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Zwischen Tradition und Zeitbezug - Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie

Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie

AutorAnica Petrovic-Wriedt
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl73 Seiten
ISBN9783640603701
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,3, Universität Potsdam (Germanistik), Sprache: Deutsch, Abstract: 1940, circa ein Jahr nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, beginnt Gerhart Hauptmann, angeregt durch ein Exzerpt aus Goethes 'Italienischer Reise', sein umfangreichstes Werk zu einem griechischen Mythos. In vier Einzeldramen ('Iphigenie in Aulis', 'Agamemnons Tod', 'Elektra', 'Iphigenie in Delphi') schildert er die vom Fluch des Verwandtenmordes belastete Familiengeschichte der Atriden in zwei Generationen. Das Gesamtwerk wurde später unter dem Namen Atriden-Tetralogie bekannt. Innerhalb von zwei Monaten beendet Hauptmann im Sommer 1940 das letzte Stück der Tetralogie zuerst. Bereits im September fasst er den Entschluss, die Voraussetzungen für den Opfertod der Titelfigur Iphigenie zu gestalten und schließt die Tetralogie 1944 ab.

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Leseprobe

Der Tragiker und sein Weltbild

 

In diesem Teil der Arbeit wird auf das Weltbild Gerhart Hauptmanns eingegangen. Ziel ist dabei nicht eine abschließende Darstellung, wie es u. a. Guthke[6] versucht, sondern vielmehr sollen diejenigen Facetten des Weltbildes aufgezeigt werden, die für das Verständnis der Atriden-Tetralogie und insbesondere für die Figur Iphigenie bedeutsam sind. Dazu gehört zunächst ein Grundverständnis von Hauptmanns Affinität zu Mythen und seinem Verständnis von Tragödie. Darüber hinaus müssen Hauptmanns Auffassung von Schicksal, Willensfreiheit und menschlicher Existenz im Allgemeinen geklärt werden. Abschließend soll nur angerissen werden, welche zeitgenössischen Ereignisse das Weltbild des alten Dichters prägen, denn eine genauere Auseinandersetzung wird im letzten Teil der Arbeit erfolgen. Diese Prägungen sollen jedoch bereits zu den Vorlagen Hauptmanns in Bezug gesetzt werden.

 

Gerhart Hauptmann (1862-1946) interessiert sich bereits in seiner Jugend für mythologische Stoffe und Themen. Dabei ist dieses Interesse nicht auf seine Schulzeit zurückzuführen und damit auch nicht durch das humanistische Bildungsgut geprägt. Der junge Hauptmann nähert sich der Antike vielmehr durch die bildende Kunst. Darüber hinaus besucht er in der Universität Vorlesungen zur griechischen Antike und beginnt Griechisch zu lernen, was er jedoch bald aufgibt, so dass ihm auch die „Orestie“ des Aischylos und die Iphigenie-Dramen des Euripides nur aus Übersetzungen bekannt sind.

 

Im Anschluss an seine eigentlich als Griechenlandreise konzipierte Italienreise 1883 widmet er sich zunächst anderen Themengebieten. Jedoch entwickelt er bereits zu dieser Zeit seine Auffassung von einem Christentum, das das Leiden in den Vordergrund stellt und das im Widerspruch zur dionysischen Weltanschauung steht.[7]

 

1907 unternimmt Hauptmann seine lang geplante Griechenlandreise. Seine Erfahrungen beschreibt er im „Griechischen Frühling“ (1908). Das Reisetagebuch ist ein erster Anhaltspunkt für seine Griechenlandauffassung: Dort wird deutlich, dass Hauptmann nicht das „apollinische Bild des Klassizismus“ teilt, sondern vielmehr das Dionysische, „die Nachtseite Griechenlands“ betont.[8] Diese Auffassung ist hauptsächlich durch das Erleben der griechischen Atmosphäre geprägt, was ihn auch zu theoretischen Äußerungen über die Tragödie anreizt.[9] In dem Tagebuch schreibt er:

 

Anders als im Theater von Athen, tiefer und grausamer und mit größerer Macht, offenbart sich hier, in der felsichten Pytho, unter der Glut des Tagesgestirns, das Tragische, und zwar als die schaudernde Anerkennung unabirrbarer Blutbeschlüsse der Schicksalsmächte: keine wahre Tragödie ohne den Mord, der zugleich wieder jene Schuld des Lebens ist, ohne die sich das Leben nicht fortsetzt, ja der zugleich immer Schuld und Sühne ist.[10]

 

Im Menschenopfer sieht Hauptmann die „blutige Wurzel der Tragödie“.[11] Dieses kündige sich bereits durch das Bockopfer am Anfang der Tragöde an und ist auch die Voraussetzung dafür ein Werk Tragödie zu nennen.

 

Bei diesem blutigen Schauspiel sind die Götter für Hauptmann „grausame Zuschauer“, die diejenigen Schauspieler bevorzugen, die am meisten „vom Blute trieften“.[12] Er definiert die Tragödie wie folgt:

 

Tragödie heißt: Feindschaft, Verfolgung, Haß und Liebe als Lebenswut! Tragödie heißt: Angst, Not, Gefahr, Pein, Qual, Marter, heißt Tücke, Verbrechen, Niedertracht, heißt Mord, Blutgier, Blutschande, Schlächterei – wobei die Blutschande nur gewaltsam in das Bereich des Grauens gesteigert ist.[13]

 

Schrecken und Angstschreie sieht Hauptmann im Theater als Flucht vor der Spannung, die die Menschen ansonsten in den Wahnsinn treiben würde. Es lässt sich bereits vorwegnehmen, dass die Atriden-Tetralogie seiner Definition der Tragödie durchaus gerecht wird.

