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Tipping Point

Wie kleine Dinge Großes bewirken können

AutorMalcolm Gladwell
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641189143
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Eine totgesagte Schuhmarke, die über Nacht zum ultimativ angesagten Modeartikel wird. Ein neu eröffnetes Restaurant, das sofort zum absoluten Renner wird. Der Roman einer unbekannten Autorin, der ohne Werbung zum Bestseller wird. Für den magischen Moment, der eine Lawine lostreten und einen neuen Trend begründen kann, gibt es zahlreiche Beispiele. Wie ein Virus breitet sich das Neue einer Epidemie gleich unaufhaltsam flächendeckend aus. So wie eine einzelne kranke Person eine Grippewelle auslösen kann, genügt ein winziger, gezielter Schubs, um einen Modetrend zu setzen, ein neues Produkt als Massenware durchzusetzen oder die Kriminalitätsrate in einer Großstadt zu senken. 'Tipping Point' zeigt, wie wenig Aufwand zu einem Mega-Erfolg führen kann.

Der Journalist Malcolm Gladwell arbeitet seit 1996 für »The New Yorker«. Zuvor war er als Reporter und Bürochef der »Washington Post« in New York tätig. Gladwell wurde 1963 in England geboren, er ist aufgewachsen in Ontario, Kanada und lebt heute in New York.

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Leseprobe

EINLEITUNG

Für die Hush Puppies – die klassischen amerikanischen Wildlederschuhe mit der leichten Kreppsohle – kam der Tipping Point irgendwann zwischen Ende 1994 und Anfang 1995. Die Marke war bis zu diesem Zeitpunkt praktisch tot gewesen. Es wurden nur noch etwa 30000 Paar im Jahr verkauft, zum größten Teil in der Provinz und in Schuhläden in Kleinstädten. Wolverine, die Firma, die die Hush Puppies herstellt, dachte daran, die Produktion der Schuhe, die sie berühmt gemacht hatten, ganz einzustellen. Aber dann geschah etwas Seltsames. Bei Modeaufnahmen wurden zwei leitende Wolverine-Manager – Owen Baxter und Geoffrey Lewis – von einem Designer aus New York angesprochen, der ihnen berichtete, dass die klassischen Hush Puppies in den Clubs und Bars in Downtown Manhattan plötzlich der letzte Schrei seien. »Er erzählte uns«, erinnert sich Baxter, »dass es Läden im East Village und in Soho gebe, wo die Schuhe verkauft würden. Die Besitzer hätten begonnen, in die alten Tante-Emma-Läden zu laufen, wo die Schuhe noch vorrätig waren, und sie aufzukaufen.« Baxter und Lewis waren zunächst nur verblüfft. Wie konnten Schuhe, die offensichtlich nicht mehr in Mode waren, ein solches Comeback erleben? »Er sagte uns, dass Isaac Mizrahi selbst diese Schuhe trage«, sagt Lewis. »Ich muss hinzufügen, dass wir zu der Zeit keine Ahnung hatten, wer Isaac Mizrahi war.«

Bis zum Herbst 1995 überstürzten sich die Ereignisse. Zuerst rief der Designer John Bartlett an. Er wollte in seiner Frühlingskollektion Hush Puppies einsetzen. Dann rief eine weitere Designerin aus Manhattan an, Anna Sui, die für ihre Modenschau ebenfalls Hush Puppies wollte. In Los Angeles setzte der Designer Joel Fitzgerald einen sieben Meter hohen aufblasbaren Basset, das Markenzeichen der Hush Puppies, auf das Dach seines Modegeschäfts in Hollywood und wandelte eine danebenstehende Kunstgalerie in eine Hush-Puppies-Boutique um. Als die Arbeiten noch im Gange waren – die Wände wurden gestrichen und Regale aufgebaut –, kam der Schauspieler Pee-Wee Herman herein und wollte zwei Paar kaufen. »Es war total von Mund zu Mund«, erinnert sich Fitzgerald.

