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Wie uns der Staat mit immer neuen Vorschriften das Denken abgewöhnt - Ein SPIEGEL-Buch

AutorAlexander Neubacher
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641142704
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Der Sieg der Verbote über die Vernunft
Vater Staat ist zur Übermutter geworden; sie schreibt uns vor, was wir essen, wie viel wir trinken, wie wir wohnen und über die Straße gehen. Sinnlose Gesetze und Sicherheitshinweise maßregeln uns im Alltag. Statt selbst für unser Leben verantwortlich zu sein, werden wir wie Kleinkinder behandelt. Der gesunde Menschenverstand bleibt dabei auf der Strecke. So darf es nicht weitergehen, meint Alexander Neubacher, denn hinter dem vermeintlich fürsorgenden Staat steht ein Menschenbild, das uns Sorge bereiten sollte. Anhand skurriler Alltagsgeschichten aus der Nanny-Republik Deutschland zeigt Neubacher gewohnt witzig und scharfsichtig, warum es sich lohnt, wieder mit dem Selberdenken zu beginnen.

Alexander Neubacher, geboren 1968 in Krefeld, hat Volkswirtschaftslehre an der Universität Köln studiert und ist Absolvent der Kölner Journalistenschule. Er war Redakteur bei der 'Wochenpost', bei 'Bizz Capital' und arbeitet seit 1999 als Wirtschaftsredakteur im Hauptstadtbüro des SPIEGEL in Berlin. Für seine Arbeit wurde er u.a. mit dem Helmut-Schmidt-Journalistenpreis und dem Medienpreis der deutschen Kinder- und Jugendärzte ausgezeichnet.

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Leseprobe

Einleitung

Ich bin in den siebziger Jahren aufgewachsen; es war eine wilde, gefährliche Zeit. Wir kletterten auf Bäume, sprangen in Pfützen und tranken Wasser aus Gartenschläuchen. In den Sommerferien fuhren wir mit dem VW-Bus über holprige Straßen nach Italien, zwanzig Stunden in einem Rutsch. Mein Vater saß am Steuer, rauchte filterlose Zigaretten und aß Autofahrerschokolade, um wach zu bleiben. Wir Kinder lagen hinten auf einem Berg aus Strandmatten, Zeltplanen und Wechselwäsche. Natürlich nicht angeschnallt. Es gab ja keine Gurte. Im Nachhinein kommt es mir wie ein Wunder vor, dass wir überlebt haben.

Heute ist meine Welt geordnet. Wir beim SPIEGEL arbeiten in einem modernen Hamburger Bürohaus, in dem nicht geraucht wird. Es ist verboten, seine eigene Schreibtischlampe mitzubringen: Energiesparvorschrift. Private Zimmerpflanzen: auch untersagt.

Vor kurzem bekam ich überraschend Besuch von einer Betriebsärztin und drei Herren, die sich als Kontrolleure aus der Verwaltung vorstellten. Die Ärztin hatte ihre Notfalltasche dabei. Einer der Männer hielt ein Klemmbrett mit einer Checkliste vor der Brust. Es ging um einen blauen Gymnastikball, auf den ich mich während der Arbeit gelegentlich setze in der Hoffnung, ich beugte dadurch Rückenschmerzen vor. Doch meine Besucher klärten mich darüber auf, dass der Sitzball einen Verstoß gegen die Unfallschutzvorschriften im Sinne von Paragraf 4 Arbeitsschutzgesetz darstelle. Es bestehe Roll-, Rutsch-, Kipp- und Sturzgefahr. Der Ball müsse weg. Man meine es nur gut mit mir.

Ich habe bei der zuständigen Berufsgenossenschaft nachgefragt, wie viele Büromenschen im vergangenen Jahr von einem Sitzball gefallen sind und sich dabei verletzt haben. Es dauerte eine Weile, bis jemand zurückrief und mir die Zahl nannte: Null. Im ganzen Jahr hatte sich offenbar nicht ein einziger berichtenswerter Sitzball-Unfall ereignet.

Nun könnte das natürlich daran liegen, dass es in deutschen Büros, mit wenigen SPIEGEL-Ausnahmen, schon lange keine Sitzbälle mehr gibt, von denen jemand hätte herunterfallen können. Doch siehe da: Auch die Statistiken früherer Jahre verzeichnen keine nennenswerten Unfallzahlen. Selbst zu Zeiten, in denen Sitzbälle bei bandscheibengeplagten Menschen groß in Mode kamen, waren Stürze kein großes Problem. Warum also die Aufregung nach Paragraf 4 Arbeitsschutzgesetz? Meint man es wirklich gut mit mir?

