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E-Book

Traumatisierung bei Kindern und Jugendlichen

Psychodynamisch verstehen und behandeln

AutorArne Burchartz
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl189 Seiten
ISBN9783170320390
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Traumas in childhood and adolescence have far-reaching, long-lasting consequences. The psychological impairments are complex, varied and not easily recognizable as effects of trauma. Nevertheless, timely therapeutic intervention provides an opportunity to alleviate or cure psychological disorders, on the one hand, and to strengthen resilience on the other. Psychodynamic psychotherapies play an indispensable part in the range of available approaches to trauma therapy and they draw on a wide range of technical treatment concepts. This volume introduces these therapies and provides insights into psychodynamic clinical practice.

Arne Burchartz, a qualified teacher and theologian, is a paediatric psychotherapist with his own practice and is also a lecturer and supervisor at the Psychoanalytic Institute in Stuttgart and at the Institute for Psychoanalysis, Analytical and Depth Psychology-Based Psychotherapy in Würzburg.

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Leseprobe

2          Das Trauma in der Psychoanalyse


 

2.1       Die Anfänge: Die Verführungstheorie von Sigmund Freud


Die Psychoanalyse begann als Traumatherapie. Für die Entstehung der Hysterie postulierte Sigmund Freud ein reales sexuelles Kindheitstrauma, das verdrängt wurde und als Symptom in kompromisshafter Weise im Jugend- und Erwachsenenalter wieder auftaucht (Freud 1896c). Diese »Verführungstheorie« beschrieb den traumatischen Prozess bereits als sehr komplexes Geschehen: ein Ereignis, das die »Erregungssumme« im Nervensystem steigert, kann nicht oder nicht vollständig motorisch »abreagiert« werden oder durch »kontrastierende Vorstellungen« kompensiert werden, wie es normalerweise geschieht (Freud 1893h, S. 192f). In der Erinnerung bleiben die Affekte, die mit dem Ereignis verbunden waren, von Freud sogenannte »Reminiszenzen« der unvollständigen Erledigung der Traumen1. Allerdings ist es nicht das reale Erlebnis allein, welches die Krankheit verursacht. Aktuelle Erlebnisse rufen unbewusste Erinnerungen an das frühere Geschehen hervor und verknüpfen sich assoziativ mit diesen, jedoch nicht als bewusste Vergegenwärtigung, sondern als Symptom, einer gleichsam symbolischen Erinnerung, welche das traumatische Ereignis wachruft, ohne die Verdrängung aufzuheben.2 Freud nannte diesen Vorgang die »Nachträglichkeit« (Freud 1885/1950a, S. 444ff)

Gemäß der Verführungstheorie ist das Trauma nicht allein ein überwältigendes Ereignis, sondern ein Zusammenwirken von äußeren Einwirkungen, inneren psychodynamischen und affektiven Vorgängen, Phantasietätigkeit und kompromisshafter Verarbeitung im Symptom, das wiederum in Wechselwirkung zur sozialen Umwelt steht. Dieses Zusammenspiel kann man auch in Form einer »Ergänzungsreihe« beschreiben: Die Intensität der Überwältigung, die Möglichkeiten psychischer Verarbeitung und die Beschaffenheit der Beziehungen ergänzen sich gegenseitig und ergeben dem Trauma seinen je individuellen Charakter auf einer Skala von schwerer, anhaltender Belastung bis zu einer vorübergehenden Irritation. Die Psychoanalyse versteht das Trauma also als Prozess.

Viele heute selbstverständliche Erkenntnisse über traumatische Vorgänge und deren Verarbeitung sind in nuce in der Verführungstheorie enthalten (vgl. Hirsch 2011, S. 20). Mit dem Gewicht, das sie auf (rekonstruierte) Traumata in der Kindheit legt, vertrat Freud implizit die Ansicht, dass Kindheitstraumata besonders tiefgreifend und nachhaltig in die Psyche eingreifen und einen entscheidenden pathogenen Faktor für spätere psychische Erkrankungen darstellen. Auch diese Einsicht wird heute in verschiedenen Fachrichtungen eindrücklich bestätigt. (Hüther 2003; Rauchfleisch 2006; 2008, Wöller 2011)