1995 verkaufte die Firma 430000 Paar der klassischen Hush Puppies, im nächsten Jahr viermal so viele und im darauffolgenden Jahr noch mehr, bis Hush Puppies wieder ein unverzichtbarer Teil der Kleidung junger amerikanischer Männer geworden waren. 1996 gewannen die Hush Puppies auf dem Council of Fashion Designers Dinner den Preis als bestes modisches Accessoir, und der Vorstandsvorsitzende von Wolverine stand neben Calvin Klein und Donna Karan auf der Bühne und nahm einen Preis für eine Leistung entgegen, zu der die Firma – wie er als Erster zugeben würde – fast nichts beigetragen hatte. Der Verkauf von Hush Puppies war förmlich explodiert, und es hatte alles mit einer Handvoll junger Leute im East Village und in Soho begonnen.

Diese ersten Jugendlichen, wer immer sie gewesen sein mögen, hatten sicherlich nicht vor, die Hush Puppies wieder populär zu machen. Sie trugen sie aus dem einzigen Grund, weil niemand sonst sie trug. Dann nahmen zwei Modedesigner die Idee auf und gebrauchten die Schuhe, um etwas ganz anderes zu verkaufen – Haute Couture. Die Schuhe waren nur eine Zutat, mehr nicht. Und dann war es innerhalb eines Jahres passiert – die Hush Puppies brachen alle Rekorde. Sie erreichten einen bestimmten Punkt, und von da an wurde es zu einer Lawine. Wie war das möglich? Wie schaffen es ein Paar Schuhe für dreißig Dollar, die von einer Handvoll junger Hipster und Designer in Manhattan entdeckt werden, innerhalb von zwei Jahren, jedes Kaufhaus in den Vereinigten Staaten zu erobern?

1.

Es gab eine Zeit, das ist noch nicht lange her, als sich ganze Viertel in den hoffnungslos armen Stadtteilen von New York, in Brownsville und East New York etwa, nach Einbruch der Dunkelheit in Geisterstädte verwandelten. Normale arbeitende Menschen wagten sich im Dunkeln nicht auf die Straße. Man sah keine Kinder auf Fahrrädern. Ältere Leute saßen nicht auf den Treppen vor den Haustüren oder auf Parkbänken herum. In diesen Teilen Brooklyns war der Drogenhandel so offenkundig, und die Bandenkriege waren so allgegenwärtig, dass die meisten Menschen es vorzogen, sich nach der Dämmerung in die Sicherheit ihrer Wohnungen zurückzuziehen. Polizisten, die in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren in Brownsville Dienst taten, berichten, dass der Polizeifunk nach Einbruch der Dunkelheit von Nachrichten über jede vorstellbare Art von Gewalt und Kriminalität überquoll. 1992 gab es in New York City 2145 Morde und 626182 Gewaltverbrechen, wobei der Schwerpunkt der Straftaten in Distrikten wie Brownsville und East New York lag. Aber dann geschah etwas Seltsames. An einem rätselhaften und kritischen Punkt begann die Verbrechensrate sich zu drehen. Sie erreichte den Tipping Point und kippte. Innerhalb von fünf Jahren fiel die Anzahl der Morde um 64,3 Prozent auf 770, und die Gewaltverbrechen halbierten sich auf 355893. In Brownsville und East New York belebten sich die Gehsteige, Fahrräder kehrten zurück, und alte Leute erschienen wieder auf den Bänken und vor den Haustüren. »Früher war es nichts Ungewöhnliches, auf den Straßen Maschinenpistolenfeuer zu hören wie irgendwo im Dschungel von Vietnam«, sagt Inspektor Edward Massadri, Chef des Polizeireviers von Brownsville. »Man hörte die automatischen Waffen in Bed-Sty und Brownsville und besonders in East New York. Jetzt hör ich so was nicht mehr.«1

