« das Vorhandensein wechselseitiger Du-Evidenz als eine wesentliche Voraussetzung individueller sozialer Beziehungen zwischen Menschen und Tieren. In der Folge wurde das Konzept in der deutschsprachigen Literatur vielfach aufgegriffen und diskutiert. Auch Teutsch (1975, S. 54) kommt unter Bezugnahme auf Geiger zu der Einschätzung, dass »die gegenseitige Sozialbeziehung auch gegenseitige Du-Evidenz und Interaktionsfähigkeit voraus[setzt]; sie verlangt also auch beim außermenschlichen Sozialpartner verschiedene Eigenschaften, die trotz bestehender Niveauspannung eine Gemeinsamkeit ermöglichen. Zu diesen Eigenschaften gehört für beide Teile ein Mindestmaß an Kommunikation«.

Menschen drücken wie die meisten Tiere Affekte, Bedürfnisse und Motive über spezifische mimische, gestische und lauthafte Äußerungen aus und lernen in ihrer Sozialisation diese Ausdrucksweisen wahrzunehmen, zu decodieren und zu deuten ( Kap. 2.4). Soweit die neurophysiologischen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Reaktionspotenziale und -mechanismen der beteiligten Spezies sich ähneln, kann diese Kommunikation auch über Speziesgrenzen hinweg gelingen. Nach Kurt Kotrschal (2009) »wird wechselseitiges Verstehen durch die gemeinsamen Prinzipien der Organisation von Verhalten, Persönlichkeitsstruktur und Stressbewältigung begünstigt« (ebd., S. 66). Im Laufe der Evolution haben sowohl Menschen als auch Tiere demnach so genannte »social tools « entwickelt, die es ermöglichen, miteinander in Beziehung zu treten. Insbesondere Säugetiere und Wirbeltiere besitzen dabei ›Social Tools‹, die den menschlichen ähnlich sind. Sie lassen sich im sozialen Bindungsverhalten, im sozial-sexuellen Verhalten sowie im Verhalten bei Stress erkennen (Olbrich 2009a). Diese Ähnlichkeiten gelten als Voraussetzung...

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