2.2       Die Triebtheorie


Freud gab 1897 die Verführungstheorie zugunsten der Trieb-Konflikt-Theorie auf. Nicht jede neurotische Erkrankung konnte auf ein reales Trauma zurückgeführt werden. Es mussten also intrapsychische Vorgänge sein, »Reizmengen«, die der physio-psychischen Sphäre entstammen und nicht adäquat abgeführt bzw. nicht vollständig verdrängt werden konnten. In einem Brief an den Arzt Wilhelm Fließ, damals freundschaftlicher Vertrauter und Diskussionspartner von Sigmund Freud, (Nr. 139 vom 21. September 1897) relativiert er die Verführungstheorie und stellt fest, »daß man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann« (Freud 1986, S. 284; vgl. Gay 1999, S. 108, 112f). Dies führte zur Ausarbeitung der Triebtheorie mit ihrem zentralen Theorem, dem Ödipuskomplex (vgl. Burchartz, Hopf & Lutz 2016, S. 53ff). Wiewohl Freud die Möglichkeit realer Traumatisierungen in der Kindheit nie bestritt, so stellte diese Wende doch einen entscheidenden Einschnitt in der Psychoanalyse und speziell in deren Traumakonzepten dar. Zum einen führte sie zu heftigen Vorwürfen gegen die Psychoanalyse, sie vernachlässige die Dimension der realen Traumatisierungen in der Kindheit, insbesondere der sexuellen Traumata und verrate so die Patienten, ja traumatisiere sie sekundär, indem sie die so wichtige Arbeit an der Realität des Traumas, die in dissoziativen und introjektiven Prozessen verloren geht ( Kap. 8), vernachlässige. Zum anderen aber bahnt sie die Erkenntnis, dass innere ungelöste konflikthafte Vorgänge traumatischen Charakter haben können. Fortan spielte die Phantasietätigkeit, die Ausformung des Begehrens im ödipalen Konflikt sowie der Hass auf die ödipalen Objekte und die Verdrängung beider Triebregungen eine größere Rolle im Verständnis der Ätiologie der Neurosen. Der Schrecken des traumatischen Ereignisses gewinnt seine traumatische Dimension aus der Vermischung mit verpönten sexuellen und aggressiven Regungen. Diese theoretische Konzeptualisierung lässt sich sehr plastisch am Fallbericht »Dora« (Freud 1905e) nachvollziehen (vgl. Burchartz, Hopf & Lutz 2016, S 22–25). In einer Fußnote zu dieser Fallgeschichte betont Freud, dass er die Verführungstheorie nicht aufgegeben, jedoch ergänzt hat (Freud 1905e, S. 185). Der Vorwurf, der gegen Freud erhoben wird, er nehme reale (äußere) Traumatisierungen insbesondere aus dem Beziehungsbereich durch seine Konzepte infantiler Sexualität nicht ernst, lässt sich nicht halten. Im Gegenteil: erst aus dem Zusammenwirken äußerer und innerer Faktoren lässt sich der traumatische Prozess verstehen.

C.G. Jung nahm an der Entwicklung der Freud’schen Theoriebildung lebhaften Anteil. Die Abwendung von der Verführungstheorie, die Hinwendung zur »Psychogenität« der Neurose brachte ihn dazu, das Trauma selbst für unwichtig zu halten. Den realen Inzest und seine Auswirkungen hat er wenig ernst genommen (Wirtz 1992, S. 43f). Traumata »scheinen bloß wichtig zu sein, indem sie der Anlaß zur Manifestation eines schon längst abnormen Zustandes sind. Der abnorme Zustand ist … ein anachronistisches Weiterbestehen einer infantilen Stufe der Libidoentwicklung.« (Jung 1971/1913, S. 158). Eine gewisse Tragik liegt darin, dass Jung dies anhand eines Falles darstellt, bei dem ein Trigger für die Wiederbelebung eines ursprünglichen Traumas gesorgt hat. Aber die Zeit war noch nicht reif für solche Erkenntnisse.

Später revidierte Jung seine Ansicht unter dem Eindruck, dass »als eine der Folgen des Krieges, eine wahre Flut von traumatisch bedingten Neurosen in Erscheinung trat«. (Jung 1921/1954, S. 138) »Hier ist das Trauma mehr als nur ein auslösendes Moment; es ist die Ursache im Sinne einer causa efficiens, besonders wenn wir die besondere psychische Atmosphäre des Schlachtfeldes als wesentlichen Faktor mitberücksichtigen.« Damit ist zweifellos die Todesangst der Kombattanten gemeint, eine Angst, der den Reizschutz des Ich überrennt (s. u.). Jung ist hier ganz nahe an einer der Grundbedingungen des Traumas – leider hat er den Gedanken nicht weiterverfolgt.

Schließlich finden wir den Gedanken, die Beschäftigung mit dem infantilen Trauma sei ein Ausweichen vor persönlicher Verantwortung.

»Die Erinnerungsbemühungen sehen aus wie angestrengte Tätigkeit und haben überdies den Vorteil, daß sie vom eigentlichen Thema (den aktuellen Gründen der Neurose, A. B.) ablenken. Weshalb es auch unter diesem Gesichtswinkel empfehlenswert erscheinen mag, die Jagd nach einem möglichen Trauma noch lange fortzusetzen.« (Jung 1926/1969, S. 130)

Es ist Jung darin Recht zu geben, dass »die Jagd nach einem möglichen Trauma« in pädagogischen und therapeutischen Zusammenhängen nicht außer Mode gekommen ist und manche Zerstörungen in Beziehungen anrichtet. Allerdings schüttet er das Kind mit dem Bade aus, wenn die Möglichkeit kindlicher Traumatisierungen damit ironisierend beiseitegeschoben wird.

2.3       Der Ich-Psychologische Ansatz


Im Strukturmodell (Freud 1923b) richtete Freud sein Augenmerk auf das Ich, dem als organisierende Instanz die Vermittlung von innerer und äußerer Realität, von Triebansprüchen und sozialem Gefüge gelingen muss. Dem Ich kommt die Funktion eines Reizschutzes durch seine regulierende Abwehrtätigkeit und die Einwirkung auf die Außenwelt zu. Sind die Reizmengen aber zu groß, gelingt der Reizschutz nicht: »Solche Erregungen von außen, die stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen, heißen wir traumatische« (Freud 1920g, S...

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