Die Polizei der Stadt New York wird einem dazu sagen, dass es die neue Polizeistrategie war, die diese dramatische Verbesserung zustande brachte. Kriminologen verweisen auf das Nachlassen des Crack-Handels und die veränderte Altersstruktur der Bevölkerung. Ökonomen sagen, dass die allmähliche Verbesserung der Wirtschaftslage in der Stadt im Laufe der Neunzigerjahre diejenigen jungen Leute in Lohn und Brot brachte, die sonst zu Kriminellen geworden wären. Das sind die konventionellen Erklärungen für das Ansteigen und Abflauen sozialer Probleme, aber letztlich sind sie alle ebenso wenig zufriedenstellend wie die Aussage, dass es die jungen Leute im East Village waren, die den beispiellosen Erfolg der Hush Puppies auslösten. Die Veränderungen im Drogenhandel, in der Bevölkerungsstruktur und in der Wirtschaft sind alle langfristige Trends, die im ganzen Land stattfinden. Sie erklären nicht, warum die Verbrechensrate in New York so viel radikaler abgesunken ist als in anderen Städten des Landes, und sie erklären auch nicht, warum dies in so außerordentlich kurzer Zeit geschah. Was die Fortschritte in der Polizeiarbeit angeht, so sind sie sicher wichtig. Aber es gibt eine rätselhafte Lücke zwischen dem Maß der Veränderung in der Polizeistrategie und der Größe der Wirkung auf Orte wie Brownsville und East New York. Schließlich ebbte das Verbrechen in New York nicht langsam ab, als sich die Lebensbedingungen allmählich verbesserten. Seine Quote stürzte ab. Wie kann die Veränderung einer Handvoll von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Indizes innerhalb von fünf Jahren zu einer Verringerung der Mordrate um zwei Drittel führen?

2.

Der Tipping Point ist die Biografie einer Idee, und die Idee ist sehr einfach. Sie besagt, dass man die dramatische Verwandlung von unbekannten Büchern in Bestseller oder den Anstieg des Rauchens unter Jugendlichen oder das Phänomen der Mundpropaganda oder eine ganze Anzahl von anderen geheimnisvollen Veränderungen im Alltagsleben am besten versteht, wenn man sie sich als Epidemien vorstellt. Ideen und Produkte und Botschaften und Verhaltensweisen verbreiten sich genauso wie ein Virus.

Der Aufstieg der Hush Puppies und das dramatische Sinken der Verbrechensrate in New York sind Lehrbuchbeispiele für den Ablauf einer Epidemie. Obwohl sie auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, haben sie eine grundlegende Struktur gemeinsam. Niemand schaltete eine Anzeige und teilte den Leuten mit, dass die traditionellen Hush Puppies »cool« seien und dass man sie tragen sollte. Diese jungen Leute zogen die Schuhe einfach an, wenn sie in Clubs oder Cafés gingen oder in den Straßen von Manhattan herumliefen, und indem sie das taten, setzten sie andere Leute ihrem Sinn für Mode aus. Sie infizierten sie mit dem Hush-Puppies-»Virus«.

Das Sinken der Verbrechensrate in New York verlief mit Sicherheit in genau der gleichen Form. Es war nicht so, dass eine riesige Zahl potenzieller Mörder im Jahr 1993 plötzlich aufschreckte und beschloss, keine Verbrechen mehr zu begehen. Und es war auch nicht so, dass es der Polizei plötzlich auf magische Weise gelang, in vielen Situationen einzugreifen, die ansonsten einen tödlichen Ausgang genommen hätten. Was geschah, ist etwas anderes: Die kleine Anzahl von Menschen in der kleinen Anzahl von Situationen, auf welche die Polizei oder die neuen gesellschaftlichen Kräfte Einfluss nahmen, fingen an, sich anders zu verhalten, und dieses Verhalten sprang irgendwie auf andere potenzielle Kriminelle in ähnlichen Situationen über. Auf irgendeine Weise wurde eine große Anzahl von Menschen in New York innerhalb kurzer Zeit von einem Anti-Verbrechens-Virus »infiziert«.

Und schließlich liefen beide Veränderungen sehr schnell ab. Sie bauten sich nicht langsam und stetig auf. Es ist lehrreich, sich die Kurve der Verbrechensrate in New York von, sagen wir, Mitte der Sechzigerjahre bis Ende der Neunzigerjahre anzuschauen. Die Kurve sieht aus wie ein riesiger Torbogen. 1965 wurden in der Stadt 200000 Gewaltverbrechen begangen, und von diesem Punkt an beginnt diese Zahl steil anzusteigen. Sie verdoppelt sich innerhalb von zwei Jahren und steigt...

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