 

Hauptmanns Affinität zu den chthonischen Gottheiten Demeter und Dionysos, die in der Betonung der Nachtseite Griechenlands begründet liegt, wird im „Griechischen Frühling“ ebenso wie im „Großen Traum“ sehr deutlich. Auch in anderen Werken bevorzugt er die erdverbundenen Gottheiten vor den olympischen – so auch in der Atridentetralogie.[14] Dabei konstituiert sich die antike Tragödie für ihn vor allem durch den „kultisch-archaischen“ und nicht durch den „aufgeklärten, attischen Geist“.[15] Christus und Dionysos stehen sich bei Hauptmann als Lebensverneinung (Leiden und Todesverherrlichung) und Lebensbejahung (Protest, Vitalität und Schöpferkraft) gegenüber und symbolisieren Hauptmanns Begegnungsweisen mit der Welt, die geprägt sind vom dem Gegensatz zwischen Licht und Finsternis.[16] Dabei geht es zentral um die Frage, ob es eine Verschmelzung der beiden Gottessöhne, also einen relativen Ausgleich zwischen Licht und Finsternis geben kann oder ob der Antagonismus zwischen Gott und Hölle letztlich unüberwindbar ist.[17] Thomas Mann verweist auf Hauptmanns Liebe „zu Griechenland, zu lichter Schönheit“ und bezeichnet diese als „leidenschaftlich“.[18] Insbesondere in der „Winterballade“ spiegele sich in den weiblichen Figuren „die christlich zarten […] Seelenmägdlein“.[19] Dem gegenüber stehe die „göttinnengleich[e]“ Agata des „Ketzers von Soana“.[20] Diese Beispiele fügt Mann zusammen und erklärt, dass „der Gekreuzigte und Dionysos […] in dieser Seele [Hauptmanns] mythisch vereinigt“ waren.[21] Die Gegenüberstellung von Lebensverneinung und -bejahung sieht Guthke bereits in Hauptmanns Familie begründet, wo er den aufgeklärten Vater, der lebensverneinenden Mutter Hauptmanns gegenüberstellt.[22]

 

In der Tetralogie greift Hauptmann den Antagonismus in der Gegenüberstellung von Licht und Finsternis wieder auf. Diese dominieren nicht nur die Atmosphäre, sondern werden auch durch die Geschwistergötter Apoll und Artemis / Hekate, die allerdings nicht auftreten, dargestellt.

 

Die „Spaltung des Seienden in Licht und Finsternis“ ist für Hauptmann letztlich unaufhebbar, ist „gleichbedeutend mit ohnmächtigem Leiden“ und steht damit für den ewigen Kampf der menschlichen Existenz.[23] Dabei ist menschliches Leben einem „jede Willensfreiheit negierenden Schicksal ausgeliefert“[24], dem der Mensch nicht entrinnen kann und dem er nur mit „christlichem Dulden oder prometheischem Trotzen“ entgegentreten kann.[25] Der einzig freie Wille, der dem Individuum in diesem Zusammenhang bleibt, ist daher der „Tod von eigener Hand“.[26]

 

Andererseits ist das menschliche Leiden jedoch nicht tragisch, sondern vielmehr Daseinsbedingung, in der Struktur der „ganzen“ Welt angelegt und bereits im Jenseits verankert.[27] So bedeutet die menschliche Existenz für Hauptmann auch, dass der Mensch gerade durch sein Leid „zur Erfüllung seiner höchsten und eigentlichsten Möglichkeiten [wächst], indem er das Göttliche [oder wie Guthke es nennt: „höhere Wirkliche“] erfährt“.[28] Diese göttliche Erfahrung wird den Menschen insbesondere in Zuständen des Traums, der Vision oder des Wahns zuteil, die bei Hauptmann „welterschließende Kräfte von größter Bedeutung“ sind.[29] Da es sich bei diesen und ähnlichen Entrückungszuständen jedoch um menschliche Extremsituationen handelt, „wird der Gehalt der Erfahrung sofort wieder suspekt“.[30] Dagegen heißt es im „Hirtenlied“: „Entbinden wird nur unsere Phantasie und machen sie zum Erkenntnisorgan: das ist der höchste und letzte Sinn unseres Lebens.“[31] Die Phantasie ist jedoch dort begrenzt, wo der einzig freie Wille der menschlichen Existenz, der Selbstmord, eingreift, denn in der Annahme durch einen selbstgesetzten Tod an der „romantischen Initiation in das Mysterium“ teilzuhaben, liege ein Irrtum.[32] Hauptmann betont, dass die Menschen sich die Welt und den Himmel aus Denkfehlern, aus Imaginationen bauen und sich in diese Welt einspinnen; eine derart geschaffene Welt jedoch die falsche sei.[33]

 

Im Wahn oder durch Phantasie kann dem Menschen also etwas zuteil werden, das ihm hilft, die Welt, sein Leben und das mit seinem Dasein verbundene Leiden zu verstehen. Zugleich können jedoch falsche Schlüsse gezogen werden, so dass der Glaube an eine Erkenntnis auf einem Trugschluss aufgebaut sein kann, der auch im Selbstmord enden kann. Hauptmann ergänzt: „Wahn ist wichtiger für uns Menschen als Wahrheit.“[34] Die Wahrheit zu erkennen hieße nach Hauptmann die Akzeptanz des unabänderlichen Schicksals, das jede Willensfreiheit negiert. Geburt und Tod entziehen sich dem menschlichen Willen und sind zugleich der Rahmen für das „ohnmächtige Leiden“ der menschlichen Existenz. Im leidgeprägten Leben soll der Mensch seine Phantasie zur Erkenntnis nutzen, denn ohne eine Vorstellung, einen...

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