Das Sitzballverbot ist mehr als eine Büroposse. Es steht beispielhaft für ein Zeitgeistphänomen, das weit über meinen Arbeitsplatz beim SPIEGEL hinausreicht. Der Staat und seine bürokratischen Helfer glauben zu wissen, was gut für uns ist. Sie sagen uns, was wir essen und trinken sollten, wie wir unsere Arbeit machen, wie wir unseren Feierabend verbringen. Sie leiten uns beim Einkaufen und im Straßenverkehr, zu Hause und in der Freizeit, sie behüten, schubsen, motivieren und moralisieren, sie verwandeln unsere Welt in eine Mischung aus Kindergarten und Pflegeheim. Die Verbote und Vorschriften dringen in jeden Bereich unseres Lebens. Sie kosten uns Zeit, Nerven und Geld und vergällen uns den Alltag. Der Supernannystaat beschränkt die Bürger, der Bundesadler wird zur Glucke: Deutschland, die gemaßregelte Republik.

Im 18. Jahrhundert war es in gebildeten Kreisen üblich, Kindern ein Gängelband anzulegen, eine Mischung aus Zwangsjacke und Pferdegeschirr, um ihnen das Laufen beizubringen. Erst die Aufklärung brachte Pädagogen hervor, die den Eltern erklärten, sie sollten ihre Kinder einfach machen lassen. Der aufrechte Gang komme dann von ganz allein. Im Jahr 1784 forderte der Philosoph Immanuel Kant den Aufbruch des Menschen aus dessen selbstverschuldeter Unmündigkeit. Er schrieb: »Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.«

Heute, 230 Jahre später, schlägt das Pendel zurück. Ausgerechnet die Vertreter jener Generation, die sich in ihrer Jugend mit langen Haaren und bunten Kleidern besonders rebellisch vorkamen, haben sich zu Hausmeistern der korrekten Gesinnung entwickelt. Auf Mut und Verstand, jedenfalls des gemeinen Bürgers, wollen sie sich nicht verlassen. Es herrscht ein anti-aufklärerischer Geist, das Gängelband kommt wieder in Mode. Der Mensch gilt als betreuungsbedürftiges Mängelwesen. An die Stelle von Homo sapiens tritt Homo demenz, der Trottelbürger.

Diese Haltung prägt auch die Politik. »Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen«, verkündete Angela Merkel noch in ihrer ersten Regierungserklärung als Bundeskanzlerin im November 2005. Doch irgendetwas kam immer dazwischen. Seit dieser Legislaturperiode setzt die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD den Bürger gleich von zwei Seiten pädagogisch unter Druck: Moralapostel verbünden sich mit Sozialingenieuren. Die Opposition neigt ebenfalls dazu, den Bürgern Vorschriften für eine korrekte Lebensführung zu machen, insbesondere die Grünen, die Partei der zänkischen Übertugend. Und bevor sich ein FDP-Mitglied auf die Schulter klopft: Ein Liberalismus, der solche Freunde hat wie die FDP-Bundestagsfraktion der vergangenen Legislaturperiode, braucht keine Feinde mehr.

Die Entmündigung kommt nicht über Nacht. Es ist ein schleichender Prozess. Der Staat stiehlt sich mit kleinen, leisen Schritten in unser Leben. Aber wenn wir in alten Fotoalben blättern, fällt uns auf, was wir früher für verrückte Sachen gemacht haben. Wir sehen Menschen, die eine entfernte Ähnlichkeit mit uns haben, aber völlig unvernünftige und mitunter sogar gefährliche Dinge tun. Und dabei scheinen sie auch noch irre viel Spaß zu haben.

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Zeitreisender, den es per Knopfdruck aus dem Mauerfalljahr 1989 in die Jetztzeit katapultiert. Wie würde Ihnen nach einem Zeitsprung von einem Vierteljahrhundert unser heutiger Alltag vorkommen?

Vermutlich wären Sie überrascht zu sehen, dass in der Eckkneipe nebenan nicht mehr geraucht werden darf, weshalb Gäste und Wirt alle halbe Stunde vor die Tür gehen, um sich bei Wind und Regen eine anzustecken. Es käme Ihnen seltsam vor, dass in einigen Mensen und Kantinen donnerstags kein Fleisch mehr serviert wird: Veggieday. Dass an vielen Stränden an der Nord- und Ostseeküste aus Sicherheitsgründen keine Sandburgen mehr gebaut werden dürfen. Dass ein Handwerker, der sich in der U-Bahn auf dem Weg in den Feierabend eine Flasche Bier aufmacht, mit einem Bußgeld bestraft wird. Dass Sie mit Ihrem kaum zehn Jahre alten Auto plötzlich nicht mehr in die Innenstadt fahren können, weil es angeblich zu viel Feinstaub ausstößt. Dass Sie in Ihrer Eigentumswohnung keinen Kamin und keine Gästetoilette mehr einbauen dürfen, weil Luxussanierung gegen den Milieuschutz verstößt. Dass es verboten ist, zum Schulfest Ihres Kindes einen Nudelsalat oder eine Nachspeise mitzubringen: Vergiftungsgefahr. Und dass an jeder Straßenecke eine Kamera hängt, die Ihre Schritte überwacht – ganz zu schweigen von den illegalen, aber von unserer Regierung eher hilflos hingenommenen Spitzeleien via Internet und Mobilfunkortung.

Bestimmt wären Sie auch erstaunt über die Forderung nach einer Helmpflicht und einem weitergehenden Alkoholverbot – für Fahrradfahrer. Über eine staatliche Prämie zur Begrenzung von Überstunden, wie sie Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ins Gespräch gebracht hat. Über Kaffeetafeln ohne Kaffeesahne-Portionsdöschen, wie sie der grünen Spitzenfrau Katrin Göring-Eckardt vorschweben. Und über die vielen anderen Verbote, die Politiker aller Parteien in den letzten Monaten gefordert haben: Nachtangelverbot, Lichtverschmutzungsverbot, Heizpilzverbot, Uferbadeverbot, Rolltreppenverbot für Kinderwagen, Plastiktütenverbot, Ballerspielverbot, Pornografieverbot, Ausgehverbot für Menschen unter 18 Jahren, Prostitutionsverbot für Menschen unter 21 Jahren, Ponyreitverbot, Zigarettenautomatenverbot, Standbytastenverbot. Nicht zu vergessen das Weichmacherverbot für Sexspielzeug, wie es das Umweltbundesamt und die EU-Kommission vorschlagen.

Und was käme Ihnen bei Ihrer Zeitreise ins Jahr 2014 wohl verrückter vor? Die rechtliche Verpflichtung, Ihren Müll auf ein halbes Dutzend verschiedenfarbige Tonnen zu verteilen? Oder der Umstand, dass ein Gutteil des sorgsam getrennten Abfalls hinterher wieder zusammengekippt und verbrannt wird?

Fachleute des Bundesjustizministeriums haben kürzlich einmal nachgezählt: Man kam auf 246944 Bundesvorschriften, die von den Bürgern zu beachten sind. Hinzu kommen mehrere Hunderttausend Vorschriften von Ländern, Kommunen und Körperschaften des öffentlichen Rechts; das Spektrum reicht von den Gebührensatzungen für Kindergärten bis zu den Friedhofsordnungen. Die Frage, wie viel Wasser eine öffentliche Toilette maximal verbrauchen darf, ist hier ebenso geregelt wie das Design von Sonnenschirmen in der Außengastronomie.

Allein unter der vergangenen schwarz-gelben Bundesregierung traten 553 Bundesgesetze mit einigen Tausend Paragrafen in Kraft, mehr als in jeder Legislaturperiode zuvor, »ein zweifelhafter Rekord«, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) einräumte. Wer sich in Deutschland nicht an die vorgeschriebene Farbe von Parkscheiben (blau) hält oder die Verfallsangaben auf dem Erste-Hilfe-Kasten (DIN 13164) missachtet, wird jetzt noch strenger bestraft. Für Fahrradfahren in einer Fußgängerzone sind 15 statt zehn Euro Bußgeld fällig, für »nicht platzsparendes Parken« zehn Euro und für »unnützes Hin- und Herfahren innerhalb geschlossener Ortschaften« 20 Euro. Details stehen